Ursula Düriegl: Die Fabelwesen von St. Jakob in Kastelaz bei Tramin. Romanische Bilderwelt antiken und vorantiken Ursprungs, Wien: Böhlau 2003, 152 S., 16 Farbtaf., 71 s/w-Abb., ISBN 978-3-205-77039-8, EUR 35,00
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Die lange vernachlässigte mittelalterliche Malerei Südtirols und des Trentino zieht seit einiger Zeit verstärkt kunsthistorische Aufmerksamkeit auf sich - eine erfreuliche Entwicklung, die sich auch in größeren Ausstellungen niederschlägt. Längst wurde erkannt, dass auch die Kunst abseits der großen Zentren lohnende Forschungsgebiete bereithält. Insbesondere die Südtiroler Malerei ist dabei als Schnittpunkt zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd für manche Überraschung gut. Bemerkenswert ist nicht nur die Überlieferungsdichte mittelalterlicher Wandmalerei, sondern auch die oft höchst originelle, teilweise einzigartige Ikonographie, die noch manches Rätsel aufgibt.
Ursula Düriegl widmet sich in ihrem Buch der bizarren Welt der Fabeltiere in St. Jakob in Kastelaz bei Tramin. Auf weißem Grund entfalten monströse Wesen ihr Treiben in der Sockelzone der Apsis. Darüber erheben sich die paarweise einander zugeordneten Apostel. In der Apsiskalotte erscheint die Maiestas Domini in Verbindung mit der Deesis. Der Triumphbogen zeigt im Sockel links und rechts je einen Atlas sowie, auf der Höhe der Apostel, jedoch von diesen deutlich abgesetzt, eine Vogelfrau und einen Ziegenfisch. Die Zwickel nehmen Kain und Abel ein, die ihre Opfer darbringen. Die gotische Ausmalung des Kirchleins gehört nicht zum Gegenstand der Studie.
Die 1214 erstmals erwähnte Kirche galt bisher als Bau des 12. Jahrhunderts (mit gotischen Erweiterungen), wird neuerdings aber um 1000 datiert, wie der Leser erfährt, ohne allerdings in die Gründe der Neudatierung Einblick zu erhalten.
Seit der ersten Beschreibung der Fresken durch Dahlke im Jahr 1882 weckten vor allem die Fabelwesen die Interpretationsfreude. Dahlke selbst sah in ihnen Vertreter der Bosheit und Genusssucht. Metzger unternahm 1970 den Versuch, die gesamte Apsis im Hinblick auf die Versuchung des Menschen zu deuten, während Theil 1978 einzelne der zwielichtigen Gestalten als Vertreter fremder Völker identifizierte.
Ein Aufsatz Robert Luffs (Der Schlern, 74. 2000 Nr. 2, 99-119) scheint Düriegl entgangen zu sein. Wenngleich auch Luffs Interpretation nicht in allen Einzelheiten (wie der Deutung des Ziegenfischs als Teufel) zu überzeugen vermag, ist die von Luff gezogene Parallele der Apsisdekoration mit dem zur Entstehungszeit der Fresken verfassten deutschen Lucidarius sehr erhellend: Sie betrifft sowohl den Aufbau beider Werke als auch den Aufbau der Unterweisung des Schülers durch seinen Lehrer Lucidarius. Da der unwissende Mensch dem Tier gleiche, erklärt die kleine Enzyklopädie die universale Lernpflicht zur Doktrin. Monstren begreift sie als Missgeburten menschlicher Hybris, Nachkommen Adams und Evas, deren Töchter von verbotenen Kräutern aßen.
Düriegl stellt die Kreaturen zunächst einzeln vor, beginnend mit den Atlanten als Vertreter der sündigen, Last tragenden Menschheit. Die geläufige Deutung als Adam und Eva weist Düriegl zurück: Die Ureltern werden nur in Szenen vor dem Sündenfall unbekleidet dargestellt. Die Frau weist zudem Ähnlichkeiten mit Terra-Darstellungen auf.
Mithilfe der zunächst kurz vorgestellten Quellen - von den nur indirekt überlieferten Indika des Ktesias über den bestens bekannten Physiologus bis zur Imago mundi des Honorius von Autun - nimmt Düriegl eine genaue zoologische Bestimmung der Fabelwesen vor. Dabei zieht sie eine Vielzahl von Vergleichsbeispielen heran, deren Aufzählung zuweilen etwas lexikalisch gerät.
Besonderes Interesse verdienen Vogelfrau und Ziegenfisch, da sie sich, von den anderen Fabelwesen abgegrenzt, auf gleicher Höhe mit den Aposteln befinden. Etwas übersteigert scheint die Behauptung, "diesen beiden Figuren hafte etwas ähnlich Visionäres wie der Darstellung Christi in der Mandorla an. Sie scheinen Verbindungsglieder zwischen Himmel und Erde zu sein, dem irdischen Leben bereits entrückt auf die himmlische Sphäre verweisend" (81f.). Allein schon der weiß belassene Hintergrund verrät ihre Zugehörigkeit zur unteren Sphäre. Auch die behauptete "große Ähnlichkeit" (86) der Traminer Vogelfrau mit der Sirene in Elne, Roussillon, ist schwer nachvollziehbar: Angelegte Flügel, Menschenhände, Zöpfe und das Auslaufen des Unterkörpers in einen Vogelkopf sind Merkmale, die die französische Vogelfrau nicht aufweist. Die Deutung der Sirene als Sinnbild der Wahrheit und Vorbotin des Todes überzeugt dagegen wieder. In ähnlicher Richtung ist der Ziegenfisch auf Grund seiner Nähe zum Sternbild Steinbock zu interpretieren. Düriegl sieht in der Figur einen Repräsentanten des Kosmos.
Der Vorstellung und Interpretation der einzelnen Fabelwesen schließt sich eine Deutung der gesamten Gesellschaft an. Durch sie, so Düriegl, wird Tramin zu einer 'mappa mundi et coeli' (109). Um diese These zu stützen, engt Düriegl ihre Interpretation allerdings zunächst zu sehr auf das Meer als christliche Metapher der Heimat des Bösen ein. Weder sind alle Traminer Fabelwesen Meeresbewohner, noch existieren Meer- und Landgeschöpfe in St. Jakob in voneinander getrennten Bereichen. Die allgemeinere Deutung als ungeordnetes Chaos, als sündhafte Welt scheint deshalb zutreffender. Da sie aus der unmittelbaren Anschauung der Malereien gewonnen werden kann, erweist sich der Hinweis auf das Meer als Metapher des Lebens beziehungsweise des Bösen als unnötiger Umweg. Inwiefern die Kreaturen allerdings "die Welt" repräsentieren, ist fragwürdig. Auf Grund ihrer Monstrosität halten sie kein Identifikationsangebot für den Betrachter bereit, der noch im Mittelalter zudem tatsächlich von der realen Existenz solcher Kreaturen ausging, sie also als Bedrohung empfinden musste. In Tramin wird das Böse in seine Schranken gewiesen; die Grenzen sind unüberwindlich. Eine profane Deutung weist Düriegl mit Recht zurück. Ein gewisser Widerspruch entsteht jedoch bei dem Bemühen um eine Einbindung der Fabelwesen in die Heilslehre und den größeren Kontext der Apsismalereien: "Gottes Wort dringt bis an die Ränder der Welt und das Wort Gottes wird die Erde erlösen" (114). Die Apostel verkünden die Lehre Christi, der in der Mandorla thront, das göttliche Wort wird bis an die Grenze zum Tierhaften getragen (114) - wo es augenscheinlich im Kampfgetümmel aber kein Gehör findet. Die Bekehrung dieser Wesen sei christliche Aufgabe - auch hier handelt es sich um eine Projektion der Heilslehre, die die Autorin mithilfe theologischer Schriften vornimmt, die aber objektiv nicht anschaulich dargestellt ist. Die Opfer Kains und Abels berücksichtigt Düriegl nicht. Die Interpretation als Beichtspiegel weist sie zurück, skizziert aber weder die von ihr abgelehnte Argumentation, noch setzt sie eine eigene dagegen.
In ihren Überlegungen zum Auftraggeber schließt Düriegl sich Beleffi Sottriffer an, der 1996 im Bischof von Trient, Fürstbischof Friedrich von Wangen, den gebildeten Urheber des Programms der Apsisdekoration vermutete, zumal dieser 1214 mit der Gemeinde Tramin einen Vertrag über den Bau einer Festung oberhalb von St. Jakob schloss.
Das letzte Kapitel widmet sich der stilistischen Einordnung der Wandmalereien. Die auffällige stilistische wie ikonographische Ähnlichkeit mit den Fresken von SS. Tommaso e Bartolomeo im nahe gelegenen Romeno erkannte bereits Morassi 1934. Im Anschluss an Beleffi-Sottriffer, der die Fresken auf Grund des 1214 geschlossenen Vertrages in die Zeit um 1215 datiert, nimmt Düriegl eine Entstehung im zweiten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts an. Auch hier werden abweichende Datierungen - die zwischen 1200 und 1250 schwanken - zu Protokoll gegeben, jedoch nicht diskutiert.
Kunsthistoriker werden den wiederholt zu beobachtenden Mangel an Diskussionsfreude im Umgang mit der Forschungsliteratur beklagen und auch eine Auswertung von Restaurierungsberichten vermissen. So fallen Unterschiede zwischen frühen Nachzeichnungen der Fabeltiere und deren heutiger Gestalt auf, insbesondere bei der Figur des Blemmiers. Gleichwohl bietet Düriegl eine gute Einführung in die Thematik.
Das Buch besticht durch eine attraktive Aufmachung, sorgfältiges Lektorat und ist erfreulich eingängig geschrieben. Hinzu kommt eine opulente Abbildungsdichte. Dies sind Qualitäten, die jedem Buch zu wünschen wären, die jedoch bevorzugt in Publikationen kultiviert werden, die ein breiteres Publikum ansprechen sollen. Dieser Leserschaft bringt Düriegl mittelalterliche Vorstellungen und Bildwelten ein gutes Stück näher, was als besonderer Verdienst des Buches zu loben ist.
Andrea Gottdang