Gian Luca Potestà: Il tempo di Apocalisse. Vita di Gioacchino da Fiore (= Collezione storica), Bari / Roma: Editori Laterza 2004, 512 S., ISBN 978-88-420-7320-8, EUR 48,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Ingrid Baumgärtner / Piero Falchetta (a cura di): Venezia e la nuova oikoumene / Venedig und die neue Oikumene. Cartografia del Quattrocento / Kartographie im 15. Jahrhundert, Roma: Viella 2016
Markus Stock (ed.): Alexander the Great in the Middle Ages. Transcultural Perspectives, Toronto: University of Toronto Press 2016
Veronika Wieser / Christian Zolles / Catherine Feik u.a. (Hgg.): Abendländische Apokalyptik. Kompendium zur Genealogie der Endzeit, Berlin: Akademie Verlag 2013
Prophetisches Schrifttum wird bis heute in seiner Bedeutung als Quelle für die mittelalterliche Geschichte oftmals weit unterschätzt. Es ist in seinem ganzen Denken, in seiner ganzen Erscheinung unserer heutigen Zeit fremd, seine Inhalte erscheinen eher als Aberglaube oder abseitige Schwärmerei (uns Europäern - ganz anders als etwa in den USA oder auch im Orient). Im europäischen Mittelalter jedoch, also in unserer eigenen, gar nicht so lange zurückliegenden Geschichte, war all das den Menschen höchst vertraut, bildete einen selbstverständlichen und essenziellen Teil ihres Denken und Fühlens. Wenn sich die Fremdheit überwinden lässt, wenn es gelingt, Zugang zu diesen mentalen Regionen zu finden, dann ist ein großer Schritt ins Mittelalter, zu unseren Ahnen und damit einer zentralen Basis unserer Kultur getan. Just dieser Vermittlung von etwas scheinbar so ganz Abseitigem widmet sich - mit großem Erfolg - die vorliegende Biografie.
Allen drei Universalreligionen, gerade auch dem Christentum, ist der Gedanke eines göttlichen Planes wohlvertraut, einer Menschheitsgeschichte, die einen Anfang nahm im Schöpfungsakt Gottes und die ein Ende nehmen wird an einem Jüngsten Tag mit einem Weltgericht Gottes über die Menschheit. Auch die mittelalterlichen Christen waren von dieser Überzeugung tief durchdrungen und richteten ihr Leben und Wirken mehr oder weniger explizit auch an ihr aus. Gott hat, so weiter die Überzeugung, den Menschen geoffenbart, wie diese letztendliche Zukunft für sie aussehen wird (zentral ist hier vor allem die biblische Johannesapokalypse), er hat Zeichen gegeben und gibt sie weiterhin - aber wie das Gericht ausgehen wird, hat er den Menschen selbst überlassen. Diese Zeichen zu lesen ist also essenziell nicht nur für jeden Einzelnen, sondern vor allem für die Mächtigen, die ganze Völker lenken. Das gesamte Mittelalter hindurch haben diese Mächtigen denn auch weise Männer und Frauen, die im Ruf standen, die Interpretation leisten zu können, oder deren Schriften um Rat gefragt - angefangen bei Karl dem Großen, dessen Krönungstag zum Kaiser nicht von ungefähr auf den genauen Tag des Beginns des 7. Weltzeitalters nach den alten Berechnungen des Kirchenvaters Hieronymus gelegt wurde.
Im europäischen Früh- und Hochmittelalter genügte es den Menschen, die alten Schriften zu lesen und zu interpretieren, solche biblischen Ursprungs ebenso wie Prophetien anderer Herkunft, wie die christlich umgedeuteten antiken Sibyllen oder aber von außen, meist aus Byzanz, in die lateinische Christenheit hineingetragene Prophezeiungen (am berühmtesten die des so genannten Pseudo-Methodius). Im 12. Jahrhundert ändert sich das; im prophetischen Schrifttum zeichnet sich nur eine der zahllosen geistesgeschichtlichen Neuerungen ab, die das europäische 12. Jahrhundert gebracht hat. Erstmals treten in Europa selbst Propheten auf, die nicht nur fremde Schriften für die eigene Zeit und deren Bedürfnisse auslegen, sondern die in ihrem eigenen Namen Visionen und Gesamtinterpretationen des Heilsplanes niederschreiben.
Joachim von Fiore (geboren um 1135, gestorben 1202) ist also nicht der Einzige, sicher aber der Bedeutendste unter ihnen, der Erfolgreichste, wenn man die Rezeption seiner zahlreichen Schriften betrachtet und die unzähligen Texte, die nach seinem Tod, aber immer noch unter seinem Namen verfasst wurden. Von Papst Lucius III. erhielt er die Erlaubnis - geradezu die Aufforderung also -, alles aufzuschreiben, was ihm geoffenbart werde ("licentiam scribendi quemadmodum viderat per revelationem"). Und blieb er selbst zu Lebzeiten unbehelligt und wurden auch nach seinem Tode nur einzelne theologische Äußerungen von der Kirche verdammt, so erhielten seine Schriften, ihre Interpretationen und vor allem die pseudo-joachitischen Schriften im 13. Jahrhundert eine solche politische Sprengkraft, dass mit allen Mitteln und doch vergebens versucht wurde, sie und ihre Wirkung zu unterbinden.
Zu Lebzeiten aber war Joachim Berater der Päpste und versuchte, auch Einfluss auf die weltlichen Herrscher zu nehmen. Unüberhörbar drang seine Stimme aus seinem kalabresischen Kloster an die Ohren der Welt; er wurde besucht und wusste um seine Einflussmöglichkeiten, er mahnte und warnte, und er hatte Vermittler nicht zuletzt an der Kurie, die ihm alles berichteten und seine Worte weitertrugen. Es ist also kein in der Abgeschiedenheit wie im Fiebertraum vor sich hin visionierender Mönch, sondern eine höchst politische und geschichtsmächtige Gestalt, der sich die gerade in italienischer Sprache erschienene Joachim-Biografie Gian Luca Potestàs widmet - und es ist keine Randfigur in der eschatologischen Forschung, die sich hier des sicher bedeutendsten mittelalterlichen Propheten annimmt. Nach dem Tod der Altmeisterin der Joachimforschung Marjorie Reeves gibt es wohl nicht viele Mediävisten, die Joachim und seine Schriften ebenso gut kennen wie Gian Luca Potestà.
Ein Mann wie Joachim, der Neuland betritt und so viel Wirkung ausüben kann, braucht Zeit, um zu wachsen, seine Gedanken und seine umfassenden und zugleich diversifizierten Geschichtsmodelle zu entwickeln. Er entwickelte sich und seine Ideen im Laufe seines Lebens, und auch Joachims Wirkung und Eingriffsmöglichkeiten steigerten sich zu seinem Lebensende hin immer mehr. Viele Ideen entwickelten sich nicht nur aus dem Zeithorizont der Joachim umgebenden Ereignisse, sondern auch erst aus Situationen, in die er durch frühere Gedanken und Lebensentscheidungen kam. Deshalb ist die von Potestà gewählte Zugangsweise, Joachims Leben und damit seine Entwicklung anhand seiner Schriften zu verfolgen, wohl gerade bei einer historischen Figur, die so sehr durch ihre Gedanken lebte, die einzig richtige - die "Zeit der Apokalypse", die Zeit also, die Joachim in seinem Lebenswerk näher zu bestimmen trachtete, war zugleich die, die er benötigte, seine Gedanken zu entwickeln, und damit zugleich seine Lebenszeit.
Nach einem Überblick über die zur Verfügung stehenden Quellen folgen einige Abschnitte zum frühen bekannten Leben Joachims ("L'abbate calabrese", "L'aspirante cistercense"). Anschließend wird seine geistige Entwicklung eben an der Entwicklung seiner Werke verfolgt: Der Mission unter den Juden und der Konfrontation mit Häretikern folgt Joachims Konzept von den drei Personen, drei Ständen und drei Status, die Vision der Geschichte nach den Modellen des A und O. Dann folgt der zeitgeschichtliche Ereigniseinschnitt des Falls Jerusalems an Saladin 1187, der das Kommen des Antichrist anzukündigen schien und in Joachim Reflexionen über die neuen Evangelien und das Zeitalter des Geistes auslöste, ebenso wie das Kapitel über "Chiesa e potere imperiale: resistere o subire" auf den aktuellen Zeithorizont Bezug nimmt. Inzwischen war Joachim bekannt geworden, sodass er Angriffen wie denen des Geoffroy de Auxerre ausgesetzt war; all dies trieb ihn weiter auf dem Weg über "Geist und Geschichte" hin zum Ausleger der Apokalypse und zum Zielzustand des "apocalittico prudente".
Schon weil die Schriften nicht immer leicht zu datieren sind, weil die Editionslage wegen der komplexen Wirkungsgeschichte, aber auch wegen der Missachtung, die jegliches eschatologisches Schrifttum viel zu lange durch die Historiker erfahren hat, nach wie vor unbefriedigend ist, weil sich aber viele Forscher, die Joachim ernst nahmen, umso intensiver mit ihm beschäftigt und um ihn gestritten haben, muss eine solche Biografie ein gewichtiges wissenschaftliches Opus sein. Beeindruckend ist die Bibliografie, umfangreich der wissenschaftliche Apparat, diversifiziert die Argumentation - der Band sei jedem, der sich mit der Geistesgeschichte jener Umbruchszeit des 12. Jahrhunderts beschäftigt, wärmstens ans Herz gelegt.
Felicitas Schmieder