Helmut Zedelmaier: Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert; Bd. 27), Hamburg: Felix Meiner Verlag 2003, 330 S., ISBN 978-3-7873-1659-5, EUR 78,00
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Die schönste Pointe seines Buchs hat der Verfasser an den Schluss gestellt. Es ist die Phantasie eines kleinen deutschen Privatgelehrten in napoleonischer Zeit. Ermüdet von der Suche nach den Fakten einer mythischen Vorwelt, die sich nicht finden lassen, und bereits vom bloßen Gedanken an eine Zukunft erschöpft, die immer neue 'Facta' immer neu wird erzählen müssen, dringt dieser Träumer auf ein radikales 'Ende der Geschichte': Verzicht auf jede imaginierte Vorzeit, Reduktion aller Ereignisse auf das schriftlich Bezeugte, Festlegung allen historischen Wissens auf das gesellschaftlich 'Notwendige', Vernichtung aller Quellen schließlich, um das lästige Um- und Fortschreiben jeder Geschichte künftig zu verhindern. Dieses Buch der Geschichte werde als eine 'zweite Bibel' imstande sein, die erste Bibel in ihrer Aufgabe als Fundament allen historischen Wissens endgültig zu ersetzen.
Die Habilitationsschrift von Helmut Zedelmaier berichtet, wie es zu diesem Wunschtraum kam und die Bibel ihre Stellung als privilegierte Anfangserzählung verlor. Parallel dazu zeichnet sie nach, wie sich im historischen Bewusstsein der deutschen Aufklärung des 18. Jahrhunderts die Vorstellung vom vollkommenen Anfangszustand (status integritatis) der Menschheit auflöste. Ein Paradigmenwechsel wird angezeigt: Der "christliche Zivilisationsprozeß" definiert sich als Restitution in Analogie zum Vorgang der Wiedereinsetzung in verlorene Unschuld; der aufgeklärte als Prozess realen Wachstums aus schlechten Anfängen, jedoch unter Verlust der Vorurteile einer durch Religion vorweggenommenen Vollkommenheit.
Als Kontext seiner Studie wählt der Verfasser die zur Zeit lebhaft geführte Debatte um die kulturelle Funktion der Bibel, speziell in ihrer historisches Bewusstsein begründenden Fassung (historia sacra). Seine Analysen folgen weiterhin dem Säkularisierungstheorem in der Fassung von Arno Seifert als permanente Wirksamkeit der Bibel im Prozess der Frühen Neuzeit. Außerdem stellen sie die Frage nach der Entstehungsgeschichte gegenwärtiger Sparten der Geistesgeschichte. Dementsprechend lässt sich die Gliederung des "Anfangs der Geschichte" auch als Abfolge von Fragen nach den Startpunkten heutiger Positionen der Philosophie-, Universal-, Kulturgeschichte sowie der Geschichtsphilosophie lesen.
Zedelmaier beginnt mit einem Aufriss der Naturzustandsdebatte um 1700. Schon hier gerät der biblische Anfangsbericht zu einer Vorschaltung des für pragmatische Deutung angelegten Naturzustandes. Ihn verbindet bald keine Zusatzüberlieferung mehr schlüssig mit dem faktischen Zivilisationsprozess. Diese Aussageebene wird schlicht 'fabelhaft'. Der zweite Teil wirft das "Anfangsproblem in der Philosophiegeschichte" auf. Aus der vollkommenen Weisheit der Hebräer wird ein 'local event' eines unbedeutenden Hirtenvolkes. Den Ursprung gegenwärtigen Philosophierens muss man dagegen in der 'Freiheit der Griechen' suchen. Teil drei findet das Anfangsproblem auch in der Universalgeschichte. Zedelmaier gräbt hier unter den Fundamenten zweier Geschichtsenzyklopädien, der "Universal History" (1730-1765) und ihrer populären Fortsetzung, der "General History" (1764 ff.). Beide Unternehmungen pluralisieren die Quellen zur Urgeschichte. Der deutsche Bearbeiter Johann Salomo Semler entwirft eine kontextabhängige Chronologie Ägyptens, welche die alte Universalchronologie zerstört.
Das Terrain zur Suche nach dem Anfang der Kulturgeschichte verlegt Zedelmaier nach Frankreich. Bei dem Jesuiten Joseph-Francois Lafiteau (1681-1746) stößt er auf den ersten Grundsatz der Missionstheologie: Die natürliche Religion der Wilden sei der biblischen durchaus vergleichbar. Amerika führt den Nachweis für autonome Anfänge von Kultur und zugleich für die Überwindung der anfänglichen anthropologischen Mangelsituation. Hier findet auch Nicolas Antoine Boulanger (1723-1759) Platz. Seine funktionalistische Deutung der Sintflut als Ur-Angst-Erlebnis erhebt die Religion zum Gestalter der Zivilisationsgeschichte und erniedrigt sie anschließend zum abschaffungswürdigen Vorurteil.
Der Schlussabschnitt wendet sich den Problemen der Geschichtsphilosophie zu. Rousseau hatte den Anfangszustand erneut positiv aufgeladen und seine Gegner dazu herausgefordert, ihn unverzüglich wieder abzuwerten: als Voraussetzung des Fortschritts. Wieland rehabilitierte einerseits die von Rousseau geschmähte Soziabilität und reduzierte andererseits seinen idealen Anfangsmenschen, den Orang-Utan, auf eine schlechte Hypothese. Nun wurde der Weg frei für Kants antagonistische Interpretation von Geschichte, die sie mit der Natur versöhnt und die biblischen Nachrichten souverän als Anfangspunkt vernünftiger Hypothesen nutzt.
Ein Kurzreferat kann nur einen kleinen Ausschnitt der vielen Thesenbildungen und Varianten des Anfangsproblems bieten, die Zedelmaier in seiner Studie vorstellt. Er geht dabei weniger systematisch denn als Leser vor, eine Methode, die er in einer beachtlichen Anzahl von Studien zur frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit mit großem Erfolg angewendet hat. Ihr Vorteil liegt darin, dass sie die assoziative Drift der Ideen, Hypothesen, sogar einzelner Fakten im Entstehungskontext fast naturgetreu abbilden kann. Auf diese Weise gelingt es ihm, den üblichen 'Höhenkammweg' der Intellectual history zu verlassen und Hauptstichwortgeber wie Spinoza und Rousseau gleichsam im Flüsterkasten einer großen Panoramabühne zu verstecken.
Freilich ist die Methode der bewussten Vielstimmigkeit und Nichthierarchisierung des Diskurses auch mit Erschwernissen verbunden. Der unwissende Leser, der etwa Anfangsinformationen zum Anfangsproblem sucht, wird nicht viel finden. Ebenso wird der unerfahrene Leser, der sich den Basso continuo von Leitideen zu den vielen ungewohnten Nebenstimmen nicht selbst vorspielen kann, sich leicht in dem Buch verirren. Zedelmaiers Destillate aus den gelehrten Erörterungen des 18. Jahrhunderts erscheinen notgedrungen in einer einheitlich verallgemeinerten Gestalt, wobei ihre Funktion in der Darstellung beständig zwischen Voraussetzung, Ergebnis oder Überleitung wechselt. Zusätzlich projiziert der Verfasser das Raster der gegenwärtigen Interpretation unablässig auf das Gleiten der älteren Positionen. "Anfangsqualitäten", das heißt ursprüngliche Prägnanz oder intuitive Frische, fehlen dieser Darstellung somit notgedrungen. Das ist nicht Zedelmaiers Schuld, denn die Diskussion des Anfanges, die sein Thema ist, ist in dem von ihm gewählten Zeitraum bereits eine sehr alte Diskussion.
"Der Anfang der Geschichte" ist somit ein Werk für Kenner und Spezialisten. Sie werden die klare Ausdrucksweise und die zurückhaltende, aber nachdrückliche Argumentation zu schätzen wissen. Es handelt sich nämlich um das faszinierende Abschlussstadium eines langwierigen Prozesses, das Zedelmaier für sie entwirft: Die Überzeugungskraft der biblischen Anfangserzählung, dieses Zentralstückes der 'historia sacra', beruhte nämlich auf der unterstützenden Wirkung vieler anderer Erzählungen beziehungsweise ihrer komplementären Interpretation. Ohne zunächst den Offenbarungscharakter und später den historischen Status der Anfangserzählung irgendwie anzutasten, isolierten die Aufklärer den Text von allen Kraftzuflüssen der Tradition, bis er als besonderer Text eines besonderen Volkes in einem individuellen Kontext endete. Zedelmaier zeigt aber auch, dass die biblische Erzählung in diesem veränderten Zustand anfangssetzende Kraft bewahrte: als Ansatz zur philosophischen Hypothese und den 'Mythen' der Moderne. Folglich sind dieser gelungenen Darstellung viele Leser zu wünschen, die die Mühen des Anfanges nicht scheuen. Sie werden mit einer bedeutenden Erweiterung ihres Wissens vom 18. Jahrhundert und der historischen Präsenz der Bibel belohnt.
Markus Völkel