David Thomas Murphy: German Exploration of the Polar World. A History, 1870-1940, Lincoln: University of Nebraska Press 2002, XIII + 273 S., ISBN 978-0-8032-3205-1, USD 49,95
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Die Entdeckung und Erforschung der Polargebiete durch europäische und amerikanische Expeditionen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schlägt sich am deutlichsten in den Landkarten der betroffenen Gebiete nieder. Beispielsweise zeugen in der Antarktis Filchner- und Drygalskiberge, Ritscherhochland, Gaußberg oder das Kaiser-Wilhelm II.-Land bis heute vom Ehrgeiz auch deutscher Wissenschaftler, die Geheimnisse der Eiswüsten an den Enden der Erde aufzudecken. Aus den mental maps der Deutschen sind Namen wie Karl Koldewey, Erich von Drygalski oder Alfred Wegener jedoch weitgehend verschwunden, auch wenn ihre Unternehmungen oft nicht weniger dramatisch verliefen als der berühmte Wettlauf zwischen dem Norweger Roald Amundsen und dem Briten Robert F. Scott zum Südpol oder die spektakuläre Rettung der Teilnehmer von Ernest Shackletons transantarktischer Expedition nach dem Verlust ihres Schiffes im Packeis.
Diese Ungerechtigkeit der historischen Erinnerung veranlasst den amerikanischen Historiker David Thomas Murphy zu einer Gesamtdarstellung der Geschichte der deutschen Polarforschung zwischen 1870 und 1945. Sein Buch untersucht die Polarforschung vor dem Hintergrund der imperialen Ambitionen und geopolitischen Ziele Deutschlands (vom Kaiserreich bis zur NS-Diktatur) und behandelt damit ein wichtiges und bislang vernachlässigtes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte.
Im Zentrum dieses "goldenen Zeitalters" (1) der Polarforschung steht die Forschungsexpedition, geprägt durch die Spannungen zwischen heroischem Individuum und anonymen Begleitern, nationalem Prestige und internationaler Kooperation sowie technologischem Fortschritt und der Übernahme indigenen Wissens. Darüber hinaus begreift Murphy die Polarwelt als Projektionsfläche für deutsche Fantasien, Hoffnungen und Wünsche: Die Aussagen, welche Teilnehmer, Förderer, Fachwelt und Öffentlichkeit über die arktischen Gebiete trafen, waren immer auch Aussagen über die Befindlichkeit der deutschen Gesellschaft.
Murphy nähert sich seinem Gegenstand in sechs weitgehend chronologisch geordneten Kapiteln und beschränkt sich auf die exemplarische Analyse der für das jeweilige politische System aussagekräftigen Polarexpeditionen. Ausgewertet wurden hierfür neben den veröffentlichten Expeditionsberichten zeitgenössische geografische Fachzeitschriften sowie Archivmaterial vor allem staatlicher Provenienz. Die zeitliche Abfolge der Darstellung wird unterbrochen durch Reflexionen über "the German Image of the Polar World" im fünften Kapitel. Dieser Aufbau markiert gleichzeitig einen tieferen Bruch: Waren die Unternehmungen vor 1933 nach Murphy gekennzeichnet durch überwiegend private Initiativen und primär wissenschaftliche Ziele, so usurpierte der NS-Staat 1933 die Polarforschung und stellte sie in den Dienst seiner Lebensraum- und Rohstoffpolitik. Die NS-Antarktis-Expedition 1938/39, vom Autor als "Blitz over Antarctica" (184) bezeichnet, bildet dann auch den Gegenstand des abschließenden sechsten Kapitels. Dem Buch sind zahlreiche illustrierende Fotografien beigefügt, und ein Orts- und Personenregister sowie zwei Landkarten erleichtern die Orientierung.
Das Thema verleitet zum Erzählen, und es ist die große Stärke des Buches, dass Murphy dieser Versuchung erlegen ist. So fliegt der Leser oder die Leserin mit Hugo Eckener im Luftschiff über das Franz-Joseph-Land, begleitet auf Eisschollen treibende Besatzungen, verfolgt Alfred Wegeners tragischen Tod in den Schneestürmen Grönlands und sieht Wilhelm Filchners antarktische Expedition am Streit zwischen Wissenschaftlern und Kapitän scheitern. Murphy präsentiert seinen Stoff quellennah und spannend. Minuziös werden die bei den einzelnen Forschungsreisen getroffenen personellen Entscheidungen, die mitgenommenen Vorräte, die neuesten wissenschaftlichen Gerätschaften sowie die aufwändigen Umbauten an den Schiffen geschildert. Breiten Raum gewährt Murphy auch den Impulsgebern der Polarforschung, beispielsweise dem Geografen August Petermann, der in den 1860er- und 1870er-Jahren als Herausgeber der Geographischen Mitteilungen eine Schlüsselfigur für die internationalen Forschungsbemühungen in Afrika, Asien, Amerika und den Polargebieten darstellte. War die Finanzierung der Forschungsunternehmen fast immer eine Mischung aus Spenden wissenschaftlicher Gesellschaften, monarchischer Privatschatullen, öffentlicher Sammlungen und staatlicher Unterstützung, so lässt sich doch als genereller Trend aller Polarexpeditionen von 1868 bis 1938 eine zunehmende Vereinnahmung der wissenschaftlichen Unternehmungen durch den Staat erkennen. Analog dazu verlor die Polarforschung seit der Jahrhundertwende mehr und mehr ihren internationalen Charakter. Während 1869 Napoleon III. noch bereitwillig die Nordpolarexpedition Koldeweys unterstützte und die britische Bevölkerung Kapstadts während des Burenkrieges 1901 den Schiffen Drygalskis einen begeisterten Empfang bereitete, wurden die Polargebiete vor allem nach dem Ersten Weltkrieg Gegenstand nationaler und geostrategischer Rivalitäten. Auch zeigt Murphys Darstellung eindrucksvoll, wie sehr die Expeditionen immer auch der Zurschaustellung wissenschaftlicher und technologischer Modernität dienten. Zur Perfektion trieben die Verbindung von Geopolitik, Wissenschaft und Technologie die Nationalsozialisten. Im Januar 1939 katapultierte die Schwabenland zwei Dornier-Wasserflugzeuge in den Himmel über der Antarktis, die nicht nur umfangreiche Luftaufnahmen des überflogenen Landes lieferten, sondern auch ein vom Dritten Reich beanspruchtes Territorium namens "Neu-Schwabenland" durch den Abwurf einschlägiger Herrschaftssymbole markierten.
Trotzdem legt man das Buch etwas unbefriedigt aus der Hand. Murphys ausschließlicher Bezugspunkt für die Polarforschung ist der deutsche Staat in seinen unterschiedlichen Figurationen, und an manchen Stellen hätte man sich eine umfassendere Kontextualisierung der Ergebnisse gewünscht. So werden zwar die Forschungsunternehmungen anderer Länder immer wieder angesprochen, ein systematischer Vergleich mit Shackleton, Scott, Amundsen oder beispielsweise den Polarflügen des italienischen Abenteurers Umberto Nobile jedoch unterbleibt. Ebenfalls nur am Rande erwähnt werden deutsche Forschungsreisen in andere Erdteile, vor allem Afrika und Südamerika. Eine eingehendere Bezugnahme darauf wäre schon allein deshalb sinnvoll gewesen, weil diese mit den polaren Unternehmungen um die gleichen, raren finanziellen Mittel konkurrierten und eine Vielzahl personeller Verbindungen - beispielsweise die Geografen Ratzel und von Richthofen - zwischen Polar- und Afrikaforschung existierten. Auch die bereits angeführten Geographischen Mitteilungen Petermanns widmeten sich vor allem den Expeditionen ins Innere Afrikas. Die Berücksichtigung dieser Bezüge hätte es Murphy ermöglicht, die Polarforschung innerhalb der imperialen Expansion des Kaiserreichs zu situieren und detaillierter herauszuarbeiten, warum und von wem die jeweiligen Unternehmungen unterstützt wurden oder eben nicht.
Auch das insgesamt überzeugende Kapitel über die deutschen Vorstellungen von der Polarwelt ist nicht unproblematisch. Deutsche waren fasziniert vom Polarlicht, sahen in der arktischen Natur eine Bewährungsprobe für Männlichkeit und Disziplin und maßen die dort lebenden Eskimos an bürgerlichen Werten. Für die Expeditionsteilnehmer und die von ihnen hinterlassenen Aufzeichnungen, Tagebücher und Reiseberichte mag das sicherlich zutreffen. Um daraus aber ein tragfähiges "German Image" zu konstruieren, müssten systematisch auch populäre Textgattungen und illustrierte Zeitschriften, Visualisierungen und Darstellungstechniken der Polarwelt, beispielsweise Landkarten, Dioramen oder die Eskimo-Völkerschau Hagenbecks 1878 untersucht werden. Nicht zuletzt hätte auch der von Murphy immer wieder konstatierte Internationalismus durch Seitenblicke auf andere Erdteile noch mehr Kontur gewinnen können. So hat beispielsweise Ulrike Kirchberger nachgewiesen, wie deutsche Wissenschaftler bereits vor dem deutschen Kolonialerwerb an den Strukturen des britischen Empire partizipierten. [1] Ähnliches ließe sich auch für Alfred Wegener, "the most heroic figure in the annals of German exploration" (152), feststellen, der seine ersten Erfahrungen in einer dänischen Expedition sammelte. Auch hinsichtlich des Transfers von Ausrüstung, Material und technischem Know-How - beginnend beim den Eskimos abgeschauten Anorak bis zum in Norwegen angekauften Schiff - erscheint die deutsche Polarforschung im kritischen Rückblick möglicherweise doch weniger deutsch als die Zeitgenossen dies wahrhaben wollten.
All diesen Kritikpunkte zum Trotz liefert David Thomas Murphys Gesamtdarstellung der deutschen Polarforschung bis 1945 einen wichtigen Beitrag zu einem bislang unterbelichteten Aspekt deutscher Wissenschaftsgeschichte im imperialen Zeitalter. Es bleibt zu hoffen, dass eine baldige Übersetzung ins Deutsche das Buch einem breiteren Lesepublikum zugänglich macht.
Anmerkung:
[1] Vgl. v.a. Ulrike Kirchberger: Deutsche Naturwissenschaftler im britischen Empire. Die Erforschung der außereuropäischen Welt im Spannungsfeld zwischen deutschem und britischem Imperialismus, in: Historische Zeitschrift 271 (2000), 622-660.
Bernhard Gißibl