Eckart Conze / Monika Wienfort (Hgg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, 354 S., 5 Abb., ISBN 978-3-412-18603-6, EUR 39,90
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Der vorliegende Sammelband, hervorgegangen aus einer Tagung des Bielefelder Zentrums für interdisziplinäre Forschung, steckt sich ein ehrgeiziges Ziel, nämlich Adel und Adeligkeit, deren Veränderungen und Kontinuitäten durch die zahlreichen und multidimensionalen Brüche und Umbrüche des 19. und 20. Jahrhunderts zu verfolgen und dabei die europäische Perspektive nicht außer Acht zu lassen. Er reiht sich damit in eine jüngere Forschungstradition ein, die seit einigen Jahren die lange vernachlässigte Adelsgeschichte der letzten beiden Jahrhunderte, welche bis dahin weithin als kontinuierlicher Prozess des Abstiegs interpretiert worden war, mit dem Instrumentarium unterschiedlicher theoretischer Ansätze und methodischer Zugänge aufarbeitet. Dabei rekurrieren viele Beiträge auf die Strategien des "Obenbleibens" beziehungsweise gehen der Frage nach der Eigen- und Fremddefinition und -perzeption von Adel und Adeligkeit überhaupt nach. Besonders fruchtbar erwies sich hierfür das Habituskonzept Bourdieus mit seiner Unterscheidung von ökonomischem, sozialem und symbolischem Kapital. Und, dies sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen, diese Pluralität, deren Pole mit dem politik- beziehungsweise sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Zugriff einerseits, mit dem der neuen Kulturgeschichte andererseits zu benennen sind, spiegelt sich in der Gesamtheit der Beiträge dieses Bandes wider. Einige von ihnen zeigen darüber hinaus eindrucksvoll, wie nutzbringend eine Kombination dieser Ansätze sein kann. Mithilfe einer "kulturhistorisch sensible[n] politische[n] Sozialgeschichte" nicht nur den Adel selbst in seiner Außen- und Binnenperzeption der Veränderungen zu untersuchen, sondern neben dem "Ort des Adels innerhalb der ihn umgebenden Gesellschaft [...] auch [...] die Gesellschaft in ihrem historischen Wandel" in den Blick zu nehmen, dafür plädieren die Herausgeber in ihrer Einleitung (15).
Der Band, dessen Schwerpunkt auf Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt, gliedert sich in vier Teile. In Abschnitt I "Herrschaftspraxis und soziales Kapital" überwiegt methodisch der politik- und sozialgeschichtliche Zugriff. Es ist überdies der Teil, in dem europäische Perspektiven am deutlichsten zum Tragen kommen. Thomas Kroll beschäftigt sich mit dem toskanischen Adel im Risorgimento, wobei er insbesondere dessen Frontstellung gegenüber dem bürokratisch-absolutistischen Staat - und seinen nobilitierten Beamten - für die Öffnung zu einem moderaten Liberalismus hervorhebt. Auch die knappe Skizze von Claude-Isabelle Brelot zum "Verlangen nach Adel und Standeskultur im nachrevolutionären Frankreich" konzentriert sich auf das 19. Jahrhundert. Peter Mandler geht in seiner Analyse der "British Aristocracy" vor allem den Veränderungen der Struktur des Landbesitzes nach. Im Gegensatz zu der bekannten These von David Cannadine spricht er nicht von "Decline and Fall", sondern vom "Fall and Rise of the British Aristocracy" in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wobei die erneute Konsolidierung des Landbesitzes unter anderem mit der Wahrung des historischen Erbes öffentlichkeitswirksam legitimiert wurde. Jaap Dronkers und Huibert Shijft zeigen in ihrer soziologischen Analyse, wie sehr der holländische Adel des 20. Jahrhunderts bei aller Anpassung an die Imperative der modernen Gesellschaft beim Erwerb von Elitepositionen von althergebrachtem sozialem und kulturell-symbolischem Kapital profitieren konnte.
In Abschnitt II, welcher sich mit Elitenkonzepten befasst, untersucht Michael G. Müller zunächst den polnischen Adel im 19. Jahrhundert, für den durch die besondere politische Situation der Teilungszeit Krone und Monarchie nicht zum dominierenden Referenzpunkt wurden. "Adeligkeit als Elitenkompetenz" (101) wurde am ehesten dann anerkannt, wenn neben dem "guten Namen" mit der entsprechenden Sozialisation, professionelle Kompetenz und nicht zuletzt Engagement für die nationale Sache zusammenkamen. Die übrigen drei Beiträge dieses Teils widmen sich der Weimarer Republik beziehungsweise der NS-Zeit. Raffael Scheck beschreibt zunächst den Einsatz der "höfische[n] Intrige" und damit Mechanismen der Camarilla des Kaiserreichs, die sich im Umkreis der Kandidatur Hindenburgs zur Reichspräsidentschaft 1925 entfaltete. Stephan Malinowski und Sven Reichardt heben in ihrer Analyse von Adeligen im Führerkorps der SA bis 1934 einerseits die "lebensweltlichen Differenzen zwischen einer alten Herrschaftselite und den Männern einer proletarischen Straßenarmee" (121) hervor, präparieren aber auch die Elemente adeligen Lebensstils und Habitus heraus, die Anschlussmöglichkeiten an völkisches Gedankengut eröffneten. Nicht ihrer historischen Rolle, sondern der "Idee eines Neuadels in den Gesellschaftsvorstellungen der SS" geht Eckart Conze nach und betont die Rolle des Adels - bei allen Unterschieden - als weiterhin "entscheidende[n] Referenzpunkt für [...] Elitekonzepte bis weit ins 20. Jahrhundert" (176).
Teil III konzentriert sich auf "Aspekte von Adeligkeit". Insbesondere auf der Basis von Ego-Dokumenten wird der Konstruktion von Lebensentwürfen und Wertvorstellungen, wird Handlungsräumen und -spielräumen nachgegangen. Anschluss an die Geschlechtergeschichte findet sich so in den Beiträgen von Monika Wienfort, die das weite Spektrum adeligen Frauenlebens zwischen 1890 und 1939 in den Blick nimmt und von Marcus Funck, der den Veränderungen von adeligen Männlichkeitskonzepten nachspürt; eine Entwicklung, die vom am Ritterideal inspirierten Adeligen, der sich je nach Kontext im Zivilleben weich, feinsinnig und elegant und im militärischen Bereich als kriegerisch und hart zeigen konnte, weg und hin zu martialisch und rassistisch aufgeladenen Männlichkeitsentwürfen führte. Unter Rückgriff auf das Institutionenkonzept Rehbergs untersucht Josef Matzerath Mechanismen der "Institutionalisierung von Adeligkeit", und Angelika Linke stellt in ihrer interessanten Analyse der "Sozialsemiotik adeligen Körperverhaltens im 18. und 19. Jahrhundert der "Körper- und Raumbetontheit" des Adels, die langsam aber irreversibel zurücktrat, die Konzentration auf das Medium Sprache im Bürgertum gegenüber.
Der letzte Abschnitt knüpft methodisch in vielen Aspekten an Teil III an, wenn er sich "Adelsgeschichte als Erfahrungsgeschichte" zuwendet. Den Auswirkungen der Umbruchszeit nach 1800 auf Lebensgestaltung und Lebensentwürfe zweier Brüder von der Marwitz "in entsicherter Ständegesellschaft" geht Ewald Frie exemplarisch nach. Die Beiträge von Wencke Meteling und Karina Urbach hingegen untersuchen die Folgen einer weiteren drastischen Zäsur für das Selbstverständnis des Adels, nämlich den Ersten Weltkrieg und die Folgen der Niederlage von 1918. Karina Urbach kommt dabei das Verdienst zu, die Konzentration auf die preußische Entwicklung aufzubrechen und in ihrer Analyse der süddeutschen Standesherren die auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch deutlich erkennbare Heterogenität und Komplexität deutscher Adelslandschaften zu unterstreichen.
Naturgemäß sind die Beiträge bei einem zeitlich und thematisch so breiten Spektrum von beträchtlicher Heterogenität gekennzeichnet, woraus sich jedoch durchaus vielerlei interessante Querverbindungen und weiterführende Forschungsansätze ergeben. Deutlich zu kurz kommt allerdings - selbst wenn man die vielfach noch immer unbefriedigende Literatur- und Forschungslage in Rechnung stellt - die vergleichende europäische Perspektive; insbesondere die deutsche Adelsregionen und -gruppen behandelnden Aufsätze berücksichtigen diese kaum. Brennglasartig zeigt dies aber auch die nur sechsseitige Skizze zum nachrevolutionären Frankreich von Claude-Isabelle Brelot, die bislang eine Reihe von wichtigen Arbeiten zum französischen Adel nach 1789 publiziert hat: Gerade der Vergleich mit und der Kontrast zur französischen Entwicklung wäre sicherlich anregend und weiterführend gewesen.
Hedwig Herold-Schmidt