Friedrich Lotter: Völkerverschiebungen im Ostalpen-Mitteldonau-Raum zwischen Antike und Mittelalter (375-600) (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde; Bd. 39), Berlin: De Gruyter 2003, 282 S., ISBN 978-3-11-017855-5, EUR 78,00
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Die Niederlage des Valens bei Adrianopel 378 hat zunächst den östlichen Teil des Imperium Romanum am schwersten getroffen, da in jener Schlacht etwa zwei Drittel des eingesetzten römischen Heeres aufgerieben wurden und die Provinzen südlich der Donau verloren zu sein schienen. Der Niedergang nach dem Tod des Theodosius I. (395) führte aber langfristig im Westen zur Bildung eigenständiger Germanenreiche in ehemals römischen Gebieten. Große Bedeutung hatten in diesem Prozess die wechselnden Machtverhältnisse im illyrisch-pannonischen Raum, der wegen seiner strategischen Lage als wichtige 'Bastion' für die Reichsverteidigung zwischen den beiden römischen 'Regierungen' umstritten war. Das 'Szenario der Völkerverschiebungen' in diesen Gebieten vom 4. bis zum Ende des 6. Jahrhunderts wird von Lotter unter dem Aspekt der Auswirkungen auf den zunehmenden Machtverlust und Zerfall des 'Westreiches' ausführlich erörtert. Er skizziert nach einer Einführung in die Thematik in Kapitel II zunächst den Verlauf der Konflikte zwischen dem weströmischen und dem oströmischen Reich um die Kontrolle über die pannonische Diözese. Überzeugend ist hier seine Stellungnahme zu den Kontroversen in der umstrittenen Frage der beiden Ernennungen Alarichs zum Heermeister der illyrischen Präfektur. Lotter legt dar, dass Alarich diese Position 397 durch die Reichsregierung des Ostens erhielt, hierdurch der Bruch zwischen beiden römischen Regierungen herbeigeführt wurde und Stilicho den Goten 404 oder 405 zum magister militum per Illyricum für das Westreich ernennen ließ (12).
Auf breiter Basis behandelt Lotter des Weiteren die allmähliche Auflösung der Zivil- und Militärverwaltung der Provinzen des Ostalpen-Mitteldonau-Raumes im Kontext der Verteidigung der Balkangebiete im 4. Jahrhundert. Wünschenswert wären in dem betreffenden Kapitel III nähere Erläuterungen zu den Verträgen des Theodosius I. mit den terwingischen Goten 382 gewesen. Eine dauerhafte Koexistenz von 'Goten' und 'Reichsangehörigen' war mit diesem Vertragswerk nicht gesichert. Nach dem Tod des Theodosius I. (am 17. Januar 395) begann eine neue Phase der römisch-gotischen Beziehungen. Sie waren überschattet von der Invasion hunnischer Verbände, die im Winter 394/95 über die zugefrorene Donau vorstießen und ihre Raids bis nach Thrakien ausweiteten.
Erfreulich ist Lotters Berücksichtigung der kirchlichen Organisation und ihres Funktionswandels vom 4. bis zum 6. Jahrhundert im Kapitel IV. Er zieht in diesem Zusammenhang neben schriftlichen Quellen auch archäologische Befunde als Zeugnisse für spätantike Bischofssitze heran.
Das zentrale Kapitel V handelt von der Entstehung und von zahlreichen Wanderungsbewegungen und Aktionen bedeutender Großgruppen wie der Terwingen / Visigoten, der Greutungen / Ostrogoten, der so genannten ostrogotisch-hunnisch-alanischen Dreivölkergruppe des Alatheus-Saphrax-Verbandes, der Langobarden, der Bajuwaren und Awaren sowie auch slawischer Ethnien. Die von Lotter übernommene übliche Subsumierung dieser Zusammenschlüsse unter den Oberbegriff der "gentilen Verbände" ist allerdings problematisch. Es handelte sich nicht um fest gefügte Einheiten. Die Krieger und deren Angehörige in diesen Großgruppen konnten sich in der Regel nicht ausnahmslos auf eine gemeinsame Abkunft berufen. Exemplarisch ist die 'Ethnogenese' der Westgoten Alarichs, die erst auf dem Italienzug erkennbar wird. Lotter untersucht diese Entwicklung um 400 recht ausführlich und unterstreicht, dass während der westgotischen 'Ethnogenese' im Verlauf der Wanderungen der 'Alarich-Goten' in deren Führungsgruppen auch zahlreiche Krieger "greutungisch-ostgotischer Herkunft" aufgenommen und in den visigotischen Kern integriert wurden (96). Ein Identitätswechsel war durch einen Anschluss an eine andere Gefolgschaftsgruppe ebenso möglich wie beispielsweise der Zerfall des genannten 'Dreivölkerverbandes'. Lotters Ausführungen zu dieser Thematik zeigen überdies, dass es problematisch ist, eine schlüssige 'Traditionslinie' von dem terwingisch-visigotischen Verband des 4. Jahrhunderts bis zu den Gründern des tolosanischen und des toledanischen Reiches im 5. bis 6. Jahrhundert zu ziehen.
Gleiches gilt mutatis mutandis für die Ethnogenese der Ostgoten, deren Aktionen bis zum Zug Theoderichs des Großen nach Italien 488/89 Lotter ebenso minuziös erläutert wie die Wanderungsbewegungen der so genannten Donausueben und der Langobarden, Bajuwaren, Awaren und einer Reihe slawischer Gruppen. Informativ sind in diesem Zusammenhang nicht zuletzt seine Ausführungen zur Gesellschaftsstruktur der Langobarden, die aus Sippenverbänden (faras) bestanden (149). Die faras bildeten zugleich militärische Einheiten. Offenbar war diese Organisationsform eine wesentliche Voraussetzung für die Expansion der Langobarden im 6. Jahrhundert.
An die Darstellung von Ereignisketten schließt Lotter immer wieder gründliche Analysen weit reichender Folgen bedeutender Entscheidungen an. Bemerkenswert sind etwa seine Reflexionen zur Vernichtung des Gepidenreiches durch Awaren und Langobarden und zu der hierdurch verursachten Störung der Kräfteverhältnisse im Donauraum, die für Byzanz erhebliche Konsequenzen hatte und nicht nur den Osten schwächte, sondern auch dazu führte, dass durch den folgenden Italienzug der Langobarden unter ihrem König Alboin die Phase der etwa zweihundert Jahre währenden Dominanz germanischer Großgruppen im Mitteldonau-Karpathen-Raum ihr Ende fand. Das entstandene Machtvakuum ermöglichte letztlich eine großflächige Landnahme durch Reitervölker und Slawen.
Gute Informationen bietet Lotter auch in seinen Ausführungen zu den Bevölkerungsverlusten der römischen Provinzialen und zur romanischen 'Restbevölkerung'. Er legt dar, dass es in den von ihm untersuchten Gebieten in der Spätantike und im Übergang zum Mittelalter zu komplizierten Bevölkerungsverschiebungen, Absatzbewegungen, Verschmelzungen vordringender Ethnien und ansässiger Gruppen sowie auch zu Verschleppungen und zu Vertreibungen kam. In den einzelnen Regionen verlief der Transformationsprozess zweifellos durchaus unterschiedlich. So bestand in Ufernorikum in der von Eugippius in der Vita Severini geschilderten Phase etwa von 455-488 keineswegs eine kontinuierliche Bedrohung, und im ufernorischen Binnenland konnte eine romanische Restbevölkerung noch in der 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts gewisse römische Traditionen wahren (184). Anders war freilich die Situation im Ostteil Ufernorikums nach der von Eugippius beschriebenen Evakuierung der Provinzialen. Für die gesamte pannonische Diözese waren auf jeden Fall die schon erwähnte Beseitigung der Herrschaft der Gepiden und die folgende Abwanderung der Langobarden scharfe Zäsuren. Der Fall Sirmiums 582 forcierte schließlich im mittleren Donauraum die slawische Landnahme, während andererseits die Bajuwaren durch die strategische Lage ihrer Siedlungsräume erheblich an Bedeutung gewannen.
In der Schlussbetrachtung nimmt Lotter zu dem unerschöpflichen Thema der Ursachen des Niedergangs Roms Stellung. Er geht in Sonderheit auf Auswirkungen der von ihm erörterten Ereignisse und Prozesse ein, zieht darüber hinaus aber auch generell Möglichkeiten und Grenzen der Akkulturation zuwandernder 'barbarischer' Ethnien in Betracht. Hierbei geht er davon aus, dass in den ersten Jahrhunderten des Prinzipats die Assimilationskraft Roms in der Lage gewesen sei, germanische Elemente immer wieder zu integrieren. Seit den letzten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts sei aber der prinzipiell mögliche Prozess der Akkulturation "durch die Geschlossenheit und Größe der aufgenommenen Verbände vereitelt" worden (199). Lotter verweist darauf, dass am mittleren und unteren Donaulimes innerhalb der Reichsgrenzen mehr oder weniger autonome Stammesgruppen sich "aus dem Geltungsbereich römischer Herrschaft und Verwaltung" herausgelöst haben (201). Dies allein reicht freilich zur Deutung des Niedergangs und des Endes des weströmischen Kaisertums nicht aus.
Zu beachten ist zunächst, dass nach dem Fall Roms 410 der Kaiserhof des Westens nur noch einen erheblich eingeschränkten Machtbereich besaß und zudem geschwächt war durch Rivalitäten verschiedener Gruppen in der Umgebung des Kaisers. Zuvor hatten bereits Vandalen, Alanen und Sueben weite Teile Galliens geplündert, nachdem dort römische Einheiten, die Italien gegen den drohenden Einfall der Goten Alarichs schützen sollten, abgezogen worden waren. Dadurch entstanden im Westen des Reiches geradezu chaotische Verhältnisse. Der damalige Streit zwischen den beiden Kaiserhöfen um Illyrien demonstriert, dass die Regierungen jeweils ihre eigenen Interessen verfolgten. So kulminierte eine Entwicklung, die sich bereits seit langem angebahnt hatte. Durch die Urbanisierung der römischen Grenzprovinzen waren diese Gebiete für Invasoren immer attraktiver geworden. Der daraus resultierende Druck auf die Randzonen des Imperium Romanum sowie die notwendige Verstärkung des Grenzschutzes forcierten den Trend zur Regionalisierung und Dezentralisierung. Ein eindeutiges Signal waren 382 die schon genannten Gotenverträge des Theodosius I. Der Kaiser tolerierte die Ansiedlung eines größeren barbarischen Verbandes, der unter Wahrung der eigenen 'Gesetze' auf römischem Territorium zur Waffenhilfe verpflichtet wurde. Diese Maßnahme verdeutlicht die strukturellen Defizite der römischen Reichsorganisation. Die Zentrale war im Grunde nicht mehr in der Lage, die mehr als 50 Millionen 'Reichsbewohner' effektiv mit dem eigenen militärischen Apparat gegen organisierte Raubzüge großen Stils zu schützen. In der Folgezeit schrumpfte vor allem in der Westhälfte des Imperiums kontinuierlich das vom Kaiserhof noch kontrollierte Territorium durch die Bildung eigenständiger Herrschaften germanischer Könige, die allerdings versuchten, zumindest Teile des spätantiken imperialen Apparates zu übernehmen.
Lotter hat am Beispiel des Ostalpen- und Mitteldonau-Raumes Teilaspekte des großen Transformationsprozesses einer von mediterranen Kulturen geprägten Lebenswelt sowie wesentliche Voraussetzungen für die historisch folgenreiche Landnahme germanischer und slawischer Ethnien in ehemals römisch beherrschten Gebieten kenntnisreich geschildert.
Karl-Wilhelm Welwei