Marc von Miquel: Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts; Bd. 1), Göttingen: Wallstein 2004, 446 S., ISBN 978-3-89244-748-1, EUR 44,00
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Die Sechzigerjahre gelten in der Geschichte der Bundesrepublik gemeinhin als eine Periode der fortschreitenden Demokratisierung und zunehmenden politisch-moralischen Öffnung der Gesellschaft. Im Umgang mit der NS-Vergangenheit und den NS-Tätern zeigten sich jedoch noch deutlich die Grenzen dieser Entwicklungen, meint Marc von Miquel in seiner 2002 bei Norbert Frei in Bochum abgeschlossenen und nun erschienenen Dissertation. Er untersucht dabei zwei große Konfliktfelder, die maßgeblich zur Politisierung der NS-Vergangenheit während der Sechzigerjahre beitrugen: 1. die Kontroverse über den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der Justiz und 2. die Debatten über die strafrechtliche Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen (Ahndung oder Amnestierung/Verjährung). Sein Ansatz ist explizit politikgeschichtlich und orientiert sich an dem von seinem Doktorvater für die Fünfzigerjahre entwickelten Konzept der "Vergangenheitspolitik", die von Miquel hier vereinfacht als "politisches Handeln gegenüber den 'Tätern'" (11) definiert.
Nun hat die Strafverfolgung von NS-Verbrechen, speziell was den Zeitraum der späten Fünfziger- und Sechzigerjahre anbelangt, in den letzen Jahren vermehrt das Interesse der Geschichtswissenschaft auf sich gezogen. Vieles, was von Miquel in seiner Untersuchung darstellt, ist daher spätestens seit den bereits in den Jahren 2001 und 2002 erschienenen Arbeiten von Michael Greve und Annette Weinke nicht mehr ganz neu. [1] Freilich legt von Miquel auf der Basis einer breiten Quellengrundlage sicher die bislang minuziöseste Darstellung etwa der Vor- und Gründungsgeschichte der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg oder der Verjährungsdebatten 1964/65 und 1968/69 vor; und er verfolgt eine etwas andere Fragestellung als bisherige Untersuchungen zu dieser Thematik.
Der Autor stellt fest, dass sich in den Sechzigerjahren zwar partiell eine wachsende Bereitschaft entwickelt habe, sich das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen zu vergegenwärtigen und aus politisch-moralischen Gründen ein Ende der strafrechtlichen Verfolgung dieser Verbrechen abzulehnen. Große Teile der bundesdeutschen Politik und Justiz hätten jedoch noch immer eine Ausweitung der Ermittlungen und eine Prolongierung der strafrechtlichen Ahndung von NS-Verbrechen abgelehnt oder zumindest eine Amnestierung so genannter "kleiner Täter" oder von Beihilfe-Taten gefordert. Sie wussten sich dabei in Übereinstimmung mit der bundesdeutschen Bevölkerung, die sich mehrheitlich gegen eine Fortführung der NS-Prozesse aussprach.
Insbesondere der Bundesjustiz stellt der Autor in diesem Zusammenhang kein gutes Zeugnis aus. Das Bonner Justizministerium weigerte sich, die von einigen Bundesländern geforderte Zwangspensionierung von erheblich belasteten Richtern mit zu tragen, und beharrte in den Verjährungsdebatten 1960 und 1964/65 auf einem rein juristischen Standpunkt, der eine Verschiebung oder Verlängerung der Fristen mit den Hinweis auf das Rückwirkungsverbot im Grundgesetz ablehnte, obwohl die Rechtslage keineswegs eindeutig war. Als Hauptursache für dieses Verhalten sieht der Autor neben dem Schielen auf die Wählerschaft die "außerordentlich hohe [...] Personalkontinuität" (65) in der Bundesjustiz seit der NS-Zeit sowohl beim Bundesgerichtshof als auch im Ministerium selbst.
Von Miquel konstatiert einen Grundwiderspruch zwischen der personellen Kontinuität zur NS-Justiz und der normativen Diskontinuität des demokratischen Rechtsstaats, der auch in den Sechzigerjahren nur von einer Minderheit als Problem erkannt worden sei. Eine entschiedene Absetzung vom NS-Unrecht sei deshalb unterblieben. Den Belasteten wurde es leicht gemacht, sich einer "Säuberung" weitgehend zu verweigern. Auch die meisten Nicht-Belasteten oder NS-Gegner unter den Juristen und Justizpolitikern stellten sich, in dem Glauben vor sie, den Rechtsstaat oder den Richterstand insbesondere vor kommunistischen Angriffen verteidigen zu müssen.
Der Beginn einer systematischen Ermittlungstätigkeit der Justiz nach der Gründung der Zentralen Stelle 1958 in Ludwigsburg ist zuletzt vor allem als eine kompensatorische Maßnahme der Justizminister gesehen worden. Sie habe den Zweck verfolgt, die zunehmende öffentliche Kritik wegen der Versäumnisse in der Strafverfolgung und der NS-Belastung der Richter zu entschärfen. Dieser Interpretation schließt sich von Miquel im wesentlichen an, auch wenn er die Bedeutung der vorausgehenden justizinternen Initiative aus Baden-Württemberg wieder stärker betont. Die Zentrale Stelle markiert für ihn zwar einen Neubeginn bei der Strafverfolgung von NS-Verbrechen, allerdings einen eher halbherzigen. Denn die neue Ermittlungsstelle wurde zunächst nur mit wenig Personal ausgestattet und ihre Zuständigkeit auf nur wenige Verbrechenskomplexe beschränkt.
Den Hauptgrund, dass sich die Politik 1965 schließlich, wenn schon nicht zu einer Verlängerung, so doch zu einer leichten Verschiebung des Beginns der Verjährungsfrist durchringen konnte, sieht von Miquel nicht in einer inneren Demokratisierung oder einer durchgreifenden politisch-moralischen Wende, sondern in außenpolitischem Druck. Die diesem Beschluss vorausgehende Bundestagsdebatte, die oft als "Sternstunde" des Parlaments bezeichnet wurde, beurteilt er recht kritisch. Denn das ganze Ausmaß der Verbrechen und das daraus folgende Leid und Sühnebedürfnis der Opfer sei darin nur ganz vorsichtig angesprochen worden. Die für eine Verjährung vorgebrachten juristischen Argumente hält er für vorgeschoben. Dahinter vermutet er fortdauernde Bestrebungen zur Integration der Täter, die er ebenso wie die vielfach mit der "Einheit der Nation" begründete Kompromissbereitschaft der Verfechter einer Verlängerung oder gänzlichen Abschaffung der Verjährungsfrist als "Nachwirkung der 'volksgemeinschaftlichen' Erfahrung im 'Dritten Reich'" (303) deutet. Ja, er geht so weit, die strafrechtliche Ahndung von NS-Verbrechen überhaupt in den "Schatten der Volksgemeinschaft" (so die Überschrift des gesamten zweiten Teils der Arbeit) zu stellen. Eine derartige Folgerung erscheint jedoch problematisch und zu eindimensional. Sie wird der Vielschichtigkeit der Motivationen und Kausalitäten in dieser Frage, die von politischem Pragmatismus über Legalismus bis zu Verdrängungsmechanismen und Schlussstrichdenken reichten, nicht gerecht.
Diese Kritik trifft sich mit einer weiteren. Leider gehört auch von Miquel zu der größer werdenden Autorenschar, die heutige moralische Maßstäbe an das Verhalten der zeitgenössischen Akteure anlegt. Er tut dies nicht nur in einer abschließenden Wertung, was man akzeptieren könnte, sondern nahezu durchgehend. Da wird den Beteiligten eine "tendenziöse Rechtsauffassung" (241) unterstellt, ist von "Impertinenz" (308) oder einer "skandalösen Praxis" (360) die Rede. Zum Verständnis der Handelnden trägt eine solche Argumentationsweise wenig bei. Sein moralischer Impetus verleitet den Autor auch dazu, die juristische Problematik der Strafverfolgung unter zu bewerten. Gerade im Rückblick auf den nationalsozialistischen Unrechtsstaat gab es etwa gute Gründe, das Argument der Rechtssicherheit zu betonen und die rückwirkende Änderung von Strafbestimmungen abzulehnen. Dass es daneben bessere Gründe gab, einer Verjährung mit Rücksicht auf die Opfer und die Einzigartigkeit der Massenverbrechen entgegenzutreten, hätte sich auch in einer nüchterneren Form darlegen lassen.
Insgesamt hinterlässt die informative, umfassend recherchierte und gut lesbare Studie auf Grund der genannten Kritikpunkte doch einen etwas zwiespältigen Eindruck.
Anmerkung:
[1] Michael Greve: Der justitielle und politische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren. Frankfurt/Main u.a. 2001; Annette Weinke: Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Paderborn u.a. 2002.
Andreas Eichmüller