Peter Burschel: Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit (= Ancien Régime. Aufklärung und Revolution; Bd. 35), München: Oldenbourg 2004, XII + 371 S., 85 Abb., ISBN 978-3-486-56815-8, EUR 49,80
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In dem ambitionierten Unternehmen des Oldenbourg-Verlages kommt dankenswerter Weise auch die Kulturanthropologie zu Wort. Der durch zahlreiche Publikationen zur Hagiografie und konfessionellen Selbstdarstellung der Frühen Neuzeit ausgewiesene Autor unternimmt es in dieser voluminösen Untersuchung auszuloten, was physische Gewalt im Gewand von Märtyrerbiografien in der sich konfessionalisierenden Welt des 16./17. Jahrhunderts zur Selbst- und Weltdeutung der jeweiligen Gemeinschaften offenbart, so eine seiner Fragestellungen.
Die Einleitung mit ihren gedanklich und sprachlich überzogenen Zielhorizonten verheißt nichts Gutes, wenn sich der Leser darauf einrichten muss, das "Martyrium in stärkerem Maße als andere Annäherungen kulturwissenschaftlichen Zuschnitts [welche das sein sollen, bleibt hier offen; W. H.] als Medium der Selbst- und Fremdauslegung, als spezifisches Zeichensystem, dessen Dechiffrierung nicht zuletzt tiefe Einblicke in die Baupläne symbolischer Kommunikation erlaubt" (10 f.), verstehen zu sollen. Die "tiefen Einblicke in die Baupläne symbolischer Kommunikation" blieben mir denn auch verschlossen, ebenfalls die Bedeutung der "Kollektivierung von Toten" (2) und schließlich auch die "Funktionen physischer Gewalt in sozialen Gemeinschaften und ihren mentalen Haushalten" (3).
Dafür wird man nach der prätentiös wirkenden Eröffnung entschädigt durch eine gediegene und äußerst kenntnisreiche Abhandlung diverser frühneuzeitlicher Quellenbestände, in der plastisch und überzeugend ausgefaltet wird, was reales oder fiktionales Sterben für den Glauben innerhalb von religiösen Gemeinschaften wie Lutheranern, Kalvinisten, Täufern, Hutterern und 'altgläubigen' Katholiken bedeutete. Die Präferenzen des Autors liegen eindeutig bei den reformierten Glaubensgemeinschaften: das Jesuitendrama mit seinen tausenden von Titeln dagegen kann er auf wenigen Seiten abhandeln (263-283).
Neben den bereits erwähnten Jesuitendramen benutzt der Autor noch als Quellen frühneuzeitliche Flugblätter, diverse Martyrologien, Lieder der Täufergemeinden, das so genannte Geschichtsbuch der Hutterer, der "Bloedig Toonel" der Mennoniten, etliche Dramen des Andreas Gryphius, aber auch Fresken diverser römischer Kirchen - alles dies, soweit als tertium comparationis von Märtyrerinnen und Märtyrern gehandelt wird. Die diversen Quellengruppen sind gleichzeitig die einzelnen Kapitel und stehen für eine entsprechende Glaubensgemeinschaft. Methodisch entsteht dadurch das Problem der Vergleichbarkeit, denn außer beim Jesuitendrama und den Märtyrerdramen des Andreas Gryphius gibt es keine unmittelbaren Entsprechungen. So aber ist nun einmal die historische Quellenlage, und der Autor versteht es, durch Fokussierung auf den Aspekt des gewaltsamen Todes um des Glaubens willen und die dabei (zumeist fiktional) ausgestandenen Qualen eine durchgehende Diskussionsgrundlage zu schaffen. Er macht dabei erhellende Beobachtungen beispielsweise zur gegenseitigen Bedingtheit von 'evangelischen' und 'katholischen' Märtyrerdramen, wenngleich für Letztere der Anteil der Bollandisten unterbelichtet bleibt, deren Arbeit an zuverlässigeren Heiligenlegenden für das Aufblühen des Genres ebenso unverzichtbar war wie die theologischen Klärungen des Konzils von Trient, die Burschel referiert.
Als einem fundamentalen Kenner der Materie fällt es dem Autor jeweils nicht schwer zu begründen, dass die von ihm vorgenommene Auswahl auch für das jeweilige Genre exemplarisch ist. Die einzelnen Abschnitte lesen sich unterhaltsam mit einem ausgewogenen Verhältnis von Analyse und Deskription; wiederholt kann sich der Autor beziehen auf vorausgehende separate Veröffentlichungen aus der eigenen Feder.
Durchgängig werden treffende Beobachtungen angestellt zu Gewicht und Aussagesinn der jeweiligen Quellengruppe, wobei freilich der topische Charakter der einzelnen Textsorten in der Regel zu niedrig veranschlagt wird. So mag es angehen, darauf hinzuweisen, dass in einer Serie dieser Quellen das Bild vom Ende aller Tage, von Weltgericht und Eschatologie bemüht wird - doch was will das schon groß sagen? Es ist ein Topos, der der Textsorte geschuldet ist, sich in den biblischen Vorbildern bereits findet und einen Sinn macht in der individuellen Perspektive der jeweiligen leidenden und todgeweihten Person. Doch sagt dieser Topos wenig über die dahinter stehenden Glaubensgemeinschaften aus, die mit wechselnden, den Zeitläufen angepassten Strategien (und sei es durch Auswanderung nach Übersee oder Integration in die Staatsapparatur) versuchten, ihr Überleben auf Dauer einzurichten. Und dass die Märtyrerinnen und Märtyrer allenthalben teils gelassen, teils fröhlich in den Tod gingen, ihren Peinigern verziehen, die Scheiterhaufen schlecht brannten und gelegentlich mit anderen Hinrichtungsarten ersetzt werden mussten, all dies hat mit spezifischer Erinnerungskultur einer besonderen religiösen Gemeinschaft wenig zu tun, umso mehr aber mit der Textsorte Märtyrerbiografie.
Was bleibt ist ein gespaltener Gesamteindruck: Ausbreitung eines immensen frühneuzeitlichen Quellenmaterials (erfreulicherweise erschlossen durch ein Register), abgehandelt mit einem geradezu erschlagenden Literaturaufwand (Anmerkungen, Quellen- und Literaturangaben machen weit über die Hälfte des Buches aus), aber insgesamt doch mit wenig neuen oder nicht erwartbaren Ergebnissen (der "Schluss" mit seinen insgesamt vier [!] Seiten referiert denn auch bloß die einzelnen Kapitel, ohne sich auf die hochgestochenen Ziele der Einleitung zu beziehen). Das selbst gewählte Erwartungsniveau, weil zu diffus in der Zielsetzung, zu wenig angewandt in der Durchführung und in der Schlusszusammenfassung schlankweg ignoriert, wird leider nicht eingelöst. Die einzelnen Kapitel jedoch können (mit geringen Ausnahmen) gelesen werden als Kabinettstückchen zu in sich abgeschlossenen Detailstudien über Glaubensgemeinschaften in den Reformationsjahrhunderten mit ihren Versuchen der Begründung einer eigenen heilsgeschichtlichen Existenzberechtigung.
Walter Hartinger