Gerald Schröder: "Der kluge Blick". Studie zu den kunsttheoretischen Reflexionen Francesco Bocchis (= Studien zur Kunstgeschichte; Bd. 148), Hildesheim: Olms 2003, 430 S., ISBN 978-3-487-11817-8, EUR 58,00
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Gerald Schröder hat mit seiner Bochumer Dissertation "Der kluge Blick" eine Untersuchung vorgelegt, die exemplarisch zeigt, wie ein gelehrter Betrachter im Florenz der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Kunstwerke der Vergangenheit bewertet und dargestellt hat. Im Mittelpunkt der Arbeit steht der Vielschreiber Francesco Bocchi, der seine Sozialisation in der Zeit des florentinischen Frühabsolutismus und der tridentinischen Kirchenerneuerung erfahren hat. Bocchis materielle Existenz war nicht sorgenfrei; zeitlebens musste er sich als freier Rhetor, Schriftsteller und Erzieher durchschlagen. Im Vergleich zur Gesamthöhe des von Bocchi hinterlassenen Textberges bilden seine Äußerungen zur Kunst zwar eine kleine, für die Beschäftigung mit dem Kunsturteil des Cinquecento jedoch sehr wichtige Werkgruppe. Es gab bisher nur etliche verdienstvolle Aufsätze zu Teilaspekten des Themas. Schröder hat den Kunstschriften Bocchis zum ersten Mal eine monografische Arbeit gewidmet.
Schröder hat eine ungewöhnlich detailreiche Studie vorgelegt, die sich die Zeit nimmt, die kunstliterarischen Schriften Francesco Bocchis in ihren einzelnen Gedankenschritten nachzuzeichnen. Die Untersuchung besticht nicht nur durch die sorgfältige Rekapitulation der Quellen, sondern auch durch die heutzutage leider nicht mehr häufig anzutreffende gelungene sprachliche Form. Daher handelt es sich um eine begrüßenswerte Publikation, wenngleich der Argumentationsverlauf durch zahlreiche Redundanzen gekennzeichnet ist.
Vier Schriften stehen im Zentrum der Untersuchung. Drei dieser Texte hat Bocchi selbst veröffentlicht: die berühmte Abhandlung über Donatellos Georgsfigur an Or San Michele (1584), den ebenso prominenten Florenz-Führer (1591) und die weniger bekannte Schrift über das kultisch verehrte Verkündigungsbild in der Servitenkirche SS. Annunziata (1592). Darüber hinaus kommentiert Schröder einen Text zur Malerei Andrea del Sartos, der zu Bocchis Frühschriften gehört (1567), aber erst 1989 von Robert Williams publiziert wurde. Den Kontext der Untersuchung bildet Bocchis Gesamtwerk, das hier erstmals systematisch zum Verständnis seiner Kunstschriften herangezogen wird.
Die Kunstanschauungen Francesco Bocchis bieten die Perspektive eines städtischen Laien, die in ihren konkreten räumlichen und zeitlichen Umständen verhältnismäßig leicht zu situieren ist; aber Bocchis Perspektive ist literarisiert. Deshalb musste Schröder die Notwendigkeit erkennen, die Werke Bocchis in erster Linie als Texte zu analysieren, sie auf regelhafte Gattungsformen, literarische Topoi usw. zu untersuchen - ohne allzu direkt von den Texten auf die erfahrungs- und wahrnehmungsgeschichtliche Wirklichkeit zu schließen. Bocchis persönliche Kunsterfahrungen sind gebrochen durch das Prisma der Wissensformen, der Sprache und der literarischen Gattungen, die ihm die Kultur seiner Zeit zur Verarbeitung des Erlebten zur Verfügung stellte. Trotz dieser Verfremdungseffekte musste die Aufgabe der vorliegenden Studie letztlich darin bestehen, die in Rede stehenden Textzeugnisse als Ausdruck historischer Kunsterfahrungen zu interpretieren.
In einigen Passagen der Arbeit wird allerdings die Absicht greifbar, die von Bocchi bedachten Kunstobjekte selbst hervortreten zu lassen. Wenn Schröder einen Text Bocchis, der ein einzelnes Kunstwerk fokussiert, zu erörtern beginnt, findet sich stets ein Kapitel, das den objektiven Sachverhalt selbst zu Wort bringt (76 - 85, 154 - 162, 257 - 268). Mir ist nicht deutlich geworden, welche Vorteile dieses schnelle Vordringen zur Wirklichkeit der Sache selbst für die Erkenntnisziele einer historisch orientierten Rezeptionsforschung bieten soll. Zumindest liegen die fraglichen Abschnitte außerhalb des Hauptspielfeldes der Untersuchung.
Die Hauptabsicht des Verfassers besteht erklärtermaßen darin, "die kunsttheoretischen Schriften Bocchis in ihrer kategorialen Struktur" zu analysieren (15). Der Versuch, in die Gestalt seines Denkens einzudringen, führt zu der These, dass die untersuchten Schriften ein gemeinsames geistiges Rüstzeug auszeichne. Das einigende Band sei die Kategorie des 'costume' (68), ein ethischer Schlüsselbegriff, der Bocchi insbesondere von Aristoteles her zur Verfügung stand: 'costume' = 'ethos'. Was unter dem aristotelischen 'ethos'-Begriff zu verstehen ist, lässt sich am ehesten mit der modernen Kategorie des Charakters bezeichnen. Schröder umschreibt den Begriffsinhalt knapp und treffend als "Sichtbarkeit der Seele" (333). In dem, was Bocchi 'costume' nennt, kommt die moralische Qualität des Kunstwerkes - beziehungsweise die moralische Qualität des im Kunstwerk dargestellten Menschen - zum Vorschein (162 - 169). Auch dann, wenn Bocchi den Begriff 'costume' nur sporadisch verwendet (wie es in der Schrift "Le Bellezze della Città di Fiorenza" der Fall ist), gelingt es Schröder, die konstitutive Bedeutung der Kategorie 'costume' nachzuweisen (309).
Von hier aus gewinnt Schröders Leitthese ihr Profil: Kunst ist für Bocchi vor allem eine praktische, das Handeln evozierende Äußerungsform. Dem Kunstwerk wird somit eine moralische Wirkpflicht zudiktiert. Es ist daher angemessen, dass sich Schröder seinem Thema auf einem Umweg nähert: Zu Anfang wird der Nachweis geführt, dass Bocchi in seinem Gesamtwerk die unaufhebbare Dualität von aktivem und kontemplativem Leben voraussetzt. Die grundsätzliche Vorrangstellung der aktiven Lebensform steht für Bocchi außer Frage. Schröder wählt Bocchis praktisch orientierte Welthaltung zum Leitfaden der Darstellung und überprüft die systematische Verflechtung der Moralbegriffe mit den ästhetischen Themen und Denkbewegungen seiner Schriften.
Das Gedankengebäude, aus dem Bocchis ästhetische Schriften hervorgegangen sind, ist mit Bausteinen der moralphilosophischen Tradition errichtet. Gleichwohl erschien es Schröder nötig, Bocchis moralische Reflexionen mit großer Ausführlichkeit wiederzugeben. Da die paraphrasierten Inhalte weitgehend topisch sind, ist nicht einzusehen, weshalb der Verfasser sich nicht entschließen konnte, die wesentlichen Punkte konzentriert zusammenzufassen und zu kommentieren. Wenn Schröder in aller Ausführlichkeit referiert, dass Bocchi die Klugheit den übrigen Tugenden voranstellt, dann könnte der Eindruck entstehen, als sei diese Sinn- und Rangfolge etwas Besonderes (20 - 25, 29). Nun ist es aber so, dass der Vorrang der Klugheit vor den übrigen Tugenden eine bare Selbstverständlichkeit ist. In dem jahrhundertelang geläufigen Ordnungsgefüge der 'virtutes cardinales' stellt die 'prudentia' die Leittugend dar, die "Gebärerin" aller moralischen Tugenden: Alle Tugend ist notwendig klug. Auch die Bestimmung der Klugheit als Fähigkeit, das Reden und Handeln den wechselnden Umständen anzupassen, ist so wenig originell, dass ihre ausführliche Paraphrase kaum gerechtfertigt erscheint.
Zu Recht vertritt Schröder die Auffassung, dass Bocchi den Zweck der Künste aufs Engste mit dem Gemeinwohl verknüpft. Gelegentlich überschätzt der Verfasser aber die Reichweite seiner These, wie das folgende Beispiel zeigen kann: Die Vorrangstellung der Malerei Andrea del Sartos gegenüber Michelangelo, Raffael und Tizian gründet nach Bocchis Überzeugung in einer Tonalität, die den gesamten Farbraum des Bildes harmonisch vereinheitlicht. Diese tonale Einheit des Kolorits, die Bocchi konstatiert, könne, so Schröder, "im Kontext der übrigen Schriften auf einer strukturellen Ebene als Äquivalent eines funktionierenden politischen Gemeinwesens interpretiert werden [...], weil sich beide dem harmonischen Ausgleich divergierender Teilbereiche verdanken" (69). Schröder unterstellt also, er mache sich die Sichtweise Bocchis zueigen, wenn er die politische Dimension der Bilder Andrea del Sartos in der Farbwahl entdeckt (140 - 141). Der Gedanke der Vereinheitlichung des Divergenten ist aber zu allgemein, um ein (von Bocchi an keiner Stelle explizit formuliertes) Analogieverhältnis zwischen der Farbordnung im Gemälde und der Konsensbildung im Staatswesen zu begründen.
Obwohl sich der Verfasser stellenweise versteigt, liegt die Stärke des Buches zweifellos in der gelehrten Detailarbeit, die bei der inhaltlichen Auswertung der Quellenschriften geleistet wurde. Der Leser bemerkt bald, dass hier nicht die üblichen Standardzitate kompiliert, sondern Belege aus langjähriger Lektüre verarbeitet worden sind. Schröders Studie entdeckt allerdings keinen neuen und bislang unbekannten Bocchi. Trotz der großen Quellennähe und des beträchtlichen Umfangs liefert der Band noch keine interpretierende Gesamtdarstellung der Probleme, die den untersuchten Schriften inhärent sind, denn Schröder verfährt über weite Strecken paraphrasierend und textimmanent interpretierend, weniger textvergleichend interpretierend, und nur selten interpretiert er Bocchis Schriften als Teil und Funktion einer kommunikativen Situation, die erst noch historisch zu rekonstruieren wäre (Ausnahmen: 229, 253 - 254). Wenn Schröder seinen Blickwinkel erweitert und in vergleichender Textbetrachtung Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Francesco Bocchi und anderen Autoren des 16. Jahrhunderts herausarbeitet, gelingen ihm die besten Passagen (als Beispiele nur: 215 - 219, 354 - 358).
Den zahlreichen Zitaten aus Bocchis Schriften sind durchweg gelungene Übersetzungen beigefügt worden, um Lesern, die der Italienforschung fern stehen, den Inhalt der Texte zugänglich zu machen. Wer an weiterführenden Literaturangaben interessiert ist, wird durch den knappen Fußnotenapparat meist enttäuscht. Zu bemängeln ist vor allem die unzureichende Berücksichtigung der Fachliteratur in italienischer Sprache; auch zu Kunstwerken und Problemen, die in bestimmten Passagen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, enthält die Bibliografie nur wenige, in der Regel ältere Titel in deutscher und englischer Sprache.
Marcus Kiefer