Rezension über:

Christian Rödel: Krieger, Denker, Amateure. Alfred von Tirpitz und das Seekriegsbild vor dem Ersten Weltkrieg (= Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte; Bd. 88), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003, XI + 234 S., ISBN 978-3-515-08360-7, EUR 48,00
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Rezension von:
Sönke Neitzel
Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Sönke Neitzel: Rezension von: Christian Rödel: Krieger, Denker, Amateure. Alfred von Tirpitz und das Seekriegsbild vor dem Ersten Weltkrieg, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/07/5739.html


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Christian Rödel: Krieger, Denker, Amateure

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Der Verfasser möchte in seiner 2002 an der Universität Bamberg entstandenen Magisterarbeit die Tirpitz'schen Flottengedanken in die seekriegstheoretische Debatte der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg einordnen, um so die Ziele der deutschen Seerüstung schärfer fassen zu können, als dies bisher von der Forschung geleistet worden ist.

Bei der Beschäftigung mit der deutschen Marine fällt sofort ein Umstand ins Auge, den Rödel einleitend prägnant auf den Punkt bringt: Ihre Planungen zeichneten sich "immer auch durch die Tatsache aus, daß sie im Grunde für Flotten vorgenommen wurden, die weder vorhanden noch in absehbarer Zeit zu beschaffen waren" (1). Deutschland war gerade im Bereich seiner maritimen Machtstellung eine zu spät gekommene Nation, deren vorrangiges Ziel der Aufbau einer Ehrfurcht gebietenden Marine war. Die ehrgeizigen Pläne der Admiräle werden angesichts ihres grandiosen Scheiterns vor allem in den beiden Weltkriegen von der Forschung allzu schnell als dilettantisch abgetan. Welche Nation beschränkte sich im Zeitalter nationalstaatlicher Rivalitäten schon freiwillig auf ihren Status? Weder Napoleon I. hat dies nach der Niederlage von Trafalgar getan, noch Napoleon III., der zeitweise eine Flottenrüstung gegen Großbritannien betreiben ließ. Und übrigens auch nicht Russland, das unter Stalin gewaltige Flottenpläne entwickelte und sich nach dessen Tod zu einer Seemacht erster Ordnung emporschwang - freilich ohne jemals die Seeherrschaft des Erzrivalen USA gefährden zu können.

Nach einer ausführlichen Einleitung, die Rödel als Kenner der umfangreichen Marine- und Imperialismusliteratur ausweist, behandelt er in zwei Abschnitten die Seestrategie von Admiral Alfred von Tirpitz, von 1897 bis 1916 Staatssekretär im Reichsmarineamt und in dieser Eigenschaft Vordenker und Motor der deutschen Seerüstung vor dem Ersten Weltkrieg. Ausgehend von der so genannten Weltreichslehre, wonach das kommende 20. Jahrhundert nicht mehr von der Pentarchie der auf Europa konzentrierten Großmächte, sondern einer Triade von gewaltigen Weltreichen, bestimmt werde, war Tirpitz der Ansicht, dass Deutschland unbedingt einer schlagkräftigen Seemacht bedürfe, wolle es nicht "in der Konkurrenz der Weltmächte verkümmern" (30).

Wohl bekannt ist die Tatsache, dass Tirpitz nicht den Aufbau einer reinen Küstenverteidigung oder einer auf den Ozeanen operierenden Kreuzerflotte favorisierte. Letztere hätte er zwar begrüßt, die nicht vorhandenen überseeischen Stützpunkte hätten diese jedoch in eine inakzeptable Abhängigkeit von britischen Docks und Kohlestationen gebracht. Obgleich der von Tirpitz betriebene Aufbau einer Schlachtflotte, die zwischen Helgoland und Themse ihre größte Schlagkraft entfalten sollte, weithin bekannt ist, wird über die Zielsetzung dieser Flottenrüstung noch immer gestritten. Was wollte Tirpitz mit einer Streitmacht, die außerhalb der Nordsee gar nicht eingesetzt werden konnte? Handelte es sich lediglich um ein politisches Druckmittel, um Großbritannien "zum Kommen" zu veranlassen, also Londons Wohlverhalten gegenüber der deutschen Weltpolitik zu erzwingen? Oder war sie ein Instrument der militärischen Offensive? War sie also primär gebaut, um zu kämpfen und Großbritanniens Hegemonie zur See zu brechen?

Zur Beantwortung dieser Frage ordnet Rödel den Tirpitz-Plan in den Kontext anderer prominenter Seekriegstheoretiker der Zeit ein. In vier Kapiteln über den Briten Julian Stafford Corbett (1854-1922), den Amerikaner Alfred Thayer Mahan (1840-1914) sowie die Deutschen Alfred Stenzel (1832-1906) und Curt Freiherr von Maltzahn (1849-1930) wird deutlich, dass es in Einzelpunkten durchaus Widerspruch zu den Vorstellungen Tirpitz' gab, er sich mit seinen Gedanken einer Entscheidungsschlacht in der Nordsee aber durchaus im Rahmen der damaligen Seekriegstheorie bewegte.

Man kann der Analyse des Verfassers folgen, dass Tirpitz seine Schlachtflotte keinesfalls nur als politisches Druckmittel aufgefasst hat, sondern auch als ein militärisches Instrument, mit dem er die britische Seemacht zu schlagen gedachte. Rödel hat eine gedankenreiche Studie verfasst, die die weitgefächerte Forschung zum Thema kenntnisreich zusammenfasst und etliche interessante Gedanken bietet. Für eine Magisterarbeit ist hier zweifellos eine beachtliche Leistung vorgelegt worden. Zu einer durchgreifenden Aufhellung der Endziele des deutschen Flottenbaus gelangt freilich auch Rödel nicht, denn noch ist nicht bekannt, welches politische Endziel Tirpitz konkret vorschwebte und wie stark bei ihm der Wille zum Einsatz der Flotte wirklich war. Dass sie nach der geltenden Seekriegslehre auf den Einsatz ausgerichtet war, kann letztlich nicht überraschen. Eine Drohung kann schließlich nur funktionieren, wenn sie auch glaubhaft ist. Durch Tirpitz' Verhalten im Vorfeld des Ersten Weltkrieges drängt sich indes die Vermutung auf, dass er nur bei besonders günstigen politischen und militärischen Rahmenbedingungen zum Einsatz bereit war. Denn anders als Moltke oder Conrad von Hötzendorf drängte er die Reichsleitung nicht ständig, den "Sprung ins Dunkle" anzutreten - man denke hier nur an den "Kriegsrat" vom Dezember 1912. Möglicherweise wird die in Arbeit befindliche Tirpitz-Biographie aus der Feder von Michael Epkenhans hier mit neuen Quellen eine abschließende Antwort geben können.

Sönke Neitzel