Maurice Halbwachs: Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis. Hrsg. u. übers. v. Stephan Egger (= Maurice Halbwachs in der édition discours; Bd. 6), Konstanz: UVK 2003, 268 S., ISBN 978-3-89669-894-0, EUR 24,00
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"Stätten der Verkündigung im Heiligen Land" lautet etwas unscharf der deutsche Titel der "Topographie légendaire des Évangiles en Terre Sainte" des französischen Soziologen Maurice Halbwachs (1877-1945). Was im Deutschen so erst im Untertitel als "Studie zum kollektiven Gedächtnis" zu erkennen ist, ist das einzige Werk des "Erfinders" des sozialen Gedächtnisses, das sich dessen kulturellen Manifestationen widmet. Immer wieder hat die aktuelle Gedächtnisforschung auf die Bedeutung des bereits 1941 erschienenen Buchs hingewiesen [1], gelesen aber hat es kaum einer derjenigen, die sich in irgendeiner Weise kulturwissenschaftlich mit den Komplexen "Gedächtnis" und "Erinnerung" und den Medien ihrer Übertragung auseinandersetzen und dafür in den Begrifflichkeiten Halbwachs' argumentieren. Nach 62 Jahren liegt das Buch nun in deutscher Sprache vor, als vorletzter Band einer auf sieben Bände angelegten, von Stephan Egger und Franz Schultheis herausgegebenen Werkausgabe "Maurice Halbwachs in der édition discours" des Konstanzer Universitätsverlags, die im Herbst letzten Jahres mit einer Sammlung französischer Sekundärtexte ihren Abschluss fand.
Die historiografische Bedeutung des Buchs ist auf den ersten Blick erkennbar. Als Inventar der Orte, "die das christliche Gedächtnis als bedeutungsvoll empfindet" (13), erinnert es den heutigen Leser an die modernen Projekte zu nationalen Erinnerungsorten. Wenn Halbwachs betont, dass er die Traditionen, die sich mit diesen Orten verbinden, als "kollektive Glaubensvorstellungen" in ihrem historischen Wandel untersuchen will (14), verspricht dies ein interessantes mentalitätsgeschichtliches Programm. Mentale Veränderungen sollen über ihre Materialisierungen in Raum und Zeit untersucht werden, lautet das anspruchsvolle Vorhaben: "Die Heiligen Stätten erinnern nicht an von zeitgenössischen Zeugen beglaubigte Tatsachen, sondern an Überzeugungen" (162).
Grundlage für die Erinnerung der Christen sind die vier Evangelien. Halbwachs versteht sie als früheste Dokumente kollektiver christlicher Erinnerungsarbeit und verfolgt die Präzisierung der in den Evangelien oft widersprüchlichen Zeit- und Ortsangaben, die zumeist nicht einmal Anhaltspunkte für exakte Lokalisierungen geben, über die Jahrhunderte hinweg. Im kollektiven Gedächtnis der Christen ist der Ort, an dem Jesus geboren wurde, ebenso präzise bestimmt wie der, an dem er mit seinen Jüngern das letzte Abendmahl feierte. Halbwachs' Quelle für diese Zuordnungsprozesse sind Pilgerberichte. Aufgrund ihres unpersönlichen Charakters sind diese hervorragend geeignet zur Erforschung des kollektiven Gedächtnisses. Sie stammen von "Mitgliedern einer religiösen Masse". Ihnen fehlt jede persönliche Färbung des Erzählten (15).
Wenn Halbwachs seinen Leser dann in sieben Kapiteln an die Orte führt, wo die Ereignisse stattgefunden haben sollen, von denen die Evangelien berichten, droht die eingangs bestimmte Meta-Ebene nicht selten zu Gunsten einer exzessiven Materialpräsentation aus dem Blick zu geraten. Von Bethlehem führt der Weg nach Jerusalem - mit den Stationen Abendmahlssaal / Davidsgrab, Richtsaal des Pilatus, Via Dolorosa und Ölberg - über Nazareth schließlich an den See Genezareth. Halbwachs' seitenlange und unkommentierte Zitate aus Primär- und Sekundärliteratur erschweren die Lesbarkeit des Textes ungemein, die durch die an vielen Stellen angestrengt und gekünstelt wirkende Übersetzung zusätzlich strapaziert wird. Für denjenigen, der mit der Zuordnung des biblischen Personals zu den einzelnen Geschichten Mühe hat, dürfte die Lektüre ohnehin beschwerlich sein. Fortgeschrittene Bibelkenntnisse sind, wenn nicht unabdingbar, so doch ausgesprochen hilfreich bei der Lektüre eines Buchs, das seinen Leser oft allein lässt im Gestrüpp einander widersprechender Überlieferungen und die Systematik der Gedankengänge erst im Schlusswort nachliefert.
So wird sich der eilige Leser auf das Schlusswort beschränken, in dem Halbwachs seine Erkenntnisse über die Gesetze des kollektiven Gedächtnisses zusammenfasst. (154-211) Der Soziologe führt aus, dass abstrakte Wahrheiten, um erinnert zu werden, Bilder von Menschen und Orten annehmen müssen, und zeigt, wie mehrere Ereignisse an derselben Stelle zusammengelegt werden oder wie eine Ortsangabe sich verdoppelt: "Konzentration an einem Ort, Differenzierung im Raum, Dualität an entgegensetzten Stellen" seien die drei immer wieder zu beobachtenden Mechanismen der Verortung von Gruppenerinnerungen (193). Neben der räumlichen Logik folgt die Erinnerung auch einer zeitlichen Logik. Sie muss eine Aufzählung, eine Wiederholung ermöglichen. Ein Ereignis muss mit anderen eine Kette bilden, eine Gesamtgeschichte erzählen können (195 f.). Nachdrücklich vergleicht Halbwachs in dieser Hinsicht die einzelnen Stationen des Kreuzwegs mit den einzelnen Szenen der Französischen Revolution. "Das Drama muss sich in mehreren Akten abspielen". Sofort aber kehrt der Text zur Situation der Christen zurück. Aktualisierungen bietet Halbwachs nicht. Und auch wer allgemeine und schnell verwertbare Lehrsätze erwartet, wird enttäuscht.
Halbwachs' Projekt bleibt streng auf eine bestimmte Gruppe bezogen und nimmt seinen Ausgang von einem ausführlichen Studium der Quellen, in denen diese sich artikuliert. Wie der Soziologe das über Jahrhunderte angehäufte Material von Pilgern, Archäologen und Historikern sichtet, interpretiert und darüber Rechenschaft ablegt, mag kein Lesevergnügen sein, ist aber ein Lehrstück in Sachen Quellenkritik. Halbwachs' Studie darüber, wie die Erinnerungen einer Gruppe sich an bestimmte Orte heften, sich mit bestimmten Erzählungen verbinden und so Gemeinschaft und Identität stiften, ist immer konkret. Wie dabei die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses beschrieben und analysiert werden, wäre zuallererst in einer historiografischen Lektüre zu untersuchen.
Vergessen werden dürfte dabei allerdings nicht, wie das Nachwort Stephan Eggers zu Recht ausführt, dass Halbwachs seine Kategorie des "kollektiven Gedächtnisses" im Rahmen eines klar bestimmten soziologischen Programms entwickelt hat (219-268). Dass die soziologische Verortung des Gedächtniskonzepts bei Egger aber schließlich in eine Generalabrechnung mit kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Forschungen mündet, ist wenig produktiv. Es ist zwar nichts dagegen einzuwenden, die modernen Projekte zu Erinnerungsorten von den Überlegungen Halbwachs' abzurücken. Nur müsste dieser Abstand auch diskutiert und nicht lediglich in den Fußnoten behauptet werden. Aber vielleicht wäre gerade die Überprüfung ihrer "tools" die Aufgabe der Historiker? Mit der deutschen Übersetzung der "Topographie légendaire" liegt dafür nun eine entscheidende, wenn auch nicht einfach zu handhabende, Quelle vor.
Anmerkung:
[1] Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders. / Tonio Hölscher: Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, 9-19. Vgl. auch Gerald Echterhoff / Martin Saar (Hg.): Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, Konstanz 2002.
Anne Kwaschik