Jürgen Luh: Kriegskunst in Europa 1650-1800, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, VII + 298 S., 4 Farb-, 32 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-13703-8, EUR 44,90
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Seit den 1980er-Jahren hat die Beschäftigung mit dem Militärwesen in der deutschen Frühneuzeitforschung eine stetig steigende Konjunktur erfahren. Ein Phänomen, das in erster Linie auf der erfolgreichen Verbindung von Sozial- und Militärgeschichte basiert. Abseits dieser "Sozialgeschichte des Militärs" herrschen allerdings hier zu Lande immer noch Berührungsängste gegenüber bestimmten Aspekten des Militärischen - eine Folge der fast vollständigen Vernachlässigung, mit der die Historiker der frühen Bundesrepublik diese Disziplin straften - als durchaus verständliche Reaktion auf die mehrheitlich allem Militärischen unkritisch bis begeistert gegenüberstehende Geschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Entsprechend wird der Krieg als solcher in deutschen akademischen Publikationen eher ausgeklammert. Gegenstände wie Strategie, Gefechtstaktik und Waffentechnik werden hier zu Lande nur ungern thematisiert.
In diese Lücke stößt nun der Berliner Historiker Jürgen Luh mit seiner Monografie zur Kriegskunst in Europa während der Epoche des Ancien Régime. Nachdem er bereits im Jahr 2000 eine Studie über "Ancien Régime Warfare and the Military Revolution" [1] vorgelegt hat, beruft er sich erneut auf die renommierten Militärhistoriker Michael Roberts, Geoffrey Parker und Jeremy Black, die die These von der frühneuzeitlichen "Militärischen Revolution" konzipiert beziehungsweise weiter ausgestaltet haben. Trotzdem steht Luh diesen Autoren keineswegs unkritisch gegenüber. Während der Ansatz der "Military Revolution" grundsätzlich die militärhistorische Entwicklung als Fortschrittsgeschichte auffasst, betrachtet Luh den Modernisierungsgedanken in Bezug auf die Heere des Absolutismus äußerst skeptisch. Er äußert massive Zweifel am Verbesserungs- und Innovationswillen des Ancien Régime. Veränderungen seien vielmehr bewusst unterblieben. Entsprechend stellt seine Studie die Frage nach den Innovationshemmnissen und versucht "davon ausgehend die Logik der militärischen Investitionen im Ancien Régime einer neuerlichen Prüfung zu unterziehen" (9).
Das Gesagte macht bereits deutlich, dass es sich bei diesem Werk keineswegs um eine Einführungs- beziehungsweise Überblicksdarstellung zur Kriegführung des Ancien Régime handelt, wie der Titel vorgibt. Vielmehr wendet sich hier ein ausgewiesener Fachmann an ein interessiertes Fachpublikum, um bereits bekannte Phänomene durch eine anders geartete Betrachtungsweise in neuem Licht erscheinen zu lassen. Ausgangspunkt bildet dabei die Grundprämisse, dass Krieg und Kriegführung im Zeitalter des Absolutismus konstitutiver Bestandteil der adligen Lebenswelt beziehungsweise der fürstlichen Herrschaft waren und demzufolge von deren Normen und Eigenheiten beeinflusst beziehungsweise bestimmt wurden.
Davon ausgehend beschäftigt sich die Studie zunächst mit denjenigen Elementen militärischer Operationen, die von der bisherigen Forschung als Gradmesser der Modernisierung und Rationalisierung des Kriegswesens erkannt wurden. Im Einzelnen sind dies die Bereiche der Heeresversorgung (13-80), des Belagerungskrieges in der Ära polygonaler Festungswerke (81-128) sowie der waffentechnischen und gefechtstaktischen Entwicklungen (129-175). Der vierte Abschnitt dagegen thematisiert Spielraum und Grenzen militärischer Innovation in einer ständisch-hierarchisch gegliederten Gesellschaft, in der Fürst und Adel Militär und Kriegführung als ihr ureigenes Betätigungsfeld betrachteten (177-218). Die Ergebnisse der einzelnen Abschnitte werden schließlich in den Schlussfolgerungen (219-223) zu einer neuen Interpretation des absolutistischen Kriegswesens verbunden. Das Werk schließt mit einem Quellenanhang (225-252), in dem einige für die Argumentation exemplarische Archivalien ediert sind.
Zum Einstieg wird der Blick auf Versorgung und Unterhalt der Truppen geworfen, wobei sich die einzelnen Kapitel der Heeresfinanzierung, dem Magazin-, dem Bäckerei-, dem Transport- sowie dem Medizinalwesen widmen. Luh kommt zum Ergebnis, dass eine regelmäßige Versorgung der Heere nicht möglich war. Anders als die bisherige Forschung vermag der Autor keine Veränderungen gegenüber den Zuständen des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts zu erkennen. Nach wie vor waren die Soldaten zu einem Großteil auf Eigenversorgung angewiesen, was immer wieder in Requirierungen und Plünderungen ausartete.
Besonders erfreulich ist die Beschäftigung mit dem Medizinalwesen, das in der Regel von der militärgeschichtlichen Forschung entweder geflissentlich übergangen oder nur rudimentär behandelt wird. Hier wird es einer kritischen Analyse unterzogen, die neben der Kranken- auch die Verwundetenversorgung mit einschließt. Treffend werden dabei die hauptsächlichen Mängel in diesem Bereich herausgestellt. Einspruch muss lediglich in Bezug auf die abschließend geäußerte Vermutung erhoben werden, dass man Versehrte aus optischen Gründen nicht mehr in das Heer integrieren wollte. Die quellenmäßig belegbare Tatsache, dass viele Soldaten trotz schwerer Verwundung jahrelang im Felddienst belassen wurden, sowie die große Zahl der im Garnisons- und Festungsdienst eingesetzten Invalidenformationen sprechen eine andere Sprache.
Der folgende Abschnitt behandelt den Bereich des Festungskrieges. Deutlich wird dabei, dass nicht die wenigen großen Schlachten, sondern die zahlreichen Festungen und die damit verbundenen häufigen Belagerungen das Kriegsgeschehen in der Epoche des Ancien Régime prägten. Untermauert wird dies durch eine Fülle geografisch und zeitlich breit gestreuter Beispiele. So blieb die Wertschätzung von Befestigungsanlagen durchaus nicht auf Westeuropa beschränkt. Ähnliche Phänomene lassen sich unter anderem für die preußische Sicherung Schlesiens sowie für die osmanischen Verteidigungsbemühungen zeigen, durch die selbst in den weiten Ebenen Polens und der heutigen Ukraine ein Bewegungskrieg unmöglich wurde.
Im nächsten Abschnitt dreht sich alles um die Frage nach der Effektivität der Handfeuerwaffen und ihrem daraus resultierenden Einfluss auf die Kriegführung. Konstatiert wird die mangelnde Effektivität der Flinte, die die Standardwaffe der Infanterie des Ancien Régime darstellte. Ihr gegenüber wird sowohl die schlachtentscheidende Bedeutung der Hieb- und Stichwaffen - das heißt des Kavalleriesäbels und des Infanteriebajonetts - als auch die Treffgenauigkeit der Büchse betont. Dass Letztere die Flinte trotzdem nicht ablösen konnte, sieht der Autor hauptsächlich in der Gesellschaftsordnung des Zeitalters begründet. Die Tatsache, dass die mit Büchsen ausgestatteten Schützen außerhalb der linearen Gefechtsordnung und damit auch außerhalb der hierarchischen Befehlskette nach eigenem Gutdünken handelten, habe diese Waffe zu einer Gefahr für die Ordnung der ständischen Gesellschaft gemacht - zumal ihre Opfer überdurchschnittlich oft adelige Offiziere waren. Werden hier auch die waffentechnischen Gründe unterschätzt, die gegen einen Masseneinsatz der Büchse sprachen, so wird im Allgemeinen klar, dass die "Revolution der Feuerkraft", die einen wichtigen Teil der "Military Revolution" darstellt, weniger folgenschwer war als gemeinhin angenommen.
Im vierten und letzten Abschnitt präsentiert der Autor eine neue Sichtweise auf das Militärwesen des Absolutismus. Dabei orientiert er sich an den Normen der fürstlichen Gesellschaft und nicht an den die bisherige Forschung dominierenden Gesichtspunkten von Rationalisierung und Modernisierung. Auf diese Weise vermag die Studie eindrucksvoll zu demonstrieren, dass gewisse Normen der adeligen Führungsschicht wie Ästhetik und Ordnung, Stand und Ehre auch in bestimmten Bereichen des Militärwesens eine bedeutende Rolle spielten. Dies betrifft die hier behandelten Gebiete der Uniformierung und des Exerzierens, in denen die Demonstration von Macht und Rang des jeweiligen Fürsten den Vorrang vor militärischen Zweckmäßigkeitserwägungen besaß. Am Ende steht die Feststellung, dass die zeittypischen Merkmale von Ästhetizismus und Standesdenken im absolutistischen Heerwesen unverkennbar Priorität vor militärischer Effizienz genossen.
Wurde das Verhältnis von Militär und Gesellschaft in der deutschen Frühneuzeitforschung bisher eher in ihrer Interaktion zu Friedenszeiten thematisiert, so unternimmt Jürgen Luh den Versuch auch die Kriegführung in größere gesellschaftliche Zusammenhänge einzuordnen. So dürfte seine in den Schlussfolgerungen geäußerte Vermutung, dass die militärische Rationalität des Zeitalters in einer Verbindung des Strebens nach größerer Effizienz mit den Wertmaßstäben adeliger Lebenskultur bestanden habe, der Realität recht nahe kommen. Freilich entgeht er an anderen Stellen nicht der Gefahr, seinen Ansatz zu sehr zu verallgemeinern und damit zu überdehnen. Wer eine Dominanz fürstlich-adeligen Standesbewusstseins in allen Bereichen der Kriegführung zu erkennen glaubt, der ersetzt letztlich nur ein einseitiges Interpretationsmuster durch ein anderes.
Jürgen Luh hat insgesamt ein anschaulich geschriebenes, gut lesbares und insbesondere durch seine Quellennähe bestechendes Buch geschrieben, das eine hier zu Lande bisher wenig beachtete Thematik aufgreift. An einigen Stellen stört die zu geringe Bandbreite der Beispiele. Diese bewegen sich etwas häufig im Umkreis der drei Schlesischen Kriege, wodurch die europäische Dimension des Werkes ab und an verloren zu gehen droht. Auch geht die kurze und knappe Darstellungsweise, die manchmal beeindruckend präzise ist, stellenweise zulasten einer schlüssigen Argumentation. Trotzdem sei das Werk allen militärgeschichtlich Interessierten zur Lektüre dringend empfohlen. Schließlich hat sich seit Hans Delbrück kein deutscher Historiker mehr in derart anregender Weise mit dieser Thematik beschäftigt.
Anmerkung:
[1] Jürgen Luh: Ancien Régime Warfare and the Military Revolution. A Study, Groningen 2000.
Michael Reiff