Klaus Kempter: Eugen Loderer und die IG Metall. Biografie eines Gewerkschafters, Filderstadt: Verlagsgesellschaft W.E. Weinmann 2003, 615 S., ISBN 978-3-921262-30-6, EUR 38,00
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Nicht lange, nachdem die Sozialgeschichtsschreibung die Einzelpersönlichkeit als historischen Faktor wieder entdeckt hat, wendet sich nun auch die Historiographie der Gewerkschaften der Biografie der Funktionäre zu. [1] Nicht ohne "Bauchgrimmen" allerdings, denn der biografische Ansatz konzentriert sich zwangsläufig auf das Individuum, und zudem - als Funktionärsgeschichte - auf Eliten. Beides läuft im Grunde dem Selbstverständnis der Arbeiterbewegung, der ihre Historiker wenn nicht entstammen, so doch nicht selten nahe stehen, zuwider. Die Basis, nicht die Spitze verkörpert die Arbeiterbewegung; nicht der Vorstand, sondern der Gewerkschaftstag ist die wesentliche Institution der Gewerkschaften. Und schließlich bestimmt in dieser Perspektive nicht die einzelne Führungsfigur die Geschicke der Arbeiter und ihrer Bewegung, sondern die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung. So mussten Untersuchungen zur Rolle der Spitzenfunktionäre in den Gewerkschaften - mehr noch als jener in der SPD, deren führende Köpfe in der Zeitgeschichtsschreibung durchaus Beachtung fanden - lange Zeit als Desiderat gelten. [2] Der Funktionär war obendrein eine Figur, die lange Zeit ein negatives Image hatte. Als Bonzen und Bürokraten, Rädchen im Apparat, heimliche Machthaber und Strippenzieher im undurchsichtigen Filz waren die Funktionäre - in der Öffentlichkeit der alten Bundesrepublik ebenso wie unter Historikern - das Gegenbild des emanzipatorischen Auftrags der Arbeiterbewegung oder aber einfach die Verkörperung des gefürchteten Gewerkschaftsstaats. Ihre integrative Funktion, ihr Anteil am Gelingen des Neuaufbaus und der Etablierung einer stabilen politischen und gesellschaftlichen Ordnung geriet daher nur selten in den Blick. Allmählich aber wächst das Interesse der Arbeiterbewegungsforschung an den Funktionären, sei es als sozialer Gruppierung, sei es als handelndem Individuum mit Eigenleben.
Klaus Kempter hat vor diesem Hintergrund nun eine Biografie des IG Metall-Vorsitzenden Eugen Loderer (1920-1995) vorgelegt, der in den siebziger und frühen Achtzigerjahren an der Spitze der damals mächtigsten Einzelgewerkschaft der Welt stand. Mit dieser Biografie will Kempter zugleich eine weitere Forschungslücke schließen, nämlich die von der Gewerkschaftsgeschichte bislang fast vollständig vernachlässigten und auch von der allgemeinen zeithistorischen Forschung erst in Ansätzen bearbeiteten siebziger und frühen Achtzigerjahre. Die Biografie Loderers ist mithin auch als Beitrag zur allgemeinen Zeitgeschichtsforschung zu den Siebzigerjahren gedacht. Um diesem zweifachen Anspruch gerecht zu werden, bedient sich Kempter eines generationellen Ansatzes (272-278). Mit der Zuordnung Loderers zu einer bestimmten Alterskohorte - den zwischen 1918 und 1930 Geborenen, die Dirk Moses als "45er" bezeichnet hat [3] - und mit der Konzentration auf die Sozialisation gleicht Kempter den Lebensweg seines Protagonisten mit allgemeinen gesellschaftliche Entwicklungen ab und will so die Biografie in die Gesellschaftsgeschichte einbinden. Das gelingt zum guten Teil auch, findet seine Grenzen jedoch im Untersuchungsgegenstand selbst. Denn eine Biografie, zumal eine gut erzählte und für ein breiteres Publikum durchaus lesbare wie die vorliegende, kann und soll auch gar nicht jene Form von analytischer Tiefenschärfe erreichen, die man im Zusammenhang mancher der hier angesprochenen Themen von einer allgemein zeithistorischen Untersuchung erwarten würde. Dem Zugriff entsprechend ist der Aufbau des Buches gewählt: Im ersten Teil steht Loderers Sozialisation im Mittelpunkt, Kindheit und Jugend, der Weg in die Gewerkschaftsbewegung und die ersten Karrierestationen. Im zweiten Teil geht es dann um sein Wirken als Gewerkschaftschef in den siebziger und Achtzigerjahren, wobei auch vom Umfang her der Schwerpunkt des Buches eindeutig auf diesem Zeitabschnitt liegt.
Loderer stammte aus dem schwäbischen Heidenheim, wuchs als Arbeiterkind in der Weimarer Republik und im Dritten Reich heran und nahm am Zweiten Weltkrieg teil. Ursprünglich im katholischen Milieu verwurzelt, fand er nach dem Krieg eine neue geistige Heimat in der Sozialdemokratie. Er stieß zur IG Metall und stieg dort rasch als hauptamtlicher Funktionär auf. Nach einem Zwischenspiel als Landesbezirksvorsitzender des DGB Baden-Württemberg kehrte er 1968 als Zweiter Vorsitzender zur IG Metall zurück und wurde 1972 Nachfolger Otto Brenners als Erster Vorsitzender der Metallgewerkschaft, ein Posten, den er bis 1983 ausübte. Er war damit einer der wichtigsten Gewerkschafter der siebziger und Achtzigerjahre, und zwar genau in der Zeit zwischen der reformerischen Hochphase um 1970 und der Strukturkrise der späten siebziger und frühen Achtzigerjahre, die die Stahlindustrie besonders hart traf. Auf eine Epoche des stetigen Wachstums und des Machbarkeitsglaubens, in der die Gewerkschaften politischen und gesellschaftlichen Einfluss wie nie zuvor besaßen, folgte eine abrupte Zäsur und eine Phase der strukturellen Krise und der Verunsicherung, in der Loderer "das Schiff durch die Klippen zu steuern" (364) hatte. Unter seiner Ägide kooperierte die IG Metall mit der sozialliberalen Regierung unter Helmut Schmidt, dem Loderer freundschaftlich verbunden war, und trat in der Konzertierten Aktion in institutionalisierte Verhandlungen mit den Arbeitgeberverbänden ein. Deswegen hatte Loderer Angriffe von mehreren Seiten zu gewärtigen. Neben der Kritik von "außen" beziehungsweise von "rechts", von einer zunehmend gewerkschaftskritischer werdenden Öffentlichkeit und den bürgerlichen Parteien, kamen nun auch Angriffe von "innen" und von "links": von der "traditionellen" Linken (406): von radikalen Linken und enttäuschten Gewerkschaftern aus den eigenen Reihen, ebenso wie von der "neuen Linken", den so genannten "Neuen Sozialen Bewegungen" der Siebzigerjahre, insbesondere von Atomkraftgegnern und der Friedensbewegung. Beide Richtungen warfen der Metallergewerkschaft und insbesondere ihrem Vorsitzenden Loderer vor, mit ihrem pragmatischen und systembejahenden Kurs die Interessen der Arbeiterschaft beziehungsweise die sozialistischen Ziele zu verraten, Teil des "Establishments" geworden zu sein. In der Tat stand Loderer, teilweise im Gegensatz zu seinen Kollegen an der Spitze der IG Metall, fest auf dem Boden der bundesrepublikanischen Werteordnung. Eine radikale Umgestaltung der Gesellschaftsordnung lehnte er ab, sah sich vielmehr als kämpferischer Interessenvertreter seiner Gewerkschaftsmitglieder innerhalb der tarifpartnerschaftlichen Ordnung.
Kempter zeichnet Loderer als moderaten und pragmatischen Gewerkschafter, als "ideologiefernen Praktiker" (362). Loderer war kein richtungsweisender Gewerkschaftsführer oder theoretischer Visionär wie sein Vorgänger Brenner, sondern Funktionär im eigentlichen Sinne, also Sachwalter und Interessenvertreter, der die gewerkschaftlichen Belange mit kämpferischem Impetus verfocht. Diese Haltung war, so Kempter, den Umständen der späten siebziger und Achtzigerjahre auch eher angemessen, denn angesichts der Krise konnte es nicht mehr um einen visionären Umbau der Gesellschaft gehen, sondern allenfalls noch darum, "den Besitzstand [zu] sichern" (361). Zudem entsprach dieser Funktionärstypus eher der gewerkschaftlichen Normalität als die Generation der Gewerkschaftsfunktionäre der fünfziger und Sechzigerjahre, die durch den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, durch die Erfahrung von Verfolgung, Haft oder Exil geprägt gewesen waren und den Neuaufbau im praktischen wie theoretischen Sinn zu leisten hatten. Loderer dagegen stand, als Angehöriger der "skeptischen Generation" (Schelsky), ideologischen Positionen jeglicher Art misstrauisch gegenüber und war - wie zuvor die Gewerkschafter in Kaiserreich und Weimarer Republik - für visionäre oder gar revolutionäre Ziele nicht zu haben.
Kempters Buch ist eine wohl wollende Biografie über einen anständigen Menschen, der sich zeitlebens über seinen eigenen beruflichen Aufstieg gewundert hat und von Ehrgeiz wie von Selbstüberschätzung frei war. Loderer hat seine Auffassungen stets offen und geradlinig vertreten; politische Ranküne war ihm fremd, jegliches Intrigenspiel war ihm zuwider. Sein gesamtes Engagement und seine Kraft steckte Loderer in seine Gewerkschaft, für andere Interessen blieb dabei keine Zeit. Dies ist ein Umstand, der durchaus typisch ist für Gewerkschaftsfunktionäre. Ihr beruflicher Aufstieg aus der Arbeiterschaft ebenso wie ihr Selbstverständnis als Angestellte ihrer Gewerkschaft, als Sachwalter ihrer Organisation, standen einem Bedürfnis nach individueller Verwirklichung eher entgegen. Funktionärsgeschichte bleibt insofern durchaus Gewerkschaftsgeschichte.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Till Kössler/Helke Stadtland, Hg.: Vom Funktionieren der Funktionäre. Politische Interessenvertretung und gesellschaftliche Integration in Deutschland nach 1933, Essen 2004.
[2] Als Ausnahmen: Ulrich Borsdorf: Hans Böckler. Arbeit und Leben eines Gewerkschafters von 1875 bis 1945, Köln 1982; Gerhard Beier: Willy Richter. Ein Leben für die soziale Neuordnung, Köln 1978.
[3] A. Dirk Moses: Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie, in: Die Neue Sammlung, 40/2000, 211-232.
Julia Angster