Stefan M. Zucchi: Deutschland und die Deutschen im Spiegel venezianischer Berichte des 16. Jahrhunderts, Berlin: dissertation.de 2003, 528 S., ISBN 978-3-89825-618-6, EUR 59,00
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In der vorliegenden Arbeit, die als Dissertation an der Philipps-Universität in Marburg entstand, beschäftigt sich der Autor mit den venezianischen relazioni, einer Quellengruppe, die in der deutschen Geschichtswissenschaft einen geradezu legendären Ruf genießt. Es handelt sich dabei um die offiziellen Schlussberichte, die die venezianischen Gesandten nach der Rückkehr von ihren diplomatischen Missionen persönlich vor dem Senat der Republik Venedig vortrugen. Bislang beschränkt sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser Quellengruppe eher auf Einzelfälle, wie etwa bei den Forschungen über das Zustandekommen des Westfälischen Friedens. Bereits Leopold von Ranke erkannte in den relazioni mit ihren ausführlichen Beschreibungen, Augenzeugenberichten und Analysen von Ländern und Politik Quellen von höchstem historischen Wert. Aus dem 19. Jahrhundert, einer Zeit, in der es für deutsche Historiker noch nicht so fern liegend war, sich mit der Geschichte der italienischen Staaten in der Frühen Neuzeit zu befassen, stammt das pauschale Urteil, die relazioni seien ausschließlich von objektiver Analyse gekennzeichnete Berichte.
Stefan Matthias Zuchi versucht das pauschale Bild dieser besonderen Quellengruppe aufzubrechen. Er wählt dafür mit dem 16. Jahrhundert einen Zeitraum, in dem sowohl die deutschen Lande (durch die Reformation) als auch die Republik Venedig (durch den langsamen Bedeutungsschwund als politische Macht in Europa) existenziellen Umbrüchen und Veränderungen unterworfen waren. Auch lässt sich in dieser Zeit eine starke Auf- und Abwärtsbewegung in der Qualität der einzelnen relazioni beobachten.
Zunächst verweist der Autor aber auf die Problematik der vorhandenen neuen Quelleneditionen, die allein auf diejenigen des 19. Jahrhunderts zurückgreifen. Damals war jedoch ein großer Teil der relazioni noch nicht zugänglich, sodass auch die aktuellen Editionen mangelhaft erscheinen, da sie die aktuelle Archivsituation nicht berücksichtigen.
In der Arbeit werden die Aussagen in verschiedenen, größtenteils unedierten, relazioni zu sechs großen Themenbereichen verglichen: Deutschlands Grenzen und Regionen, die Territorialherren (die weltlichen und geistlichen Reichsterritorien, die Städte und die Habsburger Erblande), die politischen Institutionen (der Kaiser und seine Wahl, der Reichstag, das Reichskammergericht und die Reichskreise), Skizzen der deutschen Nation (Beschreibungen der Menschen, ihrer Mentalität, Sitten und Gebräuche), das Militär- und Heerwesen und der religiöse Wandel.
Dass eine Relativierung des Bildes von der neutralen, wertfreien venezianischen Darstellung fremder Länder erfolgen muss, macht der Autor gut deutlich. Der Fixpunkt des in den relazioni zum Ausdruck kommenden Denkens bleibt stets Venedig. Die Venezianer blieben ihrem kulturellen, sozialen und politischen Kontext verhaftet, das heißt, sie gingen immer mehr oder weniger bewusst von den venezianischen Gegebenheiten als Vergleichsgröße aus. Das Weltbild der venezianischen Gesandten war vom Handel und vom Stadtleben geprägt. So erklären sich manche Urteile, die vielleicht überheblich wirken, beispielsweise wenn die deutschen Städte mit den italienischen Kulturmetropolen verglichen werden. Andererseits fühlten die Venezianer eine Art innerer Verbundenheit mit den freien Reichsstädten, die ebenfalls von (bürgerlichen) Oligarchien regiert wurden und in denen der Handel eine besondere Rolle spielte. Das galt in erster Linie für die Oberdeutschen Städte, insbesondere für Nürnberg. Der Handel wurde als ein Zeichen von Zivilisation betrachtet, gerade im Hinblick auf die weiten durch Agrarwirtschaft geprägten Gebiete Mitteleuropas. Der Autor betont, dass die venezianischen Gesandten immer einer Denkungsweise verhaftet blieben, die durch ihre von republikanischen, aristokratischen und merkantilen Faktoren geprägte Identität gekennzeichnet war.
Teilweise finden sich in den relazioni Beobachtungen von erstaunlicher "Modernität", etwa bei der Beschreibung der Stellung der Kurfürsten in der Verfassungsstruktur des Reiches. Die Schilderungen der Entstehung des Amtes der Kurfürsten bleibt jedoch erkennbar an literarische Traditionen geknüpft, die bis in das Mittelalter zurückreichen. Die venezianischen Gesandten erkennen deutlich eine regelrechte "Familienpolitik" des Hochadels in Bezug auf die geistlichen Fürstentümer in Deutschland. Das Machtverhältnis zwischen dem Kaiser und den Kurfürsten wird genau durchleuchtet, wobei eine starke Kritik an der "superbia" der Kurfürsten zum Ausdruck kommt. Auch die dynastische Festlegung der meisten dieser Wahlämter wird als mit dem ursprünglichen Konzept der Kaiserwahl nicht vereinbar bemängelt. Gerade der Kontrast zwischen der Idee und den realen Durchführungen der Kaiserwahl findet bei den Venezianern besondere Beachtung, da das venezianische Staatsoberhaupt, der Doge, ebenfalls gewählt wurde.
Auch im Blick auf die Vorstellung von der christlichen Universalherrschaft erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit der Idee und dem Konzept des Kaisertums. Insbesondere bei der Schilderung der Umstände der Wahl Kaiser Maximilians II. hält die relazione wichtige Beobachtungen eines Augenzeugen der Wahl fest. Unter anderem wird hier deutlich, dass die Konfessionsfrage der beteiligten Wähler fast ausschließlich vom Machtkalkül bestimmt ist. Selbst Spekulationen über einen Übertritt des Kaisers zum Protestantismus werden von den Venezianern sehr rational angestellt, mit nur geringer religiöser Emotionalität (254).
Auch bei der Schilderung der Reichstage wird der Wert deutlich, den die venezianischen Berichte durch die direkte Beobachtung des Geschehens haben. Die andauernde Konkurrenz zwischen dem Kaiser und den Reichsfürsten überschattete die Arbeit des Reichstages, der doch eigentlich die Bestrebungen aller koordinieren sollte. Die Situation erreichte schließlich im Schmalkaldischen Krieg ihren Tiefpunkt. Mit dem Sinken des Ansehens des Reichstages ist auch ein Sinken der Qualität der Berichte zu diesem Thema in den relazioni zu beobachten, von denen einige fast nur noch aus kritiklosen Abschriften aus Vorgängerberichten bestehen. Der venezianische Bericht über das Reichskammergericht kommt nach Meinung Zucchis fast einer modernen historischen Darstellung gleich, auch wenn über diese Einrichtung weniger berichtet wurde, da sie nur einen geringeren außenpolitischen Einfluss hatte.
Die venezianische Sichtweise über die verfassungspolitische Struktur des Heiligen Römischen Reiches wurde von anderen Europäern erst im 18. Jahrhundert geteilt, etwa von Montesquieu oder Rousseau (262). Die Venezianer bezogen ihr Wissen über die Entwicklung der konstitutionellen Eigenheiten der Deutschen Lande offensichtlich aus mittelalterlichen Chroniken. Parallelen zwischen den Berichten und etwa dem "Chronikon" Martins von Troppau konnte der Autor nachweisen. So kann man durchaus sagen, dass die venezianischen Gesandten sowohl über praktische als auch über theoretische Kenntnisse über das Heilige Römische Reich verfügten.
In den relazioni lassen sich auch persönliche Empfindungen, sowie individuelle Darstellungsweisen und Akzentuierungen der einzelnen Gesandten beobachten. Die abnehmende Qualität der Berichte im Verlauf des 16. Jahrhunderts kann mit einem zunehmenden Desinteresse der venezianischen Patrizier an der europäischen Politik erklärt werden und mit dem Zurücktreten Venedigs aus der ersten Reihe der europäischen Staaten.
Ein besonderes Gewicht in den Berichten erhält die Darstellung militärischer Phänomene. Dies ist nach den für die Republik Venedig existenzbedrohenden Konflikten mit den Staaten der Liga von Cambrai im frühen 16. Jahrhundert nicht verwunderlich. Die Beschreibungen sind auffällig detailliert, da es für die Republik Venedig unter Umständen lebenswichtig sein konnte, genau informiert zu sein. Es entsteht der Eindruck, dass die militärisch-politische Unterlegenheit der Venezianer durch einen stärkeren Verweis auf die kulturelle und moralische Überlegenheit kompensiert werden soll. Das Urteil über die Deutschen ist daher von Vorurteilen geprägt. Das Kriegs- und Heerwesen wird primär aus ökonomischer Perspektive geschildert, etwa wenn das Verhältnis zwischen den Finanzen und der Größe der Söldnerheere der einzelnen Fürsten genau beobachtet wird.
In den relazioni finden sich auch Schilderungen von Alltagsphänomenen, die in dieser Art in anderen Quellen wohl kaum zu finden sind. Das gilt beispielsweise für die Beschreibungen der Organisation der Brandbekämpfung in den deutschen Städten (154-156) oder die Schilderungen zum Alltagsleben der Söldner in den Heeren und der sie begleitenden Frauen (465-474).
Neben der Präsentation und der Übersetzung der Quellen, die in ihrer Aussagekraft oft für sich sprechen, bedient sich der Autor häufig literaturwissenschaftlicher Methoden, um die relazioni zu analysieren. Das ist in diesem Falle im hohen Maße gerechtfertigt, da die in der Regel humanistisch gebildeten Gesandten mit ihren Darstellungen ganz explizit eher literarische und rhetorische Ambitionen verfolgten, als dass sie allein einen politischen Bericht abgeben wollten.
Leider schmälern kleinere formale Mängel, die durch ihre Anzahl doch etwas auffallen, den inhaltlich so positiven Eindruck der Arbeit. So wird die Zitierweise (transkribierte Quelle in der Fußnote und deren Übersetzung im Text) nicht immer konsequent durchgehalten. Auch werden unüblicherweise die Kürzel in den transkribierten Quellen (wie etwa das gestrichene p für per) nicht aufgelöst. Das Abkürzungsverzeichnis ist zu knapp geraten. Zahlreiche Abkürzungen, insbesondere die für die einzelnen Bestände des venezianischen Staatsarchivs, werden nicht aufgelöst, sodass die Zitatbelege für einen Leser, der sich dort nicht auskennt, wenig hilfreich sind.
Eine größere Anzahl an Grammatik-, Rechtschreib- und Begriffsfehlern (für einen Historiker sehr schwer wiegt unter anderem die Umbenennung des Pfalzgrafen bei Rhein in einen Pfalzgrafen am Rhein) erweckt leider den Eindruck, als sei die Arbeit flüchtig und unkonzentriert erstellt worden. Dabei zeugt allein schon das arbeits- und zeitintensive Suchen und Aufnehmen der Quellen in den eher schwer überschaubaren Beständen der venezianischen Archive und Bibliotheken von einer sehr engagierten Herangehensweise an die Thematik. Dazu kommen die teils sehr scharfen Analysen der einzelnen Aussagen in den Berichten. Durch den Kontrast zwischen der sorgfältigen Herangehensweise an die Quellen und den formalen Flüchtigkeiten erscheint die vorliegende Arbeit als etwas inhomogen.
Das große Verdienst dieser Dissertation ist, dass hier Grundlagenforschung betrieben wird. Eine wichtige und für die historische Forschung jeglicher Richtung neue Aspekte aufzeigende Quellengruppe wird hier für die deutsche Geschichtswissenschaft überhaupt zugänglich gemacht. Dies geschieht nicht zuletzt durch die Übersetzung weiter Passagen aus dem Italienischen (trotz aller Interpretationsprobleme, die Übersetzungen grundsätzlich mit sich bringen). Die hier präsentierten Quellen bieten reichhaltiges Material für weitere Forschungen auf zahlreichen historischen Gebieten, insbesondere der Verfassungs-, Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte.
Carolin Wirtz