Ingrid Richter: Katholizismus und Eugenik in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Zwischen Sittlichkeitsreform und Rassenhygiene (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen; Bd. 88), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2001, 572 S., ISBN 978-3-506-79993-7, EUR 46,40
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War die ältere Forschung zur Eugenik / Rassenhygiene strikt geistesgeschichtlich oder politikgeschichtlich orientiert, erfolgt seit neuerem - unter Aufnahme angelsächsischer Forschungseinflüsse - die Wende zu einer "Sozialgeschichte der Ideen" und einer darauf basierenden Geschichte eugenikpolitischer Praxis. Im Zentrum steht die Erforschung pro-eugenischer "Pressure-groups" in sozio-politischen Milieus des Kaiserreiches und der Weimarer Republik. Die Analyse einer "Sozialistischen Eugenik" zwischen 1890 und 1933 führte zur klaren Unterscheidung zwischen NS-Rassenhygiene und einer vielschichtigen "Weimarer Eugenik", innerhalb derer "Konfessionelle Eugenik" eine wichtige Rolle spielte. [1]
Die Studie der Münsteraner Theologin Ingrid Richter bietet in diesem Forschungskontext ein vertieftes Bild der wichtigen Relation zwischen "Katholizismus und Eugenik" im Deutschland der Jahre 1918 bis 1945. Besonders verdienstvoll erscheint, dass Richter nicht nur das Bild katholischer "Weimarer Eugenik" komplettiert, das in entscheidenden Umrissen bereits anderswo gezeichnet worden ist, sondern dass sie die bisher kaum erforschte katholische Eugenik auch unter den radikal gewandelten Bedingungen des "Dritten Reiches" eingehend diskutiert. Durch den breiten Untersuchungsrahmen und den methodisch überzeugenden Ansatz gelingt es Richter, eine unfruchtbare "Verengung auf das Dritte Reich" (19) ebenso zu vermeiden wie eine rein personenzentrierte Forschung auf herausragende katholische Eugeniker wie Hermann Muckermann oder Joseph Mayer (20). Stattdessen geht es um "eine systematische Analyse der Entstehungs- und Handlungsbedingungen katholischer Eugenik" (21), die "eine detaillierte Untersuchung der Haltung der deutschen Bischöfe und der katholischen Funktionsträger zur Sterilisierung und Eugenik sowie zur Euthanasie im Dritten Reich" (20) einschließt.
Verglichen etwa mit dem sozialistischen Arbeiterbewegungsmilieu, das bereits in den Jahrzehnten ab 1890 eine intensive Eugenik-Debatte entwickelte, ist laut Richter die eugenische Inkubationsphase des katholischen Milieus deutlich später anzusetzen - und zwar erst zur Zeit der Weimarer Republik. Der entscheidende Ansatzpunkt war - ähnlich wie im protestantischen Milieu - die Schnittstelle zwischen quantitativ-geburtenfördernder Bevölkerungspolitik, wie sie im Weltkrieg-führenden Kaiserreich seit 1914 von bürgerlichen Politikern, Bürokraten, Kirchen- und Verbandsfunktionären forciert wurde, und einer diese Geburtenförderung nach qualitativ-erbgesundheitlichen Gesichtspunkten differenzierenden "positiven Eugenik" (55 ff.). Die wissenschaftlich wie finanziell mangelhafte Praktikabilität solcher Geburtenförderung ebnete auch im Katholizismus rasch einer negativen, geburtenverhindernden Eugenik den Weg (77), die sich zunächst noch auf freiwillige Beratungskonzepte beschränkte. Die Zentrumspolitik hat Unfruchtbarmachung in den deutschen Parlamenten ein Jahrzehnt lang wirksam blockiert, bevor sie - in Preußen - 1932 freiwillige Sterilisationspolitik zu befürworten begann. Differenzierte Reaktionen im katholischen Milieu Deutschlands gab es seit 1930 auch auf die sterilisationsfeindliche, aber nicht grundsätzlich eugenik-feindliche päpstliche Enzyklika "Casti Connubii" (282 ff.). Die "sterilisationspolitische Wende des Zentrums in Preußen 1932" (289) etablierte 1932/33 vorübergehend zwei konkurrierende "innerkatholische Standards in der Frage der eugenischen Sterilisierung". Erst die radikale NS-Sterilisationspolitik ab 1933 erzeugte eine ziemlich einheitliche Ablehnungsfront im deutschen Katholizismus (311).
In dem der NS-Zeit gewidmeten Teil ihrer Arbeit (313-510) zeigt Richter zunächst, wie einschneidend der 1933 erfolgende "Paradigmenwechsel" von der Weimarer Eugenik zur NS-Rassenhygiene auf die katholische Eugenik zurückwirkte, die mit der NS-Machtübernahme wichtige Machtpositionen in Politik, Bürokratie und wissenschaftlicher Politikberatung verloren hatte. Im prominenten Falle Hermann Muckermanns führte dieser radikale Außendruck zur Anpassung an die "päpstliche" Eugenik-Linie und das "katholische Mehrheitslager" (319). Demgegenüber verstärkte Joseph Mayer seine schon vor 1933 etablierte Außenseiterposition im eigenen Milieu, indem er "Affinitäten mit dem NS-Rassismus erkennen" ließ und eine überaus schwankende Haltung zur Zwangssterilisation einnahm (322 f.). Gleichzeitig gerieten im NS-Staat gemäßigte "Konzepte katholischer Eugenik" ins politische "Abseits" (337). Deren Meinungsführer distanzierten sich von der auch im internationalen Vergleichsmaßstab außerordentlich radikalen NS-Sterilisationspolitik, ohne diese freilich effektiv zu behindern. Als der Versuch der deutschen Bischöfe fehlging, das NS-Regime zur Rücknahme der Zwangsklausel zu bewegen, brachen schon im Episkopat heftige Konflikte darüber aus, inwieweit man sich öffentlich von der Sterilisationspolitik des Deutschen Reiches distanzieren sollte (416-418). In der Sterilisationspraxis kam es trotz grundsätzlicher Ablehnung und des Versuchs, katholisches Ärzte- und Pflegepersonal der Mitwirkung zu entziehen (was bei Richter leider nur punktuell berührt wird), zu prekärer und uneinheitlicher Schaukelpolitik (vergleiche 445). Rückblickend ist es den katholischen Bischöfen im katholischen Milieu "nur partiell gelungen, die autoritativen Entscheidungen des Lehramtes durchzusetzen", denn "der Standard der grundsätzlich ablehnenden Haltung zur eugenischen Sterilisierung" wurde durch die partielle "Mitarbeit" katholischer Funktionsträger an der gesellschaftlichen Durchsetzung der NS-Sterilisationspolitik gleichzeitig dementiert und entwertet. In Sachen Abtreibung und Lebensvernichtung ("Euthanasie") sah die Haltung der Kirche und des katholischen Milieus weit entschiedener aus.
Zusammenfassend stellt Richter fest, dass sich die Katholiken im Vergleich mit anderen sozialmoralischen Milieus der deutschen Gesellschaft erst "verspätet" mit Eugenik zu beschäftigen begonnen hätten - bis um 1920 sei katholische Bevölkerungspolitik rein quantitativ (geburtensteigernd) ausgerichtet gewesen. Dies sei in der Weimarer Republik zu einer positiven, das heißt geburtenfördernden Eugenik erweitert worden, während eine negative, das heißt geburtenverhindernde Eugenik zunächst allenfalls als freiwillige Maßnahme (durch sittliche Selbstkontrolle "Minderwertiger") diskutiert worden sei (511). Doch trotz der päpstlichen Entscheidung von 1930 sei es unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise zur "sterilisationspolitischen Wende des preußischen Zentrums" 1932 gekommen (517), die ihrerseits durch die "rassenhygienische Wende von Weimar zum Dritten Reich" rasch überholt worden sei (518). Nach 1933/34 wurde der katholische Eugenik-Diskurs zusehends durch den Konflikt um die Zwangssterilisation überlagert und erstickt (521 ff.). Bei alledem blieb "katholische Eugenik" - laut Richter - "eine von Eliten betriebene" Angelegenheit ohne breitenwirksame Verankerung. Vor allem modern eingestellte Teile katholischer Funktionseliten favorisierten demnach das eugenische Projekt - "der Sozialkatholizismus, katholische Frauenorganisationen und Politiker des 'linken Flügels' der Zentrumspartei" (524). Dass Eugenik in der Wahrnehmung der Zeitgenossen alles andere als "reaktionär" war, gibt für unsere Gegenwart umso mehr Anlass zu Besorgnis und Selbstbefragung.
Anmerkung:
[1] Der Begriff "Weimar eugenics" wurde geprägt von Paul J. Weindling: Health, Race and German Politics between national unification and Nazism, 1870-1945, Cambridge 1989; ein in wichtigen Punkten modifiziertes Konzept "Weimarer Eugenik", innerhalb dessen - anders als bei Weindling - auch negativ-eugenische (Zwangs-)Maßnahmen ihren Platz haben, bei Michael Schwartz: Konfessionelle Milieus und Weimarer Eugenik, in: Historische Zeitschrift 261 (1995), 403-448; vgl. auch Michael Schwartz: Sozialistische Eugenik. Eugenische Sozialtechnologien in Debatten und Politik der deutschen Sozialdemokratie 1890-1933, Bonn 1995.
Michael Schwartz