Klaus Waschik / Nina Baburina (Hgg.): Werben für die Utopie. Russische Plakatkunst des 20. Jahrhunderts, Bietigheim-Bsisingen: edition tertium 2003, 416 S., über 500 Abb., mit DVD, ISBN 978-3-930717-71-2, EUR 118,00
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Design des Lebensstils, dafür war das Plakat die längste Zeit des 20. Jahrhunderts das führende Mittel - im Westen im Dienste kommerzieller Werbung, in der Sowjetunion im Dienst der Propaganda für eine Ideologie, die Utopie des Kommunismus. Auf welche Weise dem sowjetischen Plakat von der experimentellen Phase der Revolutionsjahre über die visuellen Standards des Sozialistischen Realismus bis zum systemkritischen Plakat der Perestrojka die Aufgabe einer Verhaltens- und Bewusstseinsveränderung seiner Betrachter gestellt war, kann anhand der vorliegenden Edition auf wunderbare Weise analysiert werden.
Das zweiteilige Werk setzt sich zusammen aus einem Handbuch und einer digitalen Studienedition, die neben den zahlreichen farbigen Wiedergaben der Plakate auch einen virtuellen Museumsbesuch ermöglicht und 9 chronologische sowie 15 thematische multimediale Präsentationen beherbergt. Neben den Texten und Künstlerviten besitzt die DVD ein Glossar und eine ausführliche Such- und Albumsfunktion.
Die Herausgeber präsentierten mit Buch und DVD das Ergebnis eines über drei Jahre laufenden wissenschaftlichen Projektes zur kulturgeschichtlichen Entwicklung des politischen Plakats in der Sowjetunion, das vom Lotman-Instituts für russische und sowjetische Kultur (LIRSK) der Ruhr-Universität Bochum und der Russischen Staatsbibliothek Moskau gemeinsam begründet wurde, in Bochum situiert war und von der Fritz Thyssen Stiftung finanziert wurde. Dieses Projekt war das abschließende Teilprojekt eines über zehn Jahre laufenden Digitalisierungsprojektes, in dessen Rahmen eine deutsch-russische Text-Bild-Datenbank zur russischen Plakatkunst entstand, die heute über 3.500 Plakate aus dem Zeitraum zwischen 1815 bis 2003 umfasst. Beide Projekte standen unter der Leitung von Klaus Waschik (Geschäftsführer des LIRSK, Bochum) und Nina Baburina (Moskau).
An dem Projekt waren dreißig Wissenschaftler mit der Erfassung der Plakate, der Künstlerviten (nahezu 1.000) und Textdokumente (4.000) beteiligt. Seit 1996 konnten die Wissenschaftler eine Reihe von Kooperationen mit russischen Staatsarchiven, Künstlerverbänden und Bibliotheken aufbauen. Die Forscher dokumentieren ihre Ergebnisse auf zwei Wegen: durch die vorliegende zweiteilige Studienedition und in einem virtuellen Museum im Internet (http://www.russianposter.ru), wo die Poster direkt eingesehen werden können und zusätzlich mit dem Plakatarchiv verlinkt sind, in dem Informationen zu den Künstlern, den Darstellungen und den Drucktechniken geboten werden. Die russische Staatsbibliothek in Moskau stellte für dieses Projekt alle Plakate zur Verfügung.
Als Waschik und Baburina 1998 mit den Arbeiten an einer illustrierten Geschichte des russischen Plakats begannen, konnten sie bereits aus dem Fundus einer Text-Bild-Datenbank schöpfen, die seit Anfang der 90er-Jahre in Moskau angelegt wurde und weitgehend fertig gestellt war. Das Handbuch gibt einen facettenreichen Überblick über die Geschichte der russischen Plakatkunst, die wichtigsten Motive sowie die Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen des russischen Plakats von seinen Anfängen bis zur Perestrojka. Es wird dabei in geradezu idealer Weise durch die digitale Edition unterstützt, die zahlreiche Texte zur politischen, gesellschaftlichen sowie zur Sozial- und Kulturgeschichte Russlands enthält und umfangreiche Recherche-Optionen bietet. Der virtuelle Rundgang durch die Plakatsammlung ist als audiovisuelles Erlebnis gestaltet, denn zu insgesamt 14 Themen werden Texte akustisch präsentiert: zum Agitprop und seinen Kompositionsformen und Überzeugungspotenzialen (1), zur Russischen Moderne und den Plakatstilen und Plakatsujets Anfang des Jahrhunderts (2), zum Plakat in der Revolution (3), zum Ideal des Neuen Menschen (4), zu den Symbolen des Sowjetischen (5), zu den Präsentationsformen und Wirkungsweisen der Plakatagitation (6), zur Geschichte der ROSTA-Fenster (7), zu den Metamorphosen des Bösen: Feindbilder vom Bürgerkrieg bis zu den 80er-Jahren (8), zur Lenin-Ikonographie im 20. Jahrhundert (9), zum ersten Fünfjahresplan (10), zum Führerkult der 30er bis 50er-Jahre (11), zu den Plakaten im Zweiten Weltkrieg (12), zu den Filmplakaten des 20. Jahrhunderts (13) sowie zum Perestrojka-Plakat (14). Sowohl durch das Handbuch als auch durch die DVD werden Leser und Benutzer anhand der Geschichte des Plakates in die russische Kultur- und Sozialgeschichte eingeführt. Die Analysen der vorliegenden Studienedition umfassen den Zeitraum vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts und verdeutlichen, wie vielfältig und motivreich das sowjetrussische Plakat im 20. Jahrhundert war. In der Analyse wird die politische und gesellschaftliche Entwicklung mit der Entwicklungsgeschichte des russischen Plakates vernetzt. Dies geschieht anhand von historischen Kurzportraits und ausgewählten Plakatanalysen. Durch sie wird verdeutlicht, dass das russische Plakat im 20. Jahrhundert stets eng an die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Sowjetunion gekoppelt war und nicht losgelöst von diesen behandelt werden kann. Es ist das Verdienst der vorliegenden Edition, diese Interdependenz sichtbar zu machen und sie anhand einzelner Plakatanalysen sowie einer Beschreibung und Bewertung historischer Ereignisse für das Plakat aufzuzeigen. Die chronologische Herangehensweise erweist sich hierbei als gewinnbringend.
Buch und DVD sind durchdacht strukturiert, übersichtlich angelegt und gut handhabbar. Der komplexe Aufbau der DVD gliedert sich beim Start anhand einer Listenübersicht in vier Bereiche: die alphabetisch geordnete Künstlerliste, die alphabetisch strukturierte Titelliste, die Jahres- und Epochenliste sowie den Thesaurus. Die Künstlerliste gibt alphabetisch geordnet Kurzangaben zu ausgewählten Plakatkünstlern. Die Angaben konzentrieren sich auf den Namen, die Lebensdaten sowie die Anzahl der auf der DVD verzeichneten Plakate. Als Suchmodus dient der Name des Künstlers. Die Titelliste beherbergt in ebenfalls alphabetischer Auflistung folgende Angaben zum Einzelplakat: Titel (in deutscher Übersetzung), Originaltitel (russischer Text), Künstler, Jahr und Ort. Als Suchmodus dient der Titel des Plakates. Die Jahres- und Epochenliste folgt einer zeitlichen Chronologie von 1846 bis zum Jahr 2000 und ist unterteilt in die Zeitabschnitte der einzelnen Jahrzehnte. Zu diesen Zeitphasen finden sich folgende Themenbereiche: Das frühe Plakat; Jahrhundertwende und Zeit des Jugendstils; Revolutionsplakat, Avantgarde, Zwanzigerjahre; Konstruktivismus, Fotomontage, frühe dreißiger Jahre; Sozialistischer Realismus der dreißiger Jahre; Das Plakat im Zweiten Weltkrieg; Der Große Stil und die späten Vierzigerjahre; Das Plakat der fünfziger bis Achtzigerjahre; Perestrojka und die Zeit danach. Im Thesaurus lässt sich auf verschiedenen Ebenen nach folgenden Kriterien recherchieren: Thematik, Symbolik/ Motivik, Produktion/ Technik. Widmet man sich beispielsweise dem Themenfeld Symbolik/ Motivik (1. Ebene), so findet man eine Auflistung verschiedener weiterer Suchkriterien von A wie Allgemeine Motive bis Z wie zitierte Symbole (2. Ebene), die wiederum detaillierte Einträge zu jedem Symbol aufweisen (3. Ebene). Zusätzlich zu diesen Rubriken beherbergt die Eintragung "Themen und Aspekte" noch ein Textarchiv mit drei miteinander vernetzten Unterteilungen: eine nach Jahreszahlen zeitlich gegliederte Historie, einen nach Themen alphabetisch strukturierten Text und ein Glossar.
Aus der Übersicht wird deutlich, dass die vorliegende Studienedition die Entwicklungswege vom frühen russischen Werbe- und Veranstaltungsplakat zum politischen Plakat und schließlich bis zum Zerfall des sowjetischen Reiches aufzeigt. Mit dem Perestrojka-Plakat, in dem der Illusionsverlust dargestellt und die bildpropagandistischen Strategien des sowjetischen Plakates konterkariert wurden, endet die gelungene Darstellung und Analyse der russischen Plakatgeschichte im 20. Jahrhundert.
Der interdisziplinäre Zugang der vorliegenden Studienedition ist unter historischem, kulturgeschichtlichem und motivgeschichtlichem Aspekt sehr gewinnbringend. Leider wird in der digitalen Studienedition bei der Nennung von Texten oder Zitaten nicht immer ein Quellennachweis erbracht. Uneinheitlichkeiten der Schreibweise von Eigennamen sind darauf zurückzuführen, dass die DVD als Projektarbeit von mehreren Personen erstellt wurde. Die Auswahl der Sekundärliteratur konzentriert sich schwerpunktmäßig auf die russische Forschung. Hier kann kein Anspruch auf Vollständigkeit vorliegen, da insbesondere deutschsprachige Publikationen aus der kunsthistorischen Forschung nur teilweise erfasst wurden. Doch dies sind - mit Blick auf das Gesamtwerk - keine wirklichen Mängel. Die Herausgeber haben eine Bild- und Quellenbasis zusammengestellt, die in der Zukunft noch viele weitere vertiefte Analysen zum russischen Plakat ermöglicht. Die Edition ist das sehr gelungene und unverzichtbare Ergebnis eines langjährigen Digitalisierungs- und Forschungsprojektes zur russischen Plakatkunst, das in dieser Weise einzigartig ist.
Nicola Hille