Sascha Taetz: Richtung Mitternacht. Wahrnehmung und Darstellung Skandinaviens in Reiseberichten städtischer Bürger des 16. und 17. Jahrhunderts (= Kieler Werkstücke. Reihe E: Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; Bd. 3), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 273 S., ISBN 978-3-631-52044-4, EUR 51,50
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Reiseberichte des Mittelalters wie der Frühen Neuzeit werden von der Forschung nunmehr seit Jahrzehnten intensiv genutzt. In ihnen können sowohl vergangene Kulturen als auch der Reisende selbst wahrgenommen werden. Die Vermischung der Wahrnehmungsweisen stellt den Forscher allerdings vor methodische Probleme, denn die direkte Erfahrung vor Ort wird entsprechend den mitgebrachten Bildern und Begrifflichkeiten "verstanden" und eingeordnet.
Im Kontakt mit einer fremden Kultur, deren Sprache der Reisende in aller Regel nicht versteht, nimmt er folglich wahr (und beschreibt), was er durch Lektüre von Reisebeschreibungen und landeskundlichen Werken bereits auf die Reise mitgenommen hat. Die Darstellung abweichender Erfahrungen oder ein durch Erfahrungen geprägtes Urteil sind keineswegs selbstverständlich. Zu stark bleiben die bei Reiseantritt bereits vorhandenen autoritativen Texte und Bilder. Reiseberichte sind daher oft durch zahlreiche Stereotype geprägt. Die Pilgerberichte des Mittelalters bieten hierfür eindrückliche und gut untersuchte Beispiele.
Die Reisen nach Skandinavien sind in der Forschung bisher schon aufgrund ihrer geringen Überlieferung vernachlässigt worden. Die Dissertation von Sascha Taetz behandelt nun 13 edierte Reiseberichte bürgerlicher Skandinavienreisender, die meistenteils vom Ende des 16. und vom Ende des 17. Jahrhunderts stammen. Skandinavien bezeichnet dabei vor allem Schweden mit seiner Hauptstadt Stockholm. Die aufsteigende Großmacht Schweden befand sich insbesondere im 17. Jahrhundert im Mittelpunkt des Interesses. Hinzu kommen Dänemark, die baltischen Provinzen Schwedens, Finnland, Lappland und Norwegen, wobei letztere Gebiete nur in wenigen Ausnahmefällen erwähnt werden.
Der Reiseforscher muss sich laut Taetz darum bemühen, die Vorstellungen und Erfahrungen in ihren Entstehungskontext einzubinden. Dazu gehört die Rekonstruktion der sozialen Herkunft und Bildung des Reisenden, des von der gedruckten Sekundärliteratur geprägten Skandinavienbildes sowie der Versuch, den konkreten Reiseverlauf zu beschreiben. Zuweilen kann nicht einmal eindeutig erkannt werden, ob das beschriebene Land auch tatsächlich bereist worden ist. Da die ausgedehnte Reise ein wichtiges Medium sozialer Mobilität war, gab es durchaus Anlass, den Reisebericht "auszuschmücken", um dem Reisenden solchermaßen ein höheres Prestige zu verschaffen.
Die Untersuchung präsentiert das Material in einer stringenten Ordnung. Auf einen allgemeinen Überblick zur Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte folgt eine vertiefte Einführung in das insgesamt überschaubare Corpus edierter Reiseberichte zu Skandinavien. Taetz ordnet die Reisenden, die allesamt bürgerlichen Oberschichten entstammen, sowie ihre Berichte nach Motiven und literarischen Formen. Ein wichtiges und abschließend kaum zu beantwortendes Problem ist dabei die Abhängigkeit der bürgerlichen Reisetätigkeit und -berichte von der adligen Reise beziehungsweise Peregrinatio. Taetz nimmt zwar an, dass es auch eine bürgerliche Peregrinatio gegeben habe, die aufgrund der anhaltenden Statuskonkurrenz zwischen Adel und Bürgertum ähnliche Funktionen erfüllte. Andererseits waren die Bedingungen bürgerlichen Reisens verschieden, zumal die humanistisch geprägte Bildungsdiskussion eine Reise aus Neugierde (curiositas) nicht länger ausgeschlossen habe.
Die bürgerliche Reise orientierte sich daher zwar deutlich an den adligen Mustern, wies aber gleichwohl große Unterschiede auf, da der adlige Reisende selbstverständlichen Zugang zu adligen Burgen oder gar zum König hatte. Dies war dem bürgerlichen Reisenden nur bei Vorspiegelung adliger Herkunft möglich. Der von Taetz versuchte Nachweis, dass die Reiseberichte durch eine bürgerliche Mentalität gekennzeichnet gewesen seien, fällt dennoch schwer, da beide Gruppen zur Vorbereitung der Reise vermutlich die selben gedruckten Skandinaviendarstellungen gelesen hatten (Albert Krantz, Olaus Magnus, Sebastian Münster und Martin Zeiller). Das größere Interesse der bürgerlichen Reisenden an den Kosten der Reise wie der Lebensmittel sowie ihre stärkere Neigung zum Bierkonsum (anstelle von Wein) sind hingegen keine wirklich überzeugenden Merkmale bürgerlicher Mentalität.
Das Schwergewicht der Untersuchung liegt allerdings auf einer eingehenden und systematischen Präsentation der jeweiligen Skandinavienbilder. Taetz schildert die Reisebedingungen, die Naturerfahrungen, die Einwohner, ihre Sprache und Sitten, die Städte, die bei allen Reisenden das größte Interesse fanden, und wirtschaftliche Themen. Mit diesen Gegenständen arbeiteten die Verfasser im Wesentlichen den Themenkatalog der im Humanismus neu belebten Gattung des Städtelobs ab. Auffallend ist dabei, dass, so Taetz, bürgerliche Reisende insgesamt ein geringes Interesse an Fragen von Handel und bürgerlichen Lebensmöglichkeiten hatten. Sie beschrieben Bauern wie Adel jedenfalls wesentlich ausführlicher. Das mag allerdings auch in der geringen Bedeutung des Bürgertums vor allem in Schweden begründet liegen.
Ein anderer Schwerpunkt der Untersuchung gilt der Frage, ob die Berichte sich im Laufe der mehr als 100 Jahre spürbar veränderten. Taetz stellt hier eine Bewegung zu größerer Genauigkeit beziehungsweise empirischer Detailtreue fest. Der Vergleich fällt angesichts der schmalen Quellenbasis allerdings nicht ganz leicht. Außerdem hatte insbesondere Schweden am Ende des 17. Jahrhunderts nur noch geringe Ähnlichkeit mit der Zeit um 1600. Es hatte an Größe, Aussehen und Bedeutung erheblich gewonnen.
Das Buch bietet insgesamt eine interessante und facettenreiche, gut lesbare Darstellung des Skandinavienbildes im 16. und 17. Jahrhundert. Die bürgerlichen Reiseberichte werden dabei oft noch um Vergleichsbeispiele adliger Reiseberichte ergänzt, sodass sich ein relativ dichtes Bild ergibt, das zudem vor der Folie der erwähnten gedruckten Landeskunden diskutiert wird. Mehr bietet die Studie freilich nicht. Taetz referiert zwar methodische Überlegungen zum Gebrauch und zur Funktion von Stereotypen. Sie prägen die Untersuchung allerdings ebenso wenig wie Fragen zur literarischen Form der Berichte, da diese Diskussionen das Interesse des Autors offenbar nicht fangen können. Dieser konzentriert sich vielmehr ausschließlich auf die deskriptive Seite seiner Berichte. Dadurch bleiben zahlreiche Aspekte seiner Quellen ungenutzt.
Heiko Droste