Henrik Eberle: Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2002, 539 S., ISBN 978-3-89812-150-7, EUR 29,50
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Wissenschaftsgeschichte hat Konjunktur. Und wenn Universitäten Jubiläen feiern, erwartet eine interessierte Öffentlichkeit von den ortsansässigen Historikern und Wissenschaftshistorikern historische Aufklärung. Dabei kann es sich keine Hochschule mehr erlauben, zu ihrem "Geburtstag" eine reine Jubelschrift aufzulegen. Als im Jahr 2002 in Halle die Martin-Luther-Universität unter Bezug auf die Wittenberger Universitätsgründung eine 500-Jahr-Feier mit Historikertag, Landesausstellung und eigener Briefmarke zelebrierte, wurde ebenfalls kritische Geschichtsaufarbeitung gefordert. Man beauftragte unter anderem mit Henrik Eberle einen Doktoranden damit, die Geschichte der Hochschule in der Zeit des Nationalsozialismus zu schreiben.
Universitätsgeschichte im Allgemeinen und das Thema im Besonderen sind vielschichtig. Man kann ideengeschichtlich herangehen: Wie änderte sich die Idee der Universität? Was verstand man unter Wissenschaft? Man kann sich sozialgeschichtliche Fragestellungen vorstellen: Veränderte sich die Zusammensetzung der Lehrenden oder der Studierenden? Wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen drängen sich auf: Wie war das wissenschaftliche Profil der Institution? Welche Fachrichtungen haben sich wie entwickelt? Gab es Schwerpunkte? Welche Neugründungen, personellen Veränderungen oder Einschränkungen traten auf?
Unlösbar sind alle diese Analyseebenen mit der Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik verbunden, das in der älteren Forschung häufig als Streit um die Hochschulautonomie dargestellt wird, während es in neueren Analysen vielfach reziprok um "Ressourcen für einander" [1] geht.
Wie sieht es nun in Eberles Buch aus? Zunächst einmal ist es bemerkenswert, dass er sich nicht mit einer der Ebenen oder einer spezifischen Fragestellung begnügt, sondern die Universität als ganzes in den Blick nimmt. In seinem Herangehen liegt jedoch auch ein Problem. Dies betrifft nicht die Informationsvielfalt. Eberles Recherchearbeit ist, insbesondere auf der Ebene der universitären Akten, enorm. Es liegt auch nicht an der sprachlichen Darstellung. Eberle weiß zu schreiben. Das anschauliche Beispiel und die zugespitzte Formulierung liegen ihm. Das Problem liegt in der Methodik und dem gewählten Ansatz. In den Worten Eberles: "Die Präsentation des Materials geschah in einer mehr deskriptiven und weniger theoretischen Weise" (7).
Die Arbeit ist über weite Teile chronologisch angelegt. Die Jahre 1933 bis 1936, die "Säuberungen", die Neuberufungen und die Kriegszeit werden kapitelweise behandelt. Eberle arbeitet vornehmlich biografisch. Die Arbeit enthält nicht nur im Anhang etwa 450 Kurzbiografien aller Lehrenden der Universität Halle - ein Lexikon, das im Übrigen für weitere Forschung sehr hilfreich sein kann. Die Personalakten des Universitätsarchivs sind auch im Darstellungsteil die wichtigste Quellengattung. Wenn Eberle die Entlassungen 1933 beschreibt oder die Neuberufungen, so referiert er vor allem Biografien. Eine systematische Gruppenbiografie legt er jedoch nicht vor, da solche Versuche scheitern würden - wie Eberle bereits zu Beginn behauptet.
Gut gelungen sind die Passagen, in denen Eberle über diesen biografischen Blick auf den Lehrkörper hinausgeht. Neue Ebenen eröffnet er etwa dort, wo die Studenten in den Blick kommen. Auch der Erwerb von Gebäuden und Grundstücken, die Bedeutung der Kliniken im Krieg und der Rüstungsindustrie und der Entzug akademischer Titel werden genauer untersucht. Hier beschreitet Eberle zum Teil - zum Beispiel bei der Baugeschichte - wirklich Neuland und gibt wichtige Anstöße für Erinnerungsarbeit und kritische Aufarbeitung.
Ansonsten werden viele Themen angeschnitten. Zu den Besonderheiten Halles gehörte die Debatte um die Universitätsidee, die in Halle unter dem Signum der "Gebrauchsuniversität" geführt wurde. Der NS-Rektor Johannes Weigelt benutzte diesen Begriff mit einer aus seiner Sicht positiven Konnotation: Die Hochschule solle und wolle dem Staat dienen, eben gebraucht werden. Die Ambivalenz der Diskussion um die Namensgebung kam hinzu: "Martin-Luther-Universität" hieß die Einrichtung seit 1933. Hier wertet Eberle die Festreden und verschiedenen Luther-Vorstellungen aus, wirft auch einen besonderen Blick auf den Kirchenkampf, der für die theologisch profilierte Universität wichtig war. Allerdings zieht Eberle keine Methoden der Historischen Semantik oder Deutungs- und Erinnerungsgeschichte heran. Seine Darlegungen bleiben additiv.
Eine weitere Besonderheit Halles ist durch die Tatsache gegeben, dass man den Eindruck gewann, "strafversetzte" Hochschullehrer aufnehmen zu müssen. Dies zusammen mit der durch Gerüchte ständig genährten Angst vor der Schließung der Einrichtung erklären manche hochschulpolitische Handlungen. Hierzu gehört auch die Besonderheit, dass die Universität die direkte Schirmherrschaft Alfred Rosenbergs suchte und erhielt.
Gerade hier hätte man eine viel stärkere Einbindung in den Forschungskontext erhofft, sind doch die Konflikte des Amtes Rosenberg mit dem zuständigen Ministerium Rust und dem SS-Ahnenerbe Himmlers bekannt. Gerade hier zeigen sich jene typischen Kompetenzstreitigkeiten des polykratischen NS-Systems, die in der älteren Forschung gerne mit Ineffektivität und sogar Distanz zum Nationalsozialismus gedeutet wurden. In der neueren Forschung wird immer klarer, dass sich die Universitäten und ihre Wissenschaftler weitaus mehr als bisher angenommen mit dem Nationalsozialismus eingelassen haben, wobei nicht hundertprozentige Übereinstimmung, sondern Teilübereinstimmungen prägend und systemstabilisierend wirkten.
Diesen Fragen der Polykratie geht Eberle allerdings nicht nach. Vielmehr stellt er seine Arbeit unvermittelt in einen anderen Kontext. Da sich mit Halle eine Universität nach zwei überstandenen Diktaturen ihrer Vergangenheit stelle, sei klar: "Folgerichtig war aber damit der Ansatz gegeben, die Universität an Hand der Vorgaben der Totalitarismusforschung einzuordnen. Daraus ergibt sich eine klare Verortung innerhalb der historischen Debatte" (7).
Dies erscheint jedoch weder klar noch folgerichtig. Man hätte sich zudem gewünscht zu wissen, was denn die "Vorgaben der Totalitarismusforschung" bedeuten und wie sie konkret operationalisiert werden könnten. Stattdessen wird "das kaleidoskopartige der Darstellung" (9) zum "Programm" erhoben. Gerade Eberles biografisch orientierte Darstellung bestärkt jedoch den Eindruck eines polykratisch und nicht totalitär von oben nach unten organisierten NS-Wissenschaftssystems.
Wenn Eberle etwa a priori feststellt, dass die Universität Halle "tatsächlich auch" eine "Gebrauchsuniversität des NS-Regimes" (9) geworden sei, so hätte man gerne über den Gebrauchswert der Wissenschaften etwas mehr gewusst: Wissenschaftsgeschichtlich über den Gebrauchswert der scheinbar normalen Forschung, sozialgeschichtlich über die Karrierechancen der NS-Generation. "Entstehen sollte jedoch ohnehin nicht eine Wissenschaftsgeschichte der Universität oder eine rückschauend soziologische Betrachtung über den Lehrkörper. Gefragt war eine im Wesentlichen politische Geschichte der Universität" (8), so Eberle, der sich damit wissenschafts- und sozialgeschichtliche Vergleiche verbaut. An einigen Stellen verlässt Eberle jedoch selbst sein methodisches Korsett. Hier erarbeitet er wichtige und gute Ansätze, etwa wenn er die NSDAP-Mitgliedschaft der Lehrenden (149 ff.) oder die regionale Zusammensetzung der Studierenden (159 f.) thematisiert.
Eberle will den Menschen und sein Schicksal in den Mittelpunkt stellen. Diese biografische Herangehensweise ist legitim und wichtig. Unverständlich ist jedoch die vehemente Ablehnung anderer Ansätze und Systematisierungen zu Gunsten des Kaleidoskopartigen, da es "viel mehr Individualisten als Typen gegeben" (7) habe. Eberle scheinen theoretische und systematische Ansätze - etwa auch der von Dieter Langewiesche (466) - suspekt zu sein. Dadurch überzeugt die Arbeit methodisch nicht und verschenkt Chancen der Vergleichbarkeit.
Anmerkung:
[1] Mitchell G. Ash: Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderas (Hg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, 32-51.
Tobias Kaiser