Gernot Lorenz: Donatellos Prophetenstatuen am Campanile des Florentiner Doms. Studien zur Ikonographie und Bedeutung der Propheten in Florenz, Weimar: VDG 2002, 260 S., 21 s/w-Abb., ISBN 978-3-89739-283-0, EUR 32,00
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Der Bürgerhumanismus, die zentrale Perspektive, nach der die Florentiner Frührenaissance lange unwidersprochen rekonstruiert worden ist, hat sich nicht erst heute als ein zu einseitiges Prinzip erwiesen. Auch die Ausrichtung der kunsthistorischen Forschung auf den Künstler gleichsam als Kultfigur wird den Kunstwerken der Epoche keineswegs gerecht. Diese Skepsis teilt der Autor der vorliegenden Studie ganz zu Recht. In der Absicht, die von Donatello zwischen 1415 und 1436 für den Florentiner Campanile geschaffenen Propheten neu zu deuten, sind die Ziele klar formuliert: Die Statuen sind nicht primär unter stilistischen Gesichtspunkten und schon gar nicht isoliert und als unerklärbare Meisterwerke zu betrachten, vielmehr sind sie in den Kontext ihrer Zeit und in eine ikonographische Tradition zu stellen - ihre Deutung in außen-, neuerdings auch innenpolitischem Sinne lehnt der Autor ab.
Den von Andrea Pisano und anderen Bildhauern im 2. Viertel des 14. Jahrhunderts geschaffenen Skulpturen, die den Auftakt zur künstlerischen Ausstattung des Florentiner Campanile bilden, ist das längste Kapitel des Buches gewidmet. Darin kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass die Reliefs (Artes mechanicae, Erfinder, Planeten, Tugenden, Sakramente, Artes liberales und Genesisszenen) und die in Nischen darüber aufgestellten, lebensgroßen Propheten- und Sibyllenstatuen keine einheitliche Programmidee verbindet. Damit lehnt Lorenz zugleich die traditionelle Deutung der Relieffolge als scholastisches Programm ab (89), um demgegenüber, gestützt auf Vergleichsbeispiele in Mittelitalien, als grundlegendes Konzept eine die kommunale, gute Regierung verbildlichende Idee herauszuarbeiten (89ff.). Für die Propheten und Sibyllen wird diese These überzeugend dargelegt (97ff.). Da die Propheten an der Domfassade in mariologischem Kontext stünden, sei ein solcher Bezug für die Campanilefiguren auszuschließen (121ff.). Trachtenbergs differenzierte These, dass der mariologische Aspekt am Campanile in Ergänzung oder im Widerstreit mit der Domfassade und dem symbolischen Konzept der "turris [...] id est Virgo Maria" zu sehen sei, bleibt unberücksichtigt. (The Campanile of Florence Cathedral: 'Giotto's tower', New York 1971, 104 - 106) Erstaunen ruft die Annahme hervor, von der der Autor offenbar ausgeht, dass ein scholastisches Programm mit fast enzyklopädischem Anspruch nicht auch kommunale Inhalte transportieren könne. Dass es keine einheitliche Programmidee gebe, da Reliefs und Statuen in keinem Zusammenhang stünden, kann als Resümee nicht recht überzeugen, da der Autor andererseits deutlich eine kommunale Ausrichtung "mit einem umfangreichen, politisch konnotierten Programm" erkennt (130f.).
Die berechtigte Frage, ob zu Donatellos Zeit eine Maßgabe existierte, wie die Prophetenfolge zu vollenden sei, lässt Lorenz offen, denn die komplexe Entscheidungsfindung fand weitgehend mündlich statt, und es sei zu vermuten, "dass es an anderer Stelle im Umfeld der Dombauhütte genauere Vorstellungen darüber gab, welche Figuren am Campanile aufgestellt und wie sie gestaltet werden sollten" (64). Leider erfährt man nicht, welche diese Stelle sein könnte. Um nachzuweisen, dass nun aber keinesfalls die kommunale Idee den Fortgang der Campanileausstattung bestimmt hat, verfolgt der Autor die Ikonographie der Propheten in Florenz. Ob er dabei die Begriffe politisch - eine solche Deutung hatte er eingangs abgelehnt - und kommunal gleichsetzt, ist nur zu vermuten.
Florenz wird im Lauf des 14. Jahrhunderts förmlich von Prophetendarstellungen überflutet. Bilden sie in den Baptisteriumsmosaiken des 13. Jahrhunderts noch die Basis eines heilsgeschichtlichen Programms, so lockert sich dieser Zusammenhang seitdem zusehends bis hin zur Überfülle in Orsanmichele (Statuettenzyklus, Glasfenster), wo sie nur noch als "Dekor" (148) zu lesen seien. In keinem der Fälle lässt sich eine "spezifische städtische Bedeutung" (155) ablesen, auch nicht an Orcagnas Tabernakel, wo die Propheten heilsgeschichtlich eingebunden sind. Das Fazit lautet: "Der stadtpolitische Rang von Propheten [...] war offensichtlich an die konkreten historischen Umstände in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts gebunden und lässt sich nicht ohne weiteres auf die späteren Prophetenbilder in Florenz übertragen." (157) Ob Donatello "weder stilistisch noch inhaltlich" an die Florentiner Tradition anknüpfte (157), bliebe anhand von Vergleichen mit den Prophetenfiguren der Domfassade noch zu zeigen.
Ob für die inhaltliche Deutung zwischen lebensgroßen Statuen und kleinformatigen Werken verschiedener Gattungen zu unterscheiden ist, thematisiert Lorenz nicht. Sein Verfahren nach dem Ausschlussprinzip überzeugt daher nicht, zumal er ein entscheidendes Figurenprojekt nicht bespricht - vielleicht weil es schnell wieder eingestellt wurde, was für eine inhaltliche Deutung zunächst keine Rolle spielt. 1408, nach dem Ende der Bedrohung durch Mailand (1402) und der Eroberung Pisas (1406), wurden seitens der Domopera Aufträge für lebensgroße Prophetenstatuen zur Bekrönung der Strebepfeiler um den Domchor an Nanni di Banco (Jesaia) und Donatello (David) vergeben. Marmorfiguren erwiesen sich als unpraktikabel, in einem zweiten Anlauf kam eine Terrakottafigur (Josua) zur Aufstellung, und noch 1415 plante man eine Herkulesfigur. (Charles Seymour jr., Michelangelo's David, Pittsburgh 1967, 28-32, 97-104) Gerade dieses Projekt unter Einbeziehung einer Herkulesfigur - das Herkulesrelief am Campanile dient Lorenz zu Recht als Hinweis auf kommunale Inhalte (96) - hat eine politische Deutung im Sinn des Bürgerhumanismus erfahren. (Frederick Hartt, Art and freedom in Quattrocento Florence, in: Essays in memory of Karl Lehmann, ed. L. Freeman Sandler, Locust Valley 1964, 114-131) Dass Lorenz darauf nicht eingeht, entkräftet seine Argumentation, zumal ein entsprechendes Apostelprogramm Jacopo della Quercias am Dom im rivalisierenden Lucca 1411 wohl als Reflex begonnen wurde. (Charles Seymour jr., Jacopo della Quercia sculptor, New Haven, London 1973, 36f.)
Anschließend behandelt Lorenz die "historischen, religiösen und geistesgeschichtlichen Grundlagen" von Propheten- und Sibyllendarstellungen bis hin zu Claus Sluters Mosesbrunnen. Er betont die Bedeutung der Propheten im Spätmittelalter als Mahner und Garanten für die Kontinuität der Heilsgeschichte sowie die der Sibyllen im Kontext der joachimitischen Vorstellung vom dritten Zeitalter (172ff.). Die ikonographische Besprechung hebt in erster Linie auf eine seit 1200 zunehmend lebhaftere und dramatischere Darstellung der Propheten ab. Diesen Aspekt führt Lorenz etwas unvermittelt schon bei der Behandlung der Straßburger Propheten ein, für deren Auftreten er nicht die kommunale Bewegung - warum denn auch? - verantwortlich macht, sondern ihre Aktualität und ihr Auftreten im geistlichen Schauspiel (124). Parallel zur Ausprägung des Ordo prophetarum sei zu beobachten, wie die Darstellungen seit dem Ende des 12. Jahrhunderts eindringlicher würden. Viele Beispiele ließen sich "mit dem Sermo contra Judaeos [des Joachim von Fiore] oder mit geistlichen Schauspielen zumindest in lockeren Zusammenhang" bringen, die quasi als "Schrittmacher" für die Herausbildung dieser neuartigen Inszenierung der alttestamentlichen Künder anzusehen seien (203f.).
Warum das bei den Propheten eine besondere Rolle gespielt haben könnte, obgleich doch auch viele andere biblische Gestalten im geistlichen Schauspiel auftraten, bleibt unklar. Angesichts so lebhafter Gestalten wie in Reims oder Naumburg und dem in der Mystik und in Bildschöpfungen des 13. und 14. Jahrhunderts erfüllten Erlebnisbedürfnis der Zeitgenossen überzeugt die These von der Dramatisierung nicht ohne Befragung anderer Bildthemen. Die Propheten Andrea Pisanos jedenfalls scheinen sich dieser Tendenz eher entzogen zu haben.
Lorenz weist nach, dass der Sermo auch im Florentiner Dom gelesen wurde und die Annunciazione, deren Aufführung aber erst für die 1420er Jahre belegt ist, einen den Prophetenspielen ähnlichen Teil aufwies, der höchst dramatisch aufgeführt wurde (208ff.). Ein Einfluss des geistlichen Schauspiels, wie er bereits für andere Werke Donatellos diskutiert wurde, sei eventuell auch in den Propheten zu sehen. Allerdings lassen sich diese nicht in direkte Verbindung mit der Prophetenikonographie der Annunciazione bringen. Da das geistliche Schauspiel die Wirklichkeitserfahrung der Florentiner prägte, sei es wahrscheinlich, dass auch Donatello sich bei der Gestaltung seiner Propheten von den "wirklichen" Propheten der Schauspiele leiten ließ. Dabei übernahm er diese nicht einfach als Vorbilder, sondern gestaltete sie nach eigenen künstlerischen Vorstellungen um (215ff.). Damit bleibt die Formfindung, entgegen der erklärten Absicht des Autors, doch unerklärt und ist wieder auf das Genie des Künstlers zurückgeführt.
Der Versuch des Autors, eindeutige Positionen aufzubauen, stellt sich als Handicap heraus, da sich dadurch unhaltbare Gegenpositionen wie scholastisch versus kommunal oder kommunale versus ikonographische Tradition und versus künstlerische Umsetzung ergeben. Einem komplexen Kontext, wie ihn der Florentiner Comune darstellte, der bei Vollendung des Prophetenprogramms, 1436, nicht mehr dem von 1415 glich, werden diese Vorstellungen kaum gerecht.
Michael Lingohr