Achim Landwehr (Hg.): Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens (= Documenta Augustana; Bd. 11), Augsburg: Wißner 2002, 390 S., ISBN 978-3-89639-361-6, EUR 20,00
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In diesem Sammelband, der aus dem Augsburger Graduiertenkolleg "Wissensfelder der Neuzeit" und der Augsburger Tagung vom November 2000 hervorgegangen ist, versuchen Vertreter der Geschichtswissenschaft, der Kunstgeschichte, der Volkskunde und der Literaturwissenschaft, eine "Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens" zu skizzieren. Insofern wirft dieses Buch ein Thema auf, das von Seiten der Historiker selten explizit behandelt wurde, obwohl die Historiker sich auf verschiedene Formen des Wissens beziehen und Wissen produzieren sollen: Es ist ein reflexiver Beitrag zu dem "Beruf des Historikers". [1]
In seiner Einleitung und in seinem Beitrag definiert Achim Landwehr die Zielrichtung des Sammelbandes. Indem alle Darstellungen der Realität davon ausgehen, "dass es sich um Geschichten der Wirklichkeit handelt", besteht "die Aufgabe der Wissenschaft, und vor allem der historisch orientierten Wissenschaften" darin, "die Geschichte dieser Geschichten der Wirklichkeit zu schreiben" (13). Damit kann der Historiker analysieren, welchen Darstellungen der Realität es gelang, Zustimmung zu erhalten und akzeptiert zu werden. Statt abstrakter theoretischer Überlegungen schlägt Landwehr ein pragmatisches Verfahren vor. Weil Gesellschaften, wie er sagt, ihre Wirklichkeiten unter dem Schlagwort 'Wissen' thematisieren, setzt sich das Buch das Ziel, die verschiedenen Zusammenhänge von 'Wissen', 'Wirklichkeit' und 'Wahrheit' vor allem im Laufe der Frühen Neuzeit zu analysieren. Obwohl die Wissenssoziologie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann, die Kulturwissenschaft und Foucaults Interpretation der Institutionen und der Macht die bevorzugten Zugänge darstellen, ist also von vornherein der Sinn von 'Wissen' absichtlich weit gefasst, über eine enge wissenschaftliche Bedeutung hinaus. Der Herausgeber ist sich der Gefahr eines weiten Wissensbegriffs bewusst: "Wenn alles Wissen ist, welche heuristische Funktion hat diese Kategorie dann noch?" (67). Hier stellt sich die Frage, ob der Historiker den Zusammenhang zwischen Wissen, Wirklichkeit und Wahrheit als Kategorien untersuchen kann, oder sich, anstelle einer foucaultschen Geschichte der Macht, den Praktiken widmen muss, durch welche einige Kategorien definiert wurden. In der Tat widmen sich die meisten Aufsätze den Bereichen der Wahrnehmung, der 'Repräsentationen', der Bestimmung von Kategorien und deren Umstellungen sowie der Klassifizierung, das heißt eher einer historischen Anthropologie und einer kulturellen Wissenschaftsgeschichte als einer foucaultschen Geschichte der Interpretation.
Die Gliederung des Buches ist thematisch geordnet, das heißt eher nach den 'Inhalten' des Wissens als seiner historischen Produktion. Nach einem reflexiven Teil kommen Aufsätze zu "Raum und Mensch", "Statistisches und registrierendes Wissen", "Bilder, Denkmäler, Sammlungen", "Das Wissen von der Vergangenheit" und "Himmel und Hölle".
Otto Gerhard Oexle behandelt zwei Fragen, nämlich das Wissen in Gesellschaften der Vergangenheit und die Bedingungen des Wissens des Historikers. Wie Landwehr bestimmt er nach Berger und Luckmann das Wissen als "die Gewissheit, dass Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben" (31). Gegen Rankes Postulat einer Fakten-Erkenntnis sowie gegen die gegensätzliche Behauptung, dass die Facta des Historikers nichts seien als eine Fiktion, habe sich eine historische Kulturwissenschaft entwickelt, die sich nicht als Abbildung einer äußeren 'Wirklichkeit', sondern als Hypothese und Konstruktion definiere. Oexle widerlegt den Streit über Fakten und Fiktionen und schreibt ein Plädoyer zu Gunsten einer Annäherung zwischen Historikern und Naturwissenschaftlern.
Ralf-Peter Fuchs untersucht die Zuordnung von Herrschaftsräumen durch frühneuzeitliche Untertanen anhand von Protokollen kommissarischer Verhöre. Ausgehend von der wiederum auf Luckmann zurückgehenden Definition eines 'Alltagswissens' beziehungsweise 'sozialen Wissens' zeigt Fuchs die Komplexität der Ausbildung territorialer Raum-Identität: Der Prozess der Territorialisierung war Ausdruck eines konkurrierenden Verhältnisses unterschiedlicher Herrschaftsrechte, weshalb sich die angerufenen Zeugen kein Bild der Gesamtheit ihres Territoriums vorstellten.
In ihrer Untersuchung der "Wahrnehmung der Franzosenkrankheit im 16. Jahrhundert" verlässt Claudia Stein die Wissenssoziologie zu Gunsten einer anthropologischen Betrachtung des "frühneuzeitlichen Verständnisses körperlichen Leidens und seiner Wahrnehmung" (119). Der 'Verweischarakter' körperlicher Zeichen ergibt sich nach Stein aus der Wahrnehmung einer Dichotomie des Körpers in einen inneren und unsichtbaren und einen äußeren Bereich, eine Trennung, die allerdings durch verschiedene Elemente wie die Poren in der Haut abgeschwächt wird. Stein erklärt nach den damaligen medizinischen Auffassungen die 'Heimatlosigkeit' der 'Franzosenkrankheit', die von einem betroffenen Körperteil in einen anderen wandern konnte, sowie deren Rhythmus.
Anton Tantner stellt in seinem Beitrag die Prinzipien der ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in den böhmischen und österreichischen Erbländern der Habsburgermonarchie einsetzenden 'Seelenbeschreibungen' beziehungsweise 'Seelenkonskriptionen' dar. Er stellt den Begriff der Vermischung in den Vordergrund, wenn die Kategorien (Religion, Alter, Familienzustand und Geschlecht) oder Verrichtungen (Pfarrer, grundherrschaftliche Beamte) zu bestehenden Ordnungselementen in Konkurrenz traten.
Valentin Groebner untersucht die Entwicklung der Kategorie 'complexio' von einem physiologischen Mischungsverhältnis unsichtbarer innerer Säfte zu einem festen Bündel 'charakteristischer' sichtbarer Kennzeichen auf der Haut. Parallel zu diesem Wechsel, der mit einem neuen Interesse für das Visuelle und Individuelle zusammenhing, verhärtete sich der Rassenbegriff, als die Hautfarbe und Pigmentierung medizinisch interpretiert und zur Klassifizierung verwendet wurden.
Die drei nächsten Aufsätze behandeln die Thematik der Visualisierung. Michaela Völkel befasst sich mit den "Funktionen der Druckgraphik an deutschen Höfen der frühen Neuzeit". Sie betont die memorialen, kommunikativen und repräsentativen Aufgaben der Druckgrafik sowie ihre "unkontrollierbare Dekontextualisierung und Weiterverwertung durch die Zeitgenossen" (191). In seinem Beitrag "zur Typologie des Ereignisdenkmals" unterstreicht Dietrich Erben den Zusammenhang zwischen Ereignis und Staatsgewalt, die Rolle der Geschichtsüberlieferung durch Augenschein, die Antikenrezeption und die typologische Kontinuität der Ereignisdenkmäler. Brigitte Sölch beschäftigt sich am Beispiel römischer Sammlungen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der "Visualisierung historischen Wissens und (Re-)Konstruktion von Geschichte". Sie hebt den Wandel des Charakters von Zeugnissen bei Francesco Bianchini hervor: Im Gegensatz zu Schriftquellen, die stets verfälscht werden konnten, bargen die materiellen Zeugnisse (zumindest die Originale im Unterschied zu den Kopien) die Wahrheit; deswegen begründete er zusammen mit Scipio Maffei eine der ersten spezialisierten Studiensammlungen, die nicht nach Paris übermittelt werden konnte.
Die zwei folgenden Beiträge beschäftigen sich mit dem Wissen von der Vergangenheit. Gegenstand von Gabriele Bickendorfs Aufsatz ist das neue Verhältnis zum Bild, das im Rahmen der "großen wissenschaftlichen Revolution" (277) mit der Betrachtung der Kunstwerke als nonverbaler Quellen begann, "das in der allgemeinen Visualisierung des Wissens kulminierte" (279) und das zu der Aussonderung der Kunstgeschichte als 'Specialgeschichte' führte. In ihrem Beitrag zu "Friedrich Schillers 'Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs'" relativiert Silvia Serena Tschopp den von Oexle betonten Kontrast zwischen Rankes Auffassung der Fakten-Erkenntnis und der Kulturwissenschaft, indem sie Rankes Definition der Historie als zugleich Wissenschaft und Kunst betont. Friedrich Schillers poetische Vorstellung der historischen Narration ist deshalb kein Sonderfall. Tschopp untersucht anschließend die Quellen und die Rezeption eines Elements von Schillers "Geschichte des Dreißigjährigen Krieges", nämlich des Gebets, das der schwedische König Gustav Adolf unmittelbar nach seiner Landung auf deutschem Boden gesprochen haben soll.
Die drei abschließenden Aufsätze handeln von dem "Wissen von der anderen Welt". Dabei stehen in dem Beitrag von Rebekka von Mallinckrodt die "Dilemmata der katholischen Konfessionalisierung" im Vordergrund: Die symbolische Verdichtung der lutherischen Konfession um das Buch und die der katholischen Konfession um das Bild wird durch die konfessionsübergreifende Vermittlungsform der Katechismen nuanciert. Diethard Sawicki bezieht sich auf Foucault, um den Diskurs über den "Geisterglauben im Europa der Neuzeit" zu untersuchen. Er zeigt, dass Christian Thomasius' Kritik sich "nur gegen eine bestimmte Definition von Hexerei und die in den Hexenprozessen immer wieder reproduzierten Bilder davon wendet" (355), vergleicht die Wahrheit mit einer vielschichtigen Zwiebel und unterscheidet abschließend die "realgeschichtlichen Umstände", die "medienspezifischen Rückkopplungen" und die "rezeptionsgeschichtlichen Verzerrungen". Stephan Bachter stützt sich auf die Volkskunde, um die ökonomische Dimension des Umgangs mit den Zauberbüchern zu evozieren.
Das Verdienst des Sammelbands liegt in der interdisziplinären Auseinandersetzung mit dem Wissensbegriff. Einige Elemente schwächen allerdings den allgemeinen positiven Eindruck des Lesers. Ein Schlusswort und ein Register hätten das Buch bereichert. An einigen Stellen, besonders in den französischen Zitaten (193, 208, 279, 280, 282, 284) sowie in den Bezugnahmen auf Reinhard (sic!) Koselleck (dreimal auf Seite 230) tauchen mehrere Tippfehler auf. "Fraglos verdankt eine allgemeine Geschichte des Wissens der (spezielleren) Wissenschaftsgeschichte wichtige, um nicht zu sagen entscheidende Anstöße. Jedoch hat die Konjunktur der historischen Erforschung der Wissenschaften den unangenehmen und sicherlich unbeabsichtigten Nebeneffekt, dass demgegenüber die Wissensproduktion in anderen Feldern des sozialen Lebens vergangener Gesellschaften deutlich ins Hintertreffen gerät" (17): Diese Äußerung Landwehrs könnte auch sehr wohl hinterfragt werden. Wenn das 'Wissen' als eine 'Gewissheit' definiert wird, sollte man dann nicht auch die Praktiken untersuchen, durch welche Zustimmung, Glauben oder Skepsis beziehungsweise Ablehnung entstanden? Ein epistemologischer Ansatz hätte sicher dem Buch gedient. Wenn der Historiker an das Wissen als separate Kategorie herangeht, dann läuft er nicht die folgende Gefahr: "Die vorangegangenen Seiten zum Geisterglauben dürften ihn [den Leser] enttäuscht haben: Keine saubere Kartierung dieses Wissensfeldes hat er vorgefunden, sondern einen Text, der eigentümlich durch die Frühe Neuzeit, vor allem das 18. Jahrhundert, mäanderte und den angekündigten Gegenstand nur umspielte. Dies aber war Absicht, denn Wissen existiert nicht als Stoff im Reich der Ideen, um dann organisiert, geordnet, akkumuliert zu werden. Es ist vielmehr etwas Hybrides, das erst aus Diskursen, Praktiken und den Dispositionen dessen, der er beschreiben will, entsteht" (370). Die historische Erforschung des Gegeneinanders mehrerer epistemologischer Haltungen wie Wissen versus Ignoranz, Glaubwürdigkeit und Aberglaube, Wirklichkeit versus Fiktion, außernatürlich und übernatürlich, Wahrheit versus Falschheit, Lügen, oder Wahrscheinlichkeit und Gewissheit sowie eine genauere Untersuchung des Beweisbegriffes [2] hätten sicher diese Gefahr vermieden.
Anmerkungen:
[1] Nach Marc Bloch: Apologie pour l'histoire ou le métier d'historien, édition annotée par Étienne Bloch, Paris 1998.
[2] Dazu siehe zum Beispiel Steven Shapin: A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago 1994; Peter Dear: Miracles, Experiments, and the Ordinary Course of Nature, in: Isis 81 (1990), 663-683; Lorraine Daston / Katharine Park: Wonders and the Order of Nature 1150-1750, New York 1998; Lorraine Daston: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt am Main 2001.
Claire Gantet