Eberhard Kolb: Gustav Stresemann, München: C.H.Beck 2003, 128 S., ISBN 978-3-406-48015-7, EUR 7,90
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John P. Birkelund: Gustav Stresemann. Patriot und Staatsmann. Eine Biografie. Aus dem amerikanischen Englisch von Martin Ruf, Hamburg: Europa Verlag 2003, 528 S., 16 Seiten s/w-Abb., ISBN 978-3-203-75511-3, EUR 29,90
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Jonathan Wright: Gustav Stresemann. Weimar's Greatest Statesman, Oxford: Oxford University Press 2004, xvii + 569 S., 26 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-927329-4, EUR 21,99
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Drei innerhalb weniger Monate erschienene Bücher von insgesamt über 1.200 Seiten mit dem gleichen Haupttitel machen noch keine "Stresemann-Biografie-Welle" aus; sie verdeutlichen aber das ungebrochene und gar wieder verstärkte Interesse an Stresemann (vergleiche auch sehepunkte 4 [2004], Nr. 1). Im Fazit sind sich die drei Autoren dabei erstaunlich einig und spiegeln so den weitreichenden Konsens, der in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelt wurde und frühere, weit kritischere Positionen abgelöst hat: Er war der bedeutendste Politiker der Weimarer Republik - und zwar nicht nur wegen seiner Außenpolitik, sondern auch von seiner Persönlichkeit her und wegen seines Verständnisses von Politik in dieser parlamentarischen Demokratie - eben "Weimar's Greatest Statesman", wie es Wright im Untertitel benennt.
In der Disposition, wohl auch im Hinblick auf den anvisierten Leserkreis handelt es sich dagegen um drei ganz unterschiedliche Arbeiten:
Eberhard Kolb hat die gemäß dem Reihenkonzept ohne Anmerkungen verfasste kleine Biografie äußerst flüssig geschrieben und sie trotz aller Komprimierung hervorragend lesbar gestaltet. Einem Prolog über das Staatsbegräbnis für Stresemann von 1929, in dem Kolb die ganz zu Ende des Buchs wieder aufgegriffene zeitgenössische Wertung "Mehr als ein Verlust: ein Unglück" zitiert und damit den Interpretationsrahmen vorgibt, folgen sechs vom Umfang her ähnliche Kapitel zu Jugend und Ausbildung, zu den frühen Berufs- und Politikerjahren, zum Ersten Weltkrieg, zu den Nachkriegsjahren mit Parteineugründung und Parteiführung, zu Stresemanns Kanzlerschaft 1923 und zu seiner Außenministerzeit bis zum Tod 1929. Wegen des vorgegebenen Umfangs muss Kolb über manche Lebensphase in groben Zügen hinweggehen; an anderen Stellen aber hält er inne, um in kleineren Exkursen auch einige Sackgassen älterer Forschung zu korrigieren oder zu relativieren, etwa über Stresemanns Position im Ersten Weltkrieg, über seine Rolle bei der fehlgeschlagenen Gründung einer liberalen Gesamtpartei im Spätjahr 1918 oder über das so lange Zeit gesuchte angebliche "Damaskus", bei dem Stresemann zur Republik bekehrt worden sein soll. Wer sich kurz und knapp und mit Lesevergnügen über den aktuellen Stand der Stresemann-Forschung in ihren Grundlinien informieren will, ist mit dieser kleinen Biografie exzellent bedient.
Auch John P. Birkelunds wesentlich umfangreichere Lebensbeschreibung kann man guten Gewissens einem breiteren Publikum zur Lektüre empfehlen. Trotz einiger unbedeutender kleiner Fehler und Ungenauigkeiten, teilweise möglicherweise der Übersetzung geschuldet, hat der ehemalige Marineoffizier und spätere Geschäftsmann Birkelund eine lebendige, alles in allem zuverlässige und den Forschungsstand berücksichtigende Biografie vorgelegt. Gelegentlich greift sie über ihr Thema hinaus, etwa wenn Ereignisse der Wilhelminischen Zeit oder der Weimarer Republik geschildert werden, bei denen Stresemann kein unmittelbarer Akteur war; aber Birkelund hat eben auch viel Platz, um zum Beispiel innere Entwicklungen der Weimarer Republik darzustellen: Er kann etwa die gelegentlich vernachlässigte innenpolitische Tätigkeit Stresemanns, den er zu Recht als einen der ersten Berufspolitiker im Max Weber'schen Sinne bereits vor dem Ersten Weltkrieg darstellt, ebenso breit schildern wie insbesondere dessen ständige Auseinandersetzungen mit seiner eigenen Partei, der DVP, die er auf dem Kurs der Mitte zu halten und damit als integrative Kraft zu etablieren suchte. Somit eignet sich die Biographie auch für denjenigen zur Lektüre, der die politische Geschichte dieser Republik in ihren vielfältigen Facetten nicht ohnehin präsent hat.
Wie Kolb beginnt auch Birkelund - und zwar bereits auf dem Einbandfoto - mit dem Leichenzug von 1929, und gegen Ende wird Golo Manns Erkenntnis zitiert: "Ein Mensch ist vieles auf einmal, aber das, wozu er sich entwickelt und erhebt, wiegt mehr als das, was er von Anfang an war und nie ganz preisgeben konnte." Entsprechend liegt vom Umfang her der Schwerpunkt auf den Jahren der Weimarer Republik (und da noch einmal auf dem Zeitraum 1923-1925), ohne dass Jugend und frühere politische Tätigkeit außer Acht gelassen würden.
Was bei Birkelund vielleicht etwas kurz kommt, nämlich die Jahre nach 1925, umfasst bei Wright, dem Untertitel entsprechend, einen sehr großen Teil seines Stresemann-Buches, das weniger eine Biographie im umfassenden Sinne, als vielmehr eine äußerst detaillierte biografische Studie über den Politiker Stresemann (und in der gesamten zweiten Hälfte des Außenministers der Jahre 1924-1929) bietet. Deswegen gelangt Wright bereits auf Seite 66 in den Ersten Weltkrieg - die Jahre der Jugend, des frühen Erwachsenen- und Politikerlebens werden vergleichsweise kurz abgehandelt. Intensiver wird dann Stresemanns Politik im Ersten Weltkrieg und die Entwicklung hin zum vermeintlichen Ende seiner Karriere mit dem 3. Oktober 1918, der Parlamentarisierung und dem gleichzeitigen Eingeständnis der deutschen Niederlage, geschildert.
"The central challenge to a biographer of Stresemann is to interpret his development from wartime annexationist to the European Statesman of 1925 -9" - so leitet Wright den umfangreichen Nachkriegsteil ein, und er stellt sich der Herausforderung: Er findet die Lösung nicht mehr in einem Saulus-Paulus-Erlebnis, wie es frühere Biografen gerne interpretierten, sondern in der rationalen und durchaus realistischen schrittweisen Erkenntnis eines zeitlebens lernfähigen Politikers, dass das Scheitern im Weltkrieg wesentlich eine Frage des schwächeren politischen Systems gewesen sei, demgegenüber die parlamentarischen Systeme in Frankreich, Großbritannien und den USA sich schließlich als die leistungsfähigeren erwiesen hatten. Sodann findet er sie in der wachsenden Identifikation Stresemanns mit der Republik und ihren Institutionen, die mit dem eindeutigen Bekenntnis zur Verfassung nach den Morden an Erzberger und Rathenau ihren Abschluss findet. Und schließlich in der Fähigkeit Stresemanns, sich auf neue Situationen flexibel einzustellen: Wollte man Politik mitgestalten, machte es wenig Sinn, nur dem Alten nachzutrauern, wenn denn nun einmal die Monarchie gestürzt und die Republik installiert war. Wenn Stresemann in den Jahren 1919/20 dennoch vor allem durch heftige Attacken gegen die republiktragenden Parteien auffiel, so war dies vornehmlich Parteipolitik und der Versuch, in der konsequenten Oppositionsrolle sich für die nächste Wahl (und danach die Regierungsbeteiligung) zu empfehlen. Und diese Rolle - der Versuch, eine Koalition der Mitte, möglichst unter Einschluss der SPD, zu bilden - ist der entscheidende Beitrag Stresemanns zur Stabilisierung der Weimarer Republik in ihren mittleren Jahren gewesen, eine Stabilisierung, die allerdings seinen Tod nur kurz überdauerte. Diese Politik ist nur zu verstehen auf dem Hintergrund seiner Vorstellung, dass eine gesellschaftliche Integration aller Klassen, die er mit dem später vielfach missbrauchten Begriff der "Volksgemeinschaft" umriss, für die Entwicklung einer (im weiteren Sinne) liberalen Gesellschaft vonnöten sei. Zuvor hatte er die Republik jedoch überhaupt erst gerettet, wie Wright noch einmal für die kritischen Tage des Herbsts 1923 detailliert vorführt: Alle Versuche, die Verfassung zumindest faktisch außer Kraft zu setzen, die von Seeckt und anderen mit ihren "Direktorats-" Ideen ausgingen, und auch die Gefahren der Abspaltung im Rheinland, die kommunistische Bedrohung und die bayerischen Widersetzlichkeiten wehrte er mit großem taktischem Geschick - teilweise auch mit Glück - ab, und das wohl nicht nur aus persönlichen Motiven, sondern auch im sicheren Wissen, dass die Folge ein Auseinanderbrechen des Reiches sein würde.
In der zweiten Hälfte des Buches, das Stresemann als Außenminister gewidmet ist, kann Wright auf inzwischen breiten Pfaden wandeln. Doch auch hier gelingt ihm - nicht zuletzt wegen seiner ausgezeichneten Quellenkenntnis und seiner sprachlichen Prägnanz - eine überzeugenden Präsentation; er gibt dabei nicht vor, alle alten Fragen um die letzten persönlichen Ziele der Stresemannschen "Verständigungspolitik" zu lösen; aber er bewegt sich doch in dem von Peter Krüger vor fast 20 Jahren gelegten Interpretationsrahmen: Unabhängig von den letzten Zielen der Ausgleichspolitik, die zweifelsfrei auch umfangreiche revisionistische Komponenten enthielt, wirkte sie doch hauptsächlich stabilisierend auf die fragile europäische Staatenordnung, und umgekehrt mussten die friedlichen Methoden die Ziele beeinflussen und letztlich einschränken.
Wolfgang Elz