Wiebke Fastenrath Vinattieri / Martina Ingendaay Rodio (a cura di): Robert Davidsohn (1853-1937). Uno spirito libero tra cronaca e storia. I. Atti della giornata di studio, II. Gli scritti inediti, III. Catalogo della biblioteca (= Biblioteca dell' "Archivum Romanicum". Serie I; Bd. 309), Florenz: Leo S. Olschki 2003, 810 S., ISBN 978-88-222-5219-7, EUR 82,00
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Robert Davidsohn (1853-1937), der Geschichtsschreiber des mittelalterlichen Florenz, blickt janusköpfig zu beiden Seiten der Alpen. Er gehört zu den Mittlern zwischen Deutschland und Italien und hat seinen Platz in der Riege der deutschen Historiker, die die Errungenschaften des deutschen Geschichtspositivismus und der Quellenkritik Ranke'scher Schule mit monumentalen Werken in die Erforschung der italienischen Geschichte getragen haben - wie Ferdinand Gregorovius (1821-1891; Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, 1859-1872) vor ihm und der österreichische Archivar Heinrich Kretschmayr (1870-1939; Geschichte von Venedig, 1905-1934). Die Persönlichkeit und den Nachlass Davidsohns will nun die hier anzuzeigende Publikation ins Licht rücken.
Davidsohn ist jedoch über seine Mittlerleistung hinaus als Persönlichkeit bemerkenswert. Nicht nur, dass er deutsche Geschichtswissenschaft mit italienischer Lebensform verbunden hat, wie sein Mentor Gregorovius, er hat sich vielmehr die neue Lebensaufgabe und den Gegenstand seiner Forschung zielstrebig nach dem Ort ausgesucht, der ihm offenbar am meisten behagte, und anders als Gregorovius, hatte er die finanzielle Unabhängigkeit dazu. Nach seinem ersten Besuch in Florenz beschloss der 31-jährige Journalist und Inhaber des renommierten Berliner Börsencourier für sich einen Ortswechsel, hängte den lohnenden Journalismus an den Nagel und nahm das Studium der Geschichte auf, entsprechend Gregorovius' Rat in Heidelberg, nicht in Berlin. Über die Gründe für die Wahl des Studienortes lassen sich nur Vermutungen anstellen - sei es, dass nach dem Gründerkrach die antisemitischen Strömungen auch an der Berliner Universität deutlicher wurden, sei es, dass die ungünstige Aufnahme von Gregorovius' "Geschichte Roms" durch die Berliner Historiker, besonders Ranke und Mommsen, das Interesse an diesen Leuten vergällt hatte - Davidsohn hob die kritische Haltung der Berliner in seinem Lebensabriss über Gregorovius hervor. Davidsohns Wahl eines neuen Lebensumfelds mag jedoch überhaupt mit dem sich verschärfenden antisemitischen Klima in Berlin zusammenhängen: im Jahre 1880 traf sich der Journalist mit dem Wortführer des Antisemitismus Hofprediger Adolf Stoecker wegen einer Beleidigungsklage vor Gericht, weitere Skandalereignisse drei Jahre darauf brachten ihm ein Duell und eine Ohrfeige in der Öffentlichkeit ein, Anlass zu scharf antisemitischen Kommentaren.
Nach zweijährigem Studium und einer 1888 abgeschlossenen Dissertation, ließ sich Davidsohn 1889 zusammen mit seiner Frau, der Sängerin Philippine Colet, in Florenz nieder. Dort war das Ehepaar Davidsohn in den Zirkeln der Deutsch-Florentiner eingebunden. Zu den engsten Freunden gehörte die im gleichen Jahr wie Davidsohn geborene Isolde Kurz (1853-1944), Verbindung bestand ebenfalls zu Aby Warburg, der von 1893 bis 1899 in Florenz lebte. Florenz blieb Davidsohns Lebensort, nur von 1914 bis Mai 1920 unterbrochen durch den Ersten Weltkrieg, den der Historiker in München und Zürich verbrachte. Als nach der Inflation das Vermögen dahinschmolz, griff ein anderer der reichen jüdischen Privatgelehrten unter die Arme: der aus einer amerikanischen Bankiersfamilie stammende James Loeb, der sich schon vor dem Weltkrieg in München und Murnau niedergelassen hatte. Er trug in den Jahren nach 1923 entscheidend zum Lebensunterhalt des Ehepaars bei. Die politische Entwicklung in Deutschland verfolgte Davidsohn aus der Ferne offenbar genau, doch blieb ihm die Verfolgung erspart; seine Frau starb fast 100-jährig erst 1947.
Als Persönlichkeit war Davidsohn bislang weitgehend unsichtbar, selbst die Darstellung der Deutsch-Florentiner von Bernd Roeck (Florenz 1900. Die Suche nach Arkadien, München 2001) hat ihn nicht plastischer gemacht, und als Quellenforscher und Geschichtsschreiber ist er heute, fast 80 Jahre nach Abschluss seiner "Geschichte der Stadt Florenz", mehr ein klangvoller Name als ein diskussionstreibender Gelehrter. Was also hat zur "Giornata di studio" am 19. Oktober 2000 in Florenz geführt, deren dreibändiger Niederschlag hier vorliegt? Zunächst ein Zufall. Aus Anlass des 100-jährigen Bestehens des deutschen Kunsthistorischen Instituts Florenz 1997 stellte Steffi Roettgen (München) den Anteil dar, den Davidsohn bei der Gründung dieser Institution hatte (Dal "Börsencourier" di Berlino al "Genio" di Firenze. Lo storico Robert Davidsohn (1853-1937) e il suo lascito inedito fiorentino, in: Storia dell'arte e politica culturale intorno al 1900, Venedig 1999, 313-338); dabei grub sie eine Reihe von Lebenszeugnissen aus und kam auf die Spur des Vermächtnisses des Historikers in der Biblioteca Comunale Centrale di Firenze: des handschriftlichen und mit annähernd 1900 Titeln nur teilweise erhaltenen bibliothekarischen Nachlasses, letzterer katalogisiert im 3. Tagungsband. Bei der Sichtung kamen auch einige Inedita zu Tage, hauptsächlich aus den 1930er-Jahren. Die Zettelsammlungen zur "Geschichte" und zu der gigantischen Dokumenten- und Regestensammlung, den "Forschungen zur Geschichte der Stadt Florenz", waren verloren, ebenso das Briefarchiv, doch bieten einige der nachgelassenen Schriften, die hier auf Deutsch und in italienischer Übersetzung abgedruckt sind, faszinierende Einblicke in die Zeit- und Geschichtsauffassung des Historikers, mehr als die zeitstilgeprägten kurzen Aufsätze zur Florentiner Wesensart und Geschichte. Es sind die Portraits der Italien-Historiker Alfred von Reumont, Ferdinand Gregorovius und Ludo Moritz Hartmann, die beiden letzteren dem Autor persönlich nahe stehend.
Die Anregung für diese Portraits ging von der "Deputazione di Storia Patria" aus. Zu einem Abdruck kam es leider nicht. In diesen ausgefeilten, urteilsstarken Miniaturen des 82-jährigen zeigt sich das Credo des Historikers und zugleich die Rechtfertigung der eigenen Lebensführung: Geschichte Italiens kann man nur schreiben aus der intimen Kenntnis des Landes und der Eigenart seiner Bewohner. Reumonts Geschichtswerke sind nicht nur von fragwürdigem Wert, weil sie ohne Quellenkritik und plagiatorisch geschrieben sind, sondern weil der reaktionäre Reumont in seiner Ablehnung der Einigungsbestrebungen das Wesen der Italiener zu seiner Zeit verkennt, er bleibt "der Ausländer". Anders Gregorovius: er, der gescheiterte 1848er und Mittellose, dessen "Sehnsucht (...) nach Italien gerichtet" war, kannte das Land aus vielen Reisen bis in die kleinsten Ortschaften. Bei der Würdigung von Ludo Moritz Hartmann, dem Verfasser einer "Geschichte Italiens im Mittelalter", zeigt sich eine andere Seite Davidsohns: sein liberaler Sinn und seine Sympathie für die Bildung der Arbeiter, der sich Hartmann in seinen letzten Lebensjahren verstärkt widmete - bei aller Distanz von Hartmanns "Marxistischer Auffassung" und ent-individualisierender Geschichtsbetrachtung. Davidsohn verabscheute jede Form von Servilität, die er in Deutschland endemisch sah und in den öffentlichen Erscheinungsformen auf das manipulative Politiktreiben Bismarcks zurückführte, in einer durchgehenden Linie bis zur NS-Diktatur. Für den geschichtsgeschulten Zeitdiagnostiker Davidsohn sind deshalb die Essays über "Fürst Bismarck, den Diktator" und über die Graue Eminenz Friedrich von Holstein aufschlussreich.
Die biografische Erforschung Davidsohns steht noch in den Anfängen. Hier ist vor allem auf den Beitrag von Wiebke Fastenrath Vinattieri hinzuweisen, der mehr Material enthält als der Titel verheißt: Robert Davidsohn: la sua amicizia con la scrittrice Isolde Kurz e i suoi scritti del lascito della Biblioteca Comunale di Firenze (I, 43-116). Frau Fastenrath Vinattieri behandelt das schriftstellerische Werk Davidsohns, Stationen seines Werdegangs und des Lebens in Florenz, doch ist wegen der Disparatheit des Materials alles mehr Vorstufe für eine größere Stoffsammlung als geschlossene Darstellung. Wertvolle Nachrichten zur Biografie liefert auch Maria Ingendaay Rodio (R. D. e la sua biblioteca, I, 117-137), die vor allem die persönlichen Beziehungen Davidsohns zu den in der Bibliothek vertretenen Zeitgenossen vorstellt. Hier wird auch die Verbindung deutlicher, die Davidsohn zu den Fachgenossen der Quellenforschung hat, nicht nur zu italienischen Forschern, sondern auch zu den Monumenta Germaniae Historica in Berlin und zum Preußischen Historischen Institut in Rom unter Paul Fridolin Kehr (123-125, 129-130), dem er zum 100. Geburtstag von Gregorovius als "Festredner, dessen Verdienste auf dem Gebiet der Organisation lagen und der allerdings tausende päpstlicher Urkunden und Regesten veröffentlicht hatte" kein schmeichelhaftes Zeugnis ausstellte - der "Urkundione" Kehr hatte zeitlebens eine Abneigung gegen Gregorovius' und Davidsohns eigenes Feld, die packend darstellende Geschichtsschreibung.
Ein wichtiger Aspekt in der Betrachtung Davidsohns ist fast gänzlich ausgespart: eine Bewertung seiner "Geschichte der Stadt Florenz" und des Dokumentenwerks im Lichte der neueren Forschung. Die chronologisch anschließenden Forschungen zum Humanismus in Florenz, die auf die Arbeiten der jüdischen Amerika-Emigranten wie Hans Baron, Felix Gilbert und Nicolai Rubinstein folgten, haben Davidsohns Leistung in den Hintergrund treten lassen, doch steht eine kritische Bewertung noch aus. Hier hat Steffi Roettgen (L'edizione italiana della Storia di Firenze, I, 139-200) anhand der Archivalien aus dem Verlag Sansoni, in dem eine Übersetzung der "Geschichte" erst zwischen 1956 und 1965 neu und vollständig erschien, gezeigt, welche Schwierigkeiten sich einer italienischen Ausgabe entgegenstellten, die schon seit 1906 in Arbeit war. Lorenz Böninger (Il carteggio con l' Archivio storico italiano, I, 201-240, Edition 213-240) behandelt die prekäre Beziehung Davidsohns zur italienischen Gelehrtenwelt der "Deputazione di storia patria per la Toscana", von den Anfängen vor dem Erscheinen der "Geschichte", die mit einem Gelehrtenstreit beginnen, bis zur Wiederannäherung 1935.
Was vom Historiker und Quellenforscher Davidsohn bleibt, mag Stoff einer weiteren "Giornata" bleiben, jedoch ist der Gewinn für die Kenntnis der Persönlichkeit bereits jetzt beachtlich, den man aus den Aufsätzen des Tagungsbandes und den neu edierten kleinen Schriften ziehen kann. Über die Person und seine Lebensmotive wüsste man gern mehr, zum Beispiel den wie es scheint ungewöhnlich langen Lebenslauf, in dem Davidsohn aus Anlass der Dissertation seine Motivation für das Studium der Geschichte beschreibt (W. Fastenrath Vinattieri, I, 46 Anmerkung 9). Angesichts eines Wissenschaftsbetriebs, der besonders seit den 1970er-Jahren vollkommen "verstellenplant" ist, erscheint die Welt der jüdischen Privatiers wie Davidsohn, Loeb, Warburg, die ein von materiellen Zwängen freies Leben der wissenschaftlichen Forschung hingaben, so fremd wie die der homerischen Epen. Sogar die Spuren ihrer Bemühungen, soweit nicht zwischen Buchdeckel gepresst, schwinden mehr und mehr: jüngst wurde bei der Neuaufstellung der Antikensammlung München auch der bislang geschlossen aufgestellte Bestand der unvergleichlichen Loeb-Sammlung antiker Kleinkunst aufgelöst. Gerade zu einer Zeit, wo die Faszination an solch einer Lebensweise zunimmt!
Markus Wesche