Barbara Welzel / Thomas Lentes / Heike Schlie (Hgg.): Das 'Goldene Wunder' in der Dortmunder Petrikirche. Bildgebrauch und Bildproduktion im Mittelalter (= Dortmunder Mittelalter-Forschungen; Bd. 2), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2003, 261 S., zahlreiche, teils farbige Abb., ISBN 978-3-89534-522-7, EUR 24,00
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Vorgelegt werden Beiträge einer Tagung, die im Mai 2003 in Dortmund stattfand, veranstaltet von der "Conrad-von-Soest-Gesellschaft, Verein zur Förderung der Erforschung Dortmunder Kulturleistungen im Spätmittelalter", dem Institut für Kunst und ihre Didaktik der Universität Dortmund/Lehrstuhl für Kunstgeschichte und der Forschungsgruppe "Kulturgeschichte und Theologie des Bildes im Christentum" an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Im Mittelpunkt steht das 1521 in Antwerpen in Auftrag gegebene, für den Hochaltar der Dortmunder Franziskanerkirche bestimmte und seit 1809 in der evangelischen St. Petrikirche aufgestellte Flügelretabel. Anliegen der Publikation ist es, den im Volksmund "Goldenes Wunder", genannten Schnitzaltar "in das Feld aktueller historischer sowie kunst- und kulturgeschichtlicher Fragen der Mentalitätsgeschichte, der Bildwissenschaft, der Forschungen zu Bildgebrauch und Bildproduktion" zu stellen. Das Dortmunder Retabel nimmt für sich ein, da es unter den rund 200 als Exportprodukte in Europa verbreiteten Antwerpener Schnitzaltären eines der größten, aber auch qualitätsvollsten ist. In der neueren Forschung (Godehard Hoffmann und andere) nahm seine kunsthistorische Stellung innerhalb des Antwerpener Manierismus Kontur an, indem der im Vertrag von 1521 genannte Maler Adriaen van Overbeke an die Stelle des von Max J. Friedländer geprägten Notnamens "Meister der Antwerpener Kreuzigung" trat und der Auftragnehmer, der Bildhauer "Meister Gillisz", mit Jan Wraghe Gilliszoone (das heißt Sohn des Gillis) identifiziert wurde. Bedenkt man überdies, dass die Spezialforschung, intensiv mit technologischen und wirtschaftsgeschichtlichen Fragen befasst, das genannte Fragenspektrum nur punktuell berührt, so ist klar, dass ein idealer Gegenstand gefunden wurde, um die Synergieleistung aktueller Forschung im Sinne einer historischen Bildwissenschaft zu erproben.
Barbara Welzels kulturgeschichtliche Einführung charakterisiert die spätmittelalterliche Frömmigkeit im Spiegel von Liturgie und Stadttopografie, um den Leser schließlich in die Franziskanerkirche, dem ursprünglichen Standort des "Goldenen Wunders", zu führen. Hier wird ihm verdeutlicht, dass sich das Retabel im Chor und hinter dem Lettner dem Blick der Gemeinde tatsächlich entzog. Das in das Zentrum der Kirche gestellte Bild, das unter den Bedingungen des Bettelordens wohl nur im Rahmen des Laienstifterwesens entstehen konnte, war faktisch nur den Geistlichen einsichtig. Derart spannungsreich gestalten sich die "systemischen Rezeptionsbedingungen", die im Fokus der kunstgeschichtlichen Rekonstruktion stehen sollen. Mit Blick auf die angestrebte Transparenz einem interessierten Publikum gegenüber irritiert allerdings, dass die Transsubstantiationslehre nicht erläutert wird. Der Begriff der Realpräsenz, nach Welzel ein Schlüssel zum Sinngefüge des mittelalterlichen Kirchenraums, erhellt nichts, da ohne Klärung des scholastischen Realitätsbegriffs die implizierte Unterscheidung der wesenhaften Substanz des Corpus Christi von der akzidentellen Materialität von Fleisch und Blut unverständlich bleibt. Zu wenig ist auch von den Bedingtheiten der Heilswirksamkeit des Sakraments die Rede. Hier kämen in Ergänzung zu den erläuterten Frömmigkeitsformen, an denen die Franziskaner partizipierten (Sakramentenfrömmigkeit, Reliquienverehrung, Prozessionen), die Seelsorge sowie ein mögliches Interesse an Reform ins Spiel. Letzteres deutet sich freilich in Godehard Hoffmanns Beitrag zur Malerei und zur Ikonographie des "Goldenen Wunders" an.
Der Historiker Thomas Schilp entwickelt im Spiegel der "sakralen Topographie der Stadt Dortmund" das - zunächst ungewohnte - Konzept von der "Sakralgemeinde", mit dem wohl ein ideelles Äquivalent zur sakralen Legitimation der Königsherrschaft umrissen ist. Leitsymbol ist die "Heilige Stadt", dargestellt in dem aus Jerusalem-Zitaten gebildeten Stadtsiegel und einem als Prozessionsweg ausgebildeten "Kirchenkranz", der die Franziskanerkirche einband.
Die folgenden kunsthistorischen Beiträge gliedern sich in zwei Schwerpunkte. Der erste befasst sich mit der Entstehungsgeschichte dieses und anderer Antwerpener Retabel unter steter Berücksichtigung der Auftraggeberseite. Insgesamt profiliert sich die These, dass die Antwerpener Werkstätten mehr als bislang vermutet auf Auftraggeberwünsche eingingen. Die Kritik dem gegenüber fällt gespalten aus. Entscheidend dürfte sein, dass "Standardprogramme" zur Verfügung gestellt wurden (siehe: Esther Meier zum Vorkommen der Gregorsmesse in Antwerpener Retabeln), die durch punktuelle Veränderungen anzupassen waren (siehe: Elisabeth Tillmann zum Franziskaner-Retabel aus Antwerpen in Dortmund-Kirchlinde). Andererseits bieten die in den Tagungsbeiträgen deutlich geschärften Profile einiger Werkstattleiter Anlass, neu über deren Einfluss auf die Retabelkonzepte nachzudenken. Dass Adriaen van Overbeke nicht nur in Dortmund, sondern in drei weiteren Kirchen ganz unterschiedlichen Typs einen ähnlichen, um die Viten der Hll. Anna und Emerentia erweiterten Marienlebenzyklus einbrachte, wobei er nur im Fall der Annenbruderschaft in Kempen ins Schwarze der Repräsentanz des Auftraggebers traf, zeugt von erstaunlichem Durchsetzungsvermögen und wirft eine Reihe von Fragen auf: Welches geistige Umfeld befähigte die Meister zur Entwicklung ihrer erstaunlich dehnbaren und integrativen Programme? War die Akzeptanz der "Standardprogramme" auch dadurch bedingt, dass neue Entwürfe die Kosten erhöhten? Das in Schweden überlieferte Werk des Bildschnitzers Jan Genoots, das Ulrich Schäfer neu ordnet, deutet darauf hin, dass auch Kriterien der Qualität (Homogenität in Technik und Komposition, expressive Gestik) bei der Festlegung eines bestimmten Auftragsniveaus eine Rolle spielen konnten. Eine diachrone Sicht der Dinge könnte wohl manches zur Lösung dieser Fragen beitragen. Norbert Wolfs Überblickswerk zum "Deutschen Schnitzretabel im 14. Jahrhundert" (Berlin 2002) böte hierfür eine ausgezeichnete Referenz. Schließlich trat das Antwerpener Retabel gerade im Rheinland und in Westfalen das Erbe einer einheimischen Tradition an, die sich durch breit angelegte und integrative, tendenziell aber weniger den Laien als der Geistlichkeit zugewandte Bildprogramme auszeichnete.
Ein zweiter Schwerpunkt liegt bei Fragen zum Bildbegriff, von Susan Marti und Heike Schlie anhand der Ikonologie der Gregorsmesse beziehungsweise der Darstellung des eucharistischen Kultes erhellt. Dabei erweist sich die latente Polyvalenz des Altarbildes gemäß unterschiedlicher, nicht zuletzt performativ wandelbarer Rezeptionsbedingungen. Susan Marti belegt die geschlechts- und statusspezifische Relevanz der Gregorsmesse am Beispiel von Altären in Nonnenchören, wo das Bild bei faktischer Abwesenheit der männlichen Zelebranten zum Substitut, in Zeiten der Aussetzung des Sakraments sogar zum "Liturgie-Ersatz" wird. Heike Schlie verdanken sich die eindringlichste Darstellung des Sinngehalts des "Goldenen Wunders" sowie grundlegende neue Einsichten in die Ästhetik des Flügelretabels. Diese manifestiert sich im changierenden Erscheinen und Sich-Entziehen des "corpus mysticum" entlang einer über die Klappungszustände hinweg geführten ideographischen Achse. In Anbetracht des performativen Charakters des Altarbildes und einer am Prinzip der Typologie orientierten Semantik verzichtet Schlie zu Recht darauf, das Bildprogramm auf einen begrifflichen Nenner zu bringen (etwa: "Eucharistiealtar"), erkennt aber in dem monumentalen Gemälde der Verehrung der Eucharistie durch Vertreter der geistlichen und weltlichen Stände ein "Einheitsbild". Der Begriff "Ecclesia", von Norbert Wolf für viele ältere deutsche Schnitzretabel als zentral erwiesen, fällt hier überraschenderweise nicht. Zur These Thomas Schilps von der "Sakralgemeinde" wird aber wohl eine Verbindung erkennbar.
Zum Verständnis des Bildbegriffs im Kontext der Liturgie trägt auch Katharina Krauses Aufsatz zu den Fastentüchern bei, mit denen zu bestimmten Zeiten im Kirchenjahr (nicht nur zur Fastenzeit) das gesamte Altarhaus verhängt wurde. Mit stupender Vollständigkeit wird die Geschichte der Gattung vom 12. bis 16. Jahrhundert für das Reichsgebiet dargestellt. Das überraschende Ergebnis lautet, dass von einem Verzicht an Bildern oder an Farben keine Rede sein kann; eine Demutsgeste vermittelt allein das textile Material. Man möchte aber weiter fragen, ob nicht die spätmittelalterlichen Velen mit ihren streng zeilengerecht angeordneten Bildern sich strukturell an Schriftmedien anlehnen und insofern eine alternative, eher an der Wortverkündigung orientierte Bildform entwickeln.
Angesichts der Fülle an neu gewonnenen Einsichten hat Thomas Lentes abschließend leichtes Spiel, um die These der Religionsgeschichte von der "gotischen Schaufrömmigkeit" in Frage zu stellen. Anstatt magischer Impulse oder einer subjektivierten Frömmigkeit nimmt er zu Recht die Rationalität von liturgisch kontrollierten "Sehritualen" wahr. Die losen Enden der Tagung aufzugreifen, ist dennoch nicht die Sache des als Ausblick auf weitere anthropologische Forschungen verstandenen Beitrags. So bedenkenswert es ist, in Umkehrung des Schlagworts von der "Privatisierung der Religiosität" nun der "Liturgisierung der privaten Frömmigkeit" nachzugehen, wünschte man sich doch statt der vielen prominenten Beispiele aus Buchmalerei und Grafik eine eher vertiefende Darstellung sowie konkretere Hinweise auf die Quellen der in Aussicht gestellten "Geschichte des Sehens".
Insgesamt verbindet die Publikation mit Bravour und einem erstaunlichen Synergieeffekt eine werkmonografische mit einer auf die Geschichte des religiösen Bildgebrauchs gerichteten Sicht. Künftige Forschungen, etwa zur ästhetikgeschichtlichen Bedeutung des Schnitzretabels, werden hier unmittelbar ansetzen können.
Ulrike Heinrichs-Schreiber