Ulli Seegers: Alchemie des Sehens. Hermetische Kunst im 20. Jahrhundert. Antonin Artaud, Yves Klein, Sigmar Polke (= Kunstwissenschaftliche Bibliothek; Bd. 21), Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2003, 314 S., 25 Farb-, 41 s/w-Abb., ISBN 978-3-88375-701-8, EUR 48,00
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Die Hermetik hat Konjunktur. Mit den Historikern der Naturwissenschaften, Philosophen und Literaturwissenschaftlern haben auch die Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker die Hermetik neben anderen okkulten Lehren als bedeutende Quelle der künstlerischen Moderne entdeckt. [1] In diesem Kontext steht Ulli Seegers Dissertation, die die Bedeutung der Hermetik für die Kunst des 20. Jahrhunderts am Werk von Antonin Artaud, Yves Klein und Sigmar Polke untersucht. Ihre Grundthese lautet: Die Hermetik hat sich in der Neuzeit von einer Religion zu einer spezifischen Denkstruktur transformiert, die in Konkurrenz zu Aufklärung, Hermeneutik und mechanistischem Weltbild bis in die Gegenwart untergründig fortexistiert und sich als essenzieller Kern moderner Ästhetik erweist. Zur Untermauerung dieser These spannt sie einen Bogen von der Spätantike zur Goethezeit, um neben den genannten Künstlern auch Aby Warburg und Theodor W. Adorno in die hermetische Tradition einzureihen.
Das Buch ist gegliedert in drei große Abschnitte. Der erste Abschnitt gibt eine Übersicht über die Wirkungsgeschichte der spätantiken synkretistischen Lehre, deren textliche Grundlage das dem Gott Hermes Trismegistos zugeschriebene religiös-philosophische Schriftenkonvolut des Corpus Hermeticum bildet. Inhaltliche Grundzüge sind die Vorstellung eines spiegelbildlichen Analogieverhältnisses von Gott, Welt und Mensch sowie eine Kosmogonie, in der die Schöpfung als Emanation der materiellen Welt aus dem Göttlichen gedacht wird. Ein wichtiger Zweig der Hermetik ist die Alchemie, die deren arkane Kenntnisse auf Grundlage der Idee einer prinzipiellen Transformierbarkeit aller Stoffe mit dem Ziel einer Vervollkommnung der Schöpfung praktisch anzuwenden sucht. In der Epoche des Humanismus erlangte die hermetische Auffassung des Menschen als "zweiter Gott" nachhaltigen Einfluss auf Denker wie Marsilio Ficino, Pico della Mirandola und Agrippa von Nettesheim. - Dieser Abschnitt ist eine instruktive Zusammenfassung des Forschungsstandes zur Hermetik. Bedauerlicherweise enthält er aber keine Aussagen zur reichen Bilderwelt und zur Bildkonzeption der Alchemie, obwohl im folgenden Abschnitt auf die alchemistische Ikonographie Bezug genommen wird und von der "Wirkungsweise des hermetischen Symbols" (83) und von "Bildmagie" (96) die Rede ist. Hier hätte man sich - zumal vor dem Hintergrund der aktuellen bildwissenschaftlichen Debatte - präzisere Informationen gewünscht.
Im zweiten Abschnitt werden Werke von Antonin Artaud, Yves Klein und Sigmar Polke auf ihre Beziehungen zur Hermetik analysiert; hier setzt die eigentliche Forschungsleistung der Autorin ein. Dabei geht es ihr um die Aufdeckung struktureller Analogien zur Hermetik, die sie als eine "Denkstruktur" (10) auffasst, die aus der historischen Hermetik im Verlauf des neuzeitlichen Säkularisationsprozesses - alchemistisch gesprochen - herausdestilliert worden ist. Antonin Artaud hat in seinen Schriften das "Theater der Grausamkeit" selbst in enge Beziehung zur Alchemie gesetzt. Das an antiken Mysterienspielen orientierte theatralische Geschehen soll analog zum alchemistischen Wandlungsprozess wirken, das heißt die Beteiligten körperlichen Erfahrungen unterziehen und so zu einer "geistigen Wiedergeburt" führen. Weniger bekannt sind Artauds nach 1937 entstandene Porträtzeichnungen, mittels derer er den Dargestellten Schadenzauber zufügen wollte. Diese magischen Praktiken sind allerdings primär von indianischen Vorbildern inspiriert, sodass die Beziehung zur Alchemie vage bleibt. Nicht unwichtig zu erwähnen wäre gewesen, dass Artauds alchemistische Interessen im Kontext einer intensiven Beschäftigung der Surrealisten mit der Hermetik stehen, was seit den Achtzigerjahren Gegenstand intensiver kunsthistorischen Forschung ist. [2]
Yves Klein war zeitweilig Mitglied der Rosenkreuzer und mit hermetischem Schrifttum zweifellos vertraut. Zu Recht weist die Autorin darauf hin, dass sein "Sprung in die Leere", die Farbe-Linie-Polarität und das monochrome Blau, die Wandlung von Gold in "immaterielle Bilder" sowie seine Anwendung der Elemente Feuer, Wasser und Luft als bildkonstitutive Mittel in den "Kosmogonien" Beziehungen zur hermetischen Tradition aufweisen. Allerdings überwiegt in seinem Œuvre die Tendenz jene Immaterialisierung die zur Wandlung des Stofflichen, insofern weist es weniger alchemistische als vielmehr gnostische Züge auf. Kleins Bezug zur Hermetik ist also ein vollkommen anderer als derjenige Artauds. Es zeigt sich, dass das schillernde Spektrum esoterischer Lehren, das sich hinter dem Sammelbegriff der Hermetik verbirgt, ein ebenso breites Spektrum künstlerischer Tendenzen im 20. Jahrhundert inspiriert hat. Wünschenswert gewesen wäre eine kritische Abwägung der Relevanz der hermetisch-gnostischen Denktradition im Verhältnis zu der des gleichfalls für Yves Klein bedeutsamen Zen-Buddhismus.
Sigmar Polkes Auseinandersetzung mit der Alchemie ist bereits Forschungsgegenstand gewesen. [3] Die Autorin gewinnt ihr jedoch neue Aspekte ab: Zunächst analysiert sie bezogen auf "Die drei Lügen der Malerei" (1994) und den Zyklus "Hermes Trismegistos I - IV" (1995) eingehend die verarbeiteten Motive Berg, Baum, Hände vor dem Hintergrund der alchemistischen Ikonographie und Farbsymbolik, der Transparenz des Malgrunds und der Axialsymmetrie, um deren hermetisches Bedeutungsrepertoire zu entfalten. In einer zweiten Argumentationsstufe entwickelt sie, den ikonographischen Zugang übersteigend, die These, dass Polke alchemistische Prinzipien nicht allein abbildet, sondern sie an den Werken selbst anwendet: das gemalte Bild wird demnach quasi-alchemistisch in seine stofflichen Bestandteile zerlegt, aufgelöst und anschließend neu zusammengesetzt, was Seegers treffend als eine "Alchemie des Bildes" bezeichnet.
Leider erläutert die Autorin nicht, nach welchen Kriterien sie gerade diese drei Künstler ausgewählt hat. Sie trifft auch keine Aussagen darüber, bei wie vielen und welchen weiteren KünstlerInnen des 20. Jahrhunderts hermetische Tendenzen festzustellen sind und ob die drei behandelten Künstler exemplarischen Charakter haben. Angesichts ihrer weitreichenden Absicht, grundlegende Aussagen über die Ästhetik der Moderne zu treffen, wäre dies aber wünschenswert gewesen.
Im dritten Abschnitt geht es um den Nachweis von Seegers' Grundthese, wonach die Hermetik zur untergründigen Schlüsselfigur moderner Ästhetik geworden ist. Hier konstatiert sie einen prägenden Einfluss der Hermetik auf die Ästhetik. Diese sei nach dem Siegeszug des Rationalismus zum eigentlichen Residuum der Hermetik geworden, insofern sie die sinnliche Erkenntnis aufgewertet hat. Max Imdahls Insistieren auf den Erkenntniswert des "sehenden Sehens" erweist sich demnach als aktualisierte Version eines hermetischen und antihermeneutischen Weltverhältnisses.
Aby Warburgs Ikonologie, namentlich seinen Zentralbegriff der "Pathosformel" interpretiert Seegers als einen Versuch, die "hermetische Bildwirkung" (209) in einer Weise zu fassen, die die Spannung von "Anschauung und Kognition, Phantasie und Vernunft, Mythos und Wissenschaft" (219) aufrecht erhält und für die wissenschaftliche Erkenntnis fruchtbar macht. Sie sieht strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen Warburgs Bildbegriff und der Alchemie hinsichtlich ihrer polaren Anlage, der Zuschreibung magischer Wirkmacht an das Bild und der energetischen Funktion der Erinnerung. Nun ist Bildmagie gerade keine hervorstechende Eigenschaft der alchemistischen Emblematik, zudem spielt sie in den verschiedensten Kulturen und religiösen Kontexten eine Rolle, doch mag die Vermutung einleuchten, dass die Hermetik für Warburg die nahe liegendste Quelle war.
Weniger überzeugend ist Seegers' Auffassung, dass auch in Adornos Begriff des "hermetischen Kunstwerks" die hermetische Tradition fortwirke. Hier wäre einzuwenden, dass der Begriff des "Hermetischen" - wie er in der Nachkriegszeit in Bezug auf die moderne Lyrik verwandt wurde - der metaphorischen Umschreibung des rätselhaften und mehrdeutigen Charakters des "offenen Kunstwerks" (Eco) diente und sich folglich gegenüber der hermetischen Tradition verselbstständigt hat. [4] Der Anspruch der Autorin, die gesamte Moderne auf einen einzigen Nenner zu bringen, erweist sich spätestens hier als überzogen.
Ist die Hermetik einmal zum Dreh- und Angelpunkt geworden, aus dem sich die gesamte abendländische Geistesgeschichte neu aufrollen lässt, erscheinen auch altvertraute Kunstwerke in neuem Licht. In einem Exkurs schlägt Seegers daher zu zwei der meistberätselten Werken der Kunstgeschichte - Botticellis "Primavera" und Dürers "Melencolia I" - auf der Hermetikexegese beruhende Deutungen vor, wobei sie souverän übergeht, dass solche - jedenfalls für Dürer - schon mehrfach vorgelegt worden sind. [5] Dieser Mangel an Auseinandersetzung mit der - insbesondere kunsthistorischen - Forschungsliteratur fällt fast durchgängig auf. So verzichtet die Autorin auf eine Diskussion der Forschungsliteratur über den Einfluss esoterischer Lehren auf die Moderne im Allgemeinen und über die surrealistische Hermetikrezeption im Besonderen. Stattdessen distanziert sie sich pauschal davon und lässt so ihr Buch als völlig voraussetzungslos erscheinen. Doch die früheren Arbeiten haben die Grundlagen für Seegers' Studie gelegt, ihr gar die entscheidenden Stichworte gegeben. So ist die These, dass relevante Strömungen im philosophischen und ästhetischen Diskurs der Moderne der historischen Gnosis und Hermetik strukturell verwandte Denkfiguren aufweisen, zuvor schon von Michael Pauen und Beat Wyss formuliert worden. [6]
Das Buch erspart dem interessierten Leser also nicht die eigene Recherche. Doch hat es das Verdienst, die auf Grund ihrer Interdisziplinarität unübersichtlich gewordene ideengeschichtliche Forschung zur Hermetik für die Kunstgeschichte verfügbar gemacht zu haben. Weiterhin bietet Seegers einige brillante Werkanalysen, vor allem zu Polke, eine anregende Zusammenschau der wichtigsten Theoreme Aby Warburgs sowie eine streitbare These zur Ästhetik der Moderne. Ihr Buch sei daher allen, die sich mit der Kunst des 20. Jahrhunderts beschäftigen, zur Lektüre nachdrücklich empfohlen.
Anmerkungen:
[1] Grundlegend: Beat Wyss (Konzeption und Redaktion): Mythologie der Aufklärung. Geheimlehren der Moderne, (= Jahresring; Band 40), München : Verlag Silke Schreiber, 1993. Weiterhin die Ausstellungskataloge: The Spiritual in Art. Abstract Painting 1890 - 1985, Los Angeles County Museum of Art, New York 1986; Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian. 1900 - 1915, Schirn-Kunsthalle Frankfurt, Ostfildern 1995. Sowie die unter Anmerkung 2 genannten künstlermonografischen Studien.
[2] Arturo Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, London und New York, 1965; Maurizio Calvesi: Duchamp invisibile, Rom 1975; Arturo Schwarz: Die Surrealisten, Frankfurt am Main 1989, 34 ff.; Hubertus Gassner: Joan Miró. Der magische Gärtner, Köln 1994; Verena Kuni: Victor Brauner. Der Künstler als Seher, Magier und Alchimist, Frankfurt am Main 1995; Richard Danier: L'hermétisme alchimique chez André Breton. Interpretation de la symbolique de trois œuvres du poète, Villeselve 1997; Marjorie E. Warlick: Max Ernst and Alchemy. A Magician in Search of Myth, Austin/Texas, 2001; John F. Moffitt: Alchemist of the Avant-Garde. The Case of Marcel Duchamp, Albany/New York 2003. Kritisch zu den Deutungen auf hermetischer Basis: Dieter Daniels: Duchamp und die anderen. Der Modellfall einer künstlerischen Wirkungsgeschichte in der Moderne, Köln 2002, 238-257.
[3] Zuletzt: Martin Hentschel: Solve et coagula. Zur Alchemie in Polkes Kunst, in: Katalog Sigmar Polke. Die drei Lügen der Malerei. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1997, 41-95.
[4] Gerhard Kurz: Hermetismus. Zur Verwendung und Funktion eines literaturtheoretischen Begriffs nach 1945, in: N. Kaminski / H.J. Drügh / M. Herrmann (Hg.): Hermetik. Literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyperspace, Tübingen 2002, 179-197.
[5] Gustav Friedrich Hartlaub: Arcana Artis. Spuren alchemistischer Symbolik in der Kunst des 16. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 1937, Band VI, 289-324; J. Read: Dürer's Melencolia - An Alchemical Interpretation, in: The Burlington Magazine, Nov. 1945, 283 ff.; Jacques van Lennep: Alchimie. Contribution à l'histoire de l'art alchimique, Brüssel 1985, 301 ff.; Maurizio Calvesi: La melanconia di Albrecht Dürer, Torino 1993.
[6] Michael Pauen: Dithyrambiker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne, Berlin 1994, 11 ff.; Beat Wyss: Kunstgebete an Satan. Eine mentalitätsgeschichtliche Skizze, in: Konrad P. Liessmann (Hg.): Fasziation des Bösen. Über die Abgründe des Menschlichen, Wien 1997, 191-210.
Verena Krieger