Francesco Leoncini: L'Europa centrale. Conflittualità e progetto. Passato e presente tra Praga, Budapest e Varsavia. [Mitteleuropa. Konfliktträchtigkeit und Entwurf. Vergangenheit und Gegenwart zwischen Prag, Budapest und Warschau], Venezia: Cafoscarina 2003, 332 S., ISBN 978-88-88613-52-9, EUR 15,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die Ernte von 30 Jahren Beschäftigung mit den Ländern Mitteleuropas legt der Venezianer Francesco Leoncini hier vor; er betrachtet die Länder östlich der Linie Berlin, Triest, Otranto, die so oft als Objekte der Politik von Großmächten außerhalb dieser Region gedient haben, als eine "Schicksalsgemeinschaft", als ein "laboratorio culturale e politico" (19), die mehr gemeinsam haben als die Zugehörigkeit zum Hause Habsburg in der Vergangenheit und mehr Beachtung verdienen, als im Deutschen mit der Bezeichnung "Zwischeneuropa" manchmal pejorativ ausgedrückt wird.
Die Aufsätze behandeln im Wesentlichen drei Themenkreise, denen der Verfasser auch jeweils Buchpublikationen gewidmet hat: die Geschichte und die Probleme der Tschechoslowakei (von ihrer Gründung bis in die Gegenwart), die intellektuelle Opposition in der Zeit des "Sozialismus" und die Chancen zur Überwindung der nationalen Antagonismen in dieser Region; vielfach überschneiden die Themen einander, sodass ein dichtes Geflecht von Reflexionen entstanden ist. Anders als der Titel andeutet, kommt Polen in den Überlegungen kaum vor, dafür werden aber die Probleme der Südslawen eingeschlossen.
Am intensivsten behandelt der Verfasser die Tschechoslowakei, die Probleme der Entstehung des Staates und das Verhältnis der Tschechen zu den Deutschböhmen und den Slowaken, was bereits das Thema seiner Dissertation gewesen war, die leider weder in Italien noch (in deutscher Übersetzung) im deutschen Sprachraum die gebührende Beachtung gefunden hat. Der Verfasser hatte seinerzeit darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff "Selbstbestimmung der Völker" im politischen Kontext des Ersten Weltkrieges gesehen werden muss und dass die Niederlage der Mittelmächte aus politischen Gründen nicht mit einer Vergrößerung des unterlegenen Deutschland (durch den Anschluss Österreichs und der Sudetengebiete) "belohnt" werden konnte. Die Defizite und Fehler der neuen Nationalstaaten verhehlt der Verfasser keineswegs, und er verweist auf die ungenutzten Möglichkeiten der Föderalisierung sowohl innerhalb der Staaten (das Problem der Deutschen und der Slowaken), wie zwischen den Staaten, deren "Komplementarität" nur wenig wahrgenommen worden ist.
Aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sind einige Aufsätze den Versuchen des Widerstandes gegen die sowjetische Herrschaft gewidmet, dem ungarischen Aufstand von 1956 und dem "Prager Frühling" von 1968. Leoncini sieht in diesen Ereignissen, und mehr noch in ihrer intellektuellen Vorbereitung, ein Beispiel für die Eigenständigkeit der Gesellschaften Mitteleuropas, deren Eliten einen "dritten Weg" zwischen dem sowjetischen Modell des Sozialismus und dem westlichen Modell der parlamentarischen Demokratie gesucht hätten, der die Selbstverwaltung der Arbeiter zum Ziel hatte. Dies kulminierte in ungarischen Vorstellungen vor 1956, neben einer Kammer der politischen Repräsentation durch politische Parteien eine weitere gesetzgebende Kammer zu errichten, die aus Vertretern der Industrie, der Bauern und des Dienstleistungssektors beschickt werden sollte (187). Inwieweit hier Gedanken der spanischen "Cortes" unter Franco aufgegriffen worden sind, wird vom Verfasser aber nicht hinterfragt.
Der Gedanke einer Verbindung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit, der "Humanität", zieht sich durch viele der Beiträge, die damit oft den Charakter von Essays erhalten, in denen ein moralisierender Unterton mitschwingt. Dies wird besonders deutlich, wenn der Verfasser die Personen behandelt, denen eine Überwindung der nationalen Gegensätze am Herzen lag. Zentral ist dabei seine Beschäftigung mit Masaryk, dem ersten Präsidenten der Tschechoslowakei, dem er mit Blick auf dessen Schrift "Das Neue Europa", die - wie in der Einleitung zu seiner Edition dieser Broschüre in italienischer Sprache ausgeführt - hundert Jahre zu früh gekommen sei, geradezu prophetische Gedanken zumisst. Der Weg führt dann über Milan Hodža mit seinem Buch von 1942 über die Föderalisierung Mitteleuropas zu Personen, denen die "Wahrhaftigkeit" in der Politik am Herzen lag: Alexander Dubček als Repräsentant des "Prager Frühlings" und Václav Havel als erster Präsident der befreiten Tschechoslowakei. Leoncini macht keinen Hehl aus seiner Sympathie für diese Ansichten, die auch von den tschechischen Philosophen Patočka und Kosík vertreten worden sind und die in vielen Beiträgen anklingen. So ist es auch nur konsequent, wenn er als Ergebnis des Umschwungs des Jahres 1989 mit Bedauern feststellt, dass alle Ansätze eines eigenständigen Beitrags der Intellektuellen Mitteleuropas durch den Sieg des Konsumismus und des Neoliberalismus in den Transformationsstaaten verloren gegangen seien (148). Die Zukunft Mitteleuropas sieht er eher skeptisch, denn den kleinen Staaten droht seiner Meinung nach eine neue Kolonisation von außen (durch die finanzielle Kraft Deutschlands und der Niederlande, 290) und ein moralischer Verfall von innen (durch den Konsum und den amerikanischen Einfluss). Der schwungvoll geschriebene Aufsatz "Das postkommunistische Europa" aus dem Jahre 2000, der diese Gedanken breit ausführt, gipfelt in dem Satz: "Ich glaube, dass heute Havel außerhalb der Burg nützlicher wäre als drinnen, er hätte ein größeres effektives politisches Gewicht." Dies ist mittlerweile zwar eingetreten, aber das politische Gewicht liegt eindeutig bei seinem Nachfolger, dem neoliberalen Václav Klaus, der in diesem Beitrag nicht erwähnt wird.
Zwei Reiseeindrücke, davon einer eine Liebeserklärung an Prag, eine Auswahlbibliographie und biografische Angaben zum Verfasser runden diesen Band ab, der belegt, dass aus Italien zum untersuchten Teil Europas zwar - wie der Verfasser mehrfach feststellt - bisher nur wenige eigenständige Beiträge gekommen sind, darunter aber durchaus beachtenswerte, von denen einige auch in andere Sprachen übersetzt worden sind.
Manfred Alexander