Otto Dann / Miroslav Hroch / Johannes Koll (Hgg.): Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches (= Kölner Beiträge zur Nationsforschung; Bd. 9), Köln: SH-Verlag 2004, 411 S., ISBN 978-3-89498-114-3, EUR 44,80
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Der vorliegende Sammelband über die Entstehung des Nationalbewusstseins in Mitteleuropa ist aus einem Forschungsprojekt über das Alte Reich hervorgegangen, das nach dem Zusammenbruch des Ostblocks auf die ostmitteleuropäischen Staaten ausgedehnt wurde. Die insgesamt 15 Beiträge behandeln neben Deutschland (4) Böhmen (4), die Slowakei (1), Westpreußen (1), die Niederlande (1), Belgien (1), die Schweiz (1) und Tirol (2). Zeitlich erfassen sie die Übergangsperiode von 1770-1815. Die Gemeinsamkeit fast aller Beiträge ist die Untersuchung von Ethnien, die es erst im 19. und 20. Jahrhundert zu einer eigenen Staatsbildung gebracht haben. Gemeinsam ist auch allen Beiträgen die Quellenbasis, nämlich die Analyse von Vereinen und Zeitschriften, die anhand des Konzeptes des Nation-Building untersucht werden.
Allerdings ist Nationalismus kein neues Thema der Historiografie. Auch der methodische Zugriff über die Begriffsgeschichte ist nicht neu. Die ältere Forschung lokalisierte die Entstehung des Nationalgefühls in der Französischen Revolution und erklärte es als Reaktion auf die napoleonische Expansion auch im übrigen Europa. Allerdings sei es nur in Ausnahmen wie Spanien, Tirol und auch Preußen schon damals als Faktor des historischen Prozesses in Erscheinung getreten. In den anderen Ländern gilt die aufstrebende bürgerliche Intelligenz als Träger des entstehenden Nationalgefühls und als Kern der anschließenden Massenmobilisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts.
Die einzelnen Beiträge untersuchen die Entstehung einer Gruppenidentität anhand des aufklärerischen Begriffsfeldes von "Patriot" und des Gebrauchs von "Nation" als Ausdruck von Massenmobilisierung. Anke Waldmann geht der Ausweitung des bürgerlichen Reichspatriotismus von Kaiser und Fürsten auf die Untertanen nach; Holger Böning verfolgt die Einbeziehung der Bauern in den Patriotismusbegriff der ökonomischen Aufklärungsschriften. Dirk A. Reder fragt nach der Rolle der Frauenvereine von 1813 als Frühform einer Einbeziehung der Frauen in die Nationalbewegung. Die patriotischen Gesellschaften der Schweiz blieben hingegen eine Organisationsform des städtischen Patriziats; erst die französisch inspirierte Helvetik wird das Landvolk mit patriotischer Propaganda zu erfassen suchen (Böning). In den welschen Konfinen Tirols hielt die Akademie von Rovereto die Zugehörigkeit zur italienischen Kulturnation aufrecht, bevor das Trentino ab 1803 einen weiteren Identifikationsrahmen für Welschtirol bot (Reinhard Stauber).
Eine besondere Rolle wird der Kirche als Rahmen nationaler Identität zugeschrieben (Anna Skýbová für Böhmen, Eva Kowalská für die Slowakei und Laurence Cole für Tirol). Auch der Beitrag der Historiografie im Sinne einer Nationalgeschichte (Eduard Maur für Böhmen, Johannes Koll für Belgien) spielte eine besondere Rolle bei der Identitätsbildung. Die Beispiele Holland (Nicolaas van Sas) - der Gegensatz zwischen Demokraten / Batavern und Aristokraten / Oraniern - und Belgien - der Aufstand der Patrioten gegen die josephinischen Reformen 1789 - zeigen das Wechselspiel zwischen einer so genannten modernen und einer altständischen Politisierung. Am nächsten kommt der These vom aufstrebenden Bürgertum Miroslav Hroch, der die Entstehung des tschechischen Nationalgefühls als eine von der bürgerlichen Intelligenz getragene Modernisierungskrise definiert. Die Vorstufe eines ständischen Patriotismus schließlich wird von Anna Drabek am tschechischen Fall und von Miloš Rezník am westpreußischen Fall herausgearbeitet.
Das Verdienst des Bandes liegt darin, den Blick der Nationswerdung auf die kleinen Ethnien zu lenken, bis hin zu den welschen Untertanenlanden Tirols am Rande des Alten Reichs. Damit ergänzt er den von einem der Herausgeber, Otto Dann, zusammen mit John Dinwiddy schon 1988 herausgegebenen Sammelband "Nationalism in the Age of the French Revolution". Insgesamt werden neben der - im Falle Österreichs aufgeklärten - Dynastie die altständischen Organisationseinheiten Adel und Kirche und als neuer Kristallisationskern die aufklärerische Intelligenz als Träger einer Identifikation auf der Basis der jeweiligen Ethnie herausgearbeitet. Die Einbeziehung des Volkes beziehungsweise der Unterschichten wurde zwar von den alten wie neuen Eliten thematisiert, aber nur vereinzelt - von der Kirche - erreicht (Spanien, Tirol). Ansonsten bleibt die Mobilisierung der Massen - selbst in den französischen Tochterrepubliken - Programm. Der vielschichtige Prozess der Nationswerdung, das heißt die Einbeziehung des Volkes in eine neue Identität, dies macht der Band deutlich, verlief sowohl über altständische Organisationsmodelle als auch über den neuen Volksbegriff der Aufklärung. Der Sonderfall der "verspäteten Nation" Deutschland scheint so eher die Regel als eine Ausnahme zu sein. Umso erstaunlicher ist die große Ausnahme des revolutionären Frankreich, dem eine nirgends sonst im damaligen Europa festzustellende Massenmobilisierung über die neue Identität der Nation gelang.
Bernd Wunder