Hans-Werner Goetz: Europa im frühen Mittelalter. 500 - 1050 (= Handbuch der Geschichte Europas; Bd. 2), Stuttgart: Eugen Ulmer 2003, 480 S., 8 Karten, ISBN 978-3-8252-2427-1, EUR 24,90
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Der Prozess der europäischen Integration wirft seinen langen Schatten auch auf die Vergangenheit oder vielmehr das Bild, das Fachhistoriker und Laienpublikum sich von ihr machen. Längst hat er die Epochengrenze zum Früh- und Hochmittelalter überschritten, hat auf der beständigen Suche nach Wurzeln und Kontinuitäten etwa Kaiser Heinrich II. zur 'Zierde Europas' erhoben und in Karl dem Großen den 'Vater Europas' wieder entdeckt. Das Konzept 'Europa' konnte sich innerhalb der Mediävistik als politik- und publikumswirksame Parole etablieren, zugleich mag es indes als substanzielles Moment im wissenschaftlichen Reflexionsprozess über die Aktualität des Mittelalters wirksam sein. Der von Hans-Werner Goetz vorgelegte zweite Band des Handbuchs zur Geschichte Europas stellt einen wichtigen Meilenstein auf der Suche nach einer europäischen Perspektive der modernen Mediävistik dar. Der Verfasser wendet sich den Wurzeln und dem allmählichen Werden des modernen Europa in der Zeit des frühen Mittelalters zu, freilich ohne diese Epoche a priori als identitätsstiftenden Urgrund moderner politischer Leitbilder zu apostrophieren oder gar in legitimatorischer Absicht an den Beginn heutiger Staatensysteme zu stellen. Wohltuend erscheint vielmehr das Ansinnen des Autors, sein vornehmlich abendländisch definiertes Forschungsfeld in seinen epochenspezifischen Eigenheiten - seiner "Mittelalterlichkeit" - ernst zu nehmen.
Der Konzeption der Reihe folgend nimmt der Verfasser das gewaltige Wagnis auf sich, einen systematisierenden und vergleichenden Abriss eines Zeitraums von gut einem halben Jahrtausend auf aktuellem Forschungsstand zu erarbeiten. Doch erhält sein Werk dabei nur in seinem ersten Darstellungsabschnitt die Konturen eines traditionell herrschaftszentrierten Handbuches. In enzyklopädischer Knappheit entfaltet Goetz zunächst ein breites Panorama der vielfältigen politischen Gemeinschaftsbildungen auf dem Boden des frühmittelalterlichen Europa. Auf diese Basis wird im Anschluss ein breit angelegter strukturgeschichtlicher Epochenquerschnitt gesetzt, der sorgsam ausgewählte Facetten der politischen, sozialen und kulturellen Vielfalt des Frühmittelalters umfasst und dabei unzählige Aspekte von der Königswahl über die Stellung der Frau, den Ertrag des Bodens bis hin zu Fragen der Reichskirche und der laikalen Frömmigkeitsformen aufgreift. Der Fokus der Darstellung wurde dabei bewusst auf die fränkischen Teilreiche im Herzen des Kontinents gelegt, die eine idealtypische Kontrastfolie zu den Verfassungs- und Strukturgegebenheiten der angrenzenden Regionen bilden. Der Verfasser folgt in seiner fachkundigen und aspektreichen Auswahl den vielfach verästelten Pfaden der mediävistischen Frühmittelalterforschung und lässt sich nicht selten von seinen eigenen umfänglichen Forschungsinteressen leiten. Goetz eröffnet dem Leser damit ein breit gefächertes Spektrum an Fragestellungen und Themenfeldern, das er mit nahezu dem gesamten Arsenal methodischer Zugriffsweisen kompetent zu durchdringen versteht. Dazu tragen nicht zuletzt die - essayistisch gehaltenen - forschungsgeschichtlichen Skizzen zu den einzelnen Gegenstandsbereichen bei, in denen ausgewählte Aspekte der Strukturkapitel nochmals aufgegriffen und argumentativ vertieft werden. Obgleich sich bei solch einem Vorgehen inhaltliche Doppelungen nicht immer vermeiden lassen, liegt in der Kombination von Strukturabriss und Forschungsüberblick der vermutlich größte Wert der Gesamtdarstellung. Für den Fachhistoriker hält das Handbuch zahlreiche weiterführende Gedankengänge und anregende Detailbeobachtungen bereit, Studierenden und interessierten Laien ermöglicht es einen raschen und übersichtlichen Zugang zu Stand und Perspektiven der gegenwärtigen Frühmittelalterforschung. Vor diesem Hintergrund mag die mitunter mühselige Orientierung im stark durchgliederten Literaturverzeichnis sowie das äußerst komprimierte Druckbild des Bandes die Lesefreude eines breiteren Publikums nicht allzu sehr trüben, auch wenn dem inhaltsreichen und instruktiven Werk von Seiten des Verlages zweifellos ein großzügigeres Erscheinungsbild zu wünschen gewesen wäre.
Jan Keupp