J.B. Bullen: Byzantium Rediscovered, Berlin: Phaidon Verlag 2003, 240 S., ISBN 978-0-7148-3957-8, EUR 75,00
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Im Revival der mittelalterlichen Kunst- und Architekturstile des 19. und 20. Jahrhunderts kommt neben Neugotik, Neuromanik und Rundbogenstil eine spezifische Ausrichtung vor, die zwar registriert, bis heute jedoch noch nicht als (mehr oder weniger) zusammenhängende Gruppe bearbeitet worden ist: Es handelt sich um die Bildende Kunst und Architektur des Neubyzantinismus. Der Autor J. B. Bullen, Englischprofessor an der University of Reading und in der Historismusforschung bereits durch seine Bücher über die Theorie der Neurenaissance und die Präraffaeliten bekannt [1], wagt sich hier auf inhaltlich wie methodisch brüchiges Terrain, da ja schon eine eindeutige Klassifikation des "Byzantinischen" Mühe bereiten und erst recht eine Filtration durch die Brille des 19. Jahrhunderts den Blick verklären kann. Bullen nimmt jedoch ganz unbeirrt das Thema in Angriff und bietet eine nach Ländern geordnete Gesamtschau, die einen ersten Überblick erlaubt. Innerhalb der jeweiligen geografischen Kapitel werden dann weiterhin einzelne Architekten, Künstlergruppen, Bauwerke sowie kunsttheoretische Ansätze der Zeit vorgestellt und analysiert. Der Vorteil dieser Systematik ist die Möglichkeit der Präsentation von Quantität und Vielfältigkeit des Neubyzantinismus, die zudem durch das tatsächlich hervorragende, hauptsächlich farbige Bildmaterial bereichert wird. Der Nachteil ergibt sich durch die Gefahr der Wiederholung typischer Elemente bei gleichzeitiger Verwässerung des Essenziellen, das Bullen nur in einer abschließenden Conclusio allzu kurz nochmals hervorhebt.
Die im Vorwort geschilderte Ausgangssituation des unmittelbaren Nebeneinanders von neugotischem Houses of Parliaments und der nicht weit davon entfernten neubyzantinischen Kirche Westminster Cathedral (1895-1903) von J. F. Bentley im Zentrum Londons weckt das Interesse des Lesers am Stilpluralismus der historistischen Architektur und lenkt sein Augenmerk auf die bislang weniger bekannten neubyzantinischen Baukonzepte. Einem kurzen historischen Abriss über Byzanz von seinen Anfängen 330 nach Christus mit der Gründung Konstantinopels über den Herrscher Justitian mit seiner sagenumwobenen Frau Theodora bis hin zum endgültigen Zusammenbruch des Reiches 1453 durch die türkische Eroberung Konstantinopels folgt die Auflistung der bedeutendsten byzantinischen "Vorzeigebauten", die in den weiteren Ausführungen immer wieder vom Autor herangezogen werden: die Hagia Sophia, San Vitale in Ravenna, San Marco in Venedig und die normannischen Bauten in Sizilien wie die Capella Palatina oder die Martorana. Bereits hier könnte man die Frage nach einer "reinen" byzantinischen Architektur und ihrer Typologie stellen und würde zu keiner klaren Antwort kommen. Bullen vermeidet diese Fragestellung eher, statt direkt eine inhärente Stilvermischung bei byzantinischer, arabischer und romanischer Architektur zu konstatieren. Auch in der darauf folgenden einleitenden Rezeptionsgeschichte des 19. Jahrhunderts fehlt eine saubere Abgrenzung des Neubyzantinismus zu Neuromanik und Rundbogenstil. Bullen verweist jedoch immerhin auf die verwirrende Terminologie im 19. Jahrhundert mit dem Begriff "byzantinisch" für alles "Rundbogige", in dessen Kontext auch der Rundbogenstil einzuordnen ist: "'Rundbogenstil' was neither Byzantine nor Romanesque but a generalized form or both, and its principal characteristic was that, in its unadorned simplicity, it was not Gothic." (8) So bleibt denn nur eine anfängliche, sehr summarische Hauptthese, die auch in den Einzelkapiteln nicht weiter differenziert wird: Neubyzantinismus wird definiert als das Wiederaufleben des Byzantinismus Konstantinopels um 1860 mit dem Einsatz von Kuppelbauten, Hufeisenbögen sowie Marmor- und Mosaikausstattungen (9).
Interessant ist allerdings, wie Bullen dann in den nachfolgenden geografischen Darstellungen bekannte historistische Bauten wie Klenzes Allerheiligen-Hofkirche, Wagners Kirche Am Steinhof, die restaurierte St. Paul's Cathedral oder Richardsons Christ Church in New York unter dem Aspekt des im 19. Jahrhundert erwachsenden Mythos des Byzantinischen neu ausleuchtet. Je nach Land, Zeitphase und individuellen Vorlieben von Bauherrn und Architekt wird das Byzantinische mit unterschiedlichen Konnotationen bedacht: als Ursprung der mittelalterlichen Tradition und damit legitimiert für nationale und sakrale Weihestätten, gleichzeitig aber auch Insignie für die exotische, kostbar ausgestattete und sinnenfreudige Welt des Orients. Für den deutschsprachigen Raum mit Bayern, Preußen und Österreich greift Bullen die Bauten der bayerischen Könige Ludwig I. und Ludwig II., die Potsdamer Friedenskirche unter dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV., Theophil Hansens Architektur in Wien, Otto Wagners Kirche Am Steinhof sowie Gustav Klimts Fresken und Gemälde für Brüssel und Wien heraus. Am Anfang, als erste neubyzantinische Kirche in Europa, steht Leo von Klenzes Allerheiligen-Hofkirche in München, die nach den Vorstellungen Ludwigs I. bis 1837 nach dem Vorbild der sizilianischen Capella Palatina im Inneren mit einem umfangreichen Mosaikprogramm auf Goldgrund ausgestattet wurde. Ludwig II. übernahm diese Faszination am byzantinischen Glanz und ließ sich in Schloss Neuschwanstein einen Thronsaal in Form einer überkuppelten Doppelkapelle mit vergoldeten Fresken und Marmorverkleidungen errichten. Etwas obskur muten die von Bullen angeführten Motivationen der beiden Ludwigs für die Wahl des byzantinischen Stils an: bei Ludwig I. soll es seine Vorliebe für schöne Frauen gewesen sein ("His taste in women was as eclectic as his taste in architecture"; 19), bei Ludwig II. sei es die Angst vor der eigenen Homosexualität und seine Scheu vor Frauen gewesen, die er angeblich mit Richard Wagner geteilt haben soll: "they were both extremely anxious about their own sexuality and had a particular problem with female sexuality." (36) Solche Freud'schen Analysen sind kurzweilig zu lesen, tragen aber nicht unbedingt zur Interpretation der neubyzantinischen Kunst bei. Sie finden sich noch an mehreren Stellen im Buch (so bei Moreau, Ruskin, dem Amerikaner Ralph Adams Cram) und wirken tatsächlich zumeist deplatziert. Die einzig passende Einführung des erotischen Aspekts in Verbindung mit dem Byzantinischen findet sich bei Darstellung der Fresken und Gemälde Klimts. Klimt setzt in "Erfüllung" oder in "Der Kuss" intime Körperlichkeit in die abstrakte, unbewegliche Gestensprache des Byzantinischen um: eine Form der Säkularisierung bei gleichzeitiger "Ikonisierung" der menschlichen Liebesbeziehung (53).
Der Neubyzantinismus in Frankreich wird für Bullen theoretisch untermauert durch die Herleitung der französischen Gotik aus dem Byzantinismus, den Prosper Merimée in den romanischen Kirchen St-Gilles-du-Gard und St-Germain-des-Prés in Paris zu erkennen glaubte (57). Vor allem nach dem Französisch-Preußischen Krieg 1870/71 wurde diese Manifestation des Byzantinischen in der eigenen nationalen Geschichte zu einer politischen Rivalität zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich. Während vor 1870 noch besonders die romanischen Kirchen des Rheinlandes wie Maria Laach oder St. Aposteln in Köln auch in Frankreich als byzantinische Vorbilder galten, verschob sich nach der Kriegsniederlage diese Bewertung zu Gunsten französischer Bauten. Léon Vaudoyer errichtete die mächtige neubyzantinische Kirche Sainte-Marie-Majeure in Marseille zwischen 1852 und 1893 als architektonische Präambel der mediterranen und orientalischen Bezüge Frankreichs, getragen auch durch die sozial-philosophischen Ansätze des Saint-Simonismus. (67) Auch Sacré-Cœur in Paris sollte in dieser Tradition gesehen werden: Von Paul Abadie zwischen 1875 und 1919 gebaut, ist sie mit ihren weißen Kuppeln ein neubyzantinisches Symbol der französischen Kirche.
Eine nationale Identifikation mit Byzanz wie in Deutschland oder Frankreich existierte in England in dieser Form nicht, eine Annäherung fand vielmehr über die romantische Schwärmerei eines John Ruskin oder das sozial-kunsthandwerkliche Engagement William Morris' und der Arts-and-Crafts-Bewegung statt. Wie eng Ruskins "love affair" (125) mit dem byzantinischen Venedig war, verdeutlichen neben seinen Schriften auch seine Zeichnungen und Aquarelle, von denen einige in hervorragender Druckqualität im Buch erscheinen. Das mittelalterliche Kunstempfinden der Präraffaeliten und die Ästhetisierung des Handwerks der Arts-and-Crafts-Bewegung fanden in der Gestaltung neubyzantinischer Kuppelbauten zusammen, so bei der Mosaikausstattung der St. Paul's American Church in Rom, 1894 durch Edward Burne-Jones, deren technische Umsetzung durch William Morris unterstützt wurde (158). Eine ähnlich kunsthandwerkliche Komponente in Verbindung mit der byzantinischen Formensprache stellt Bullen auch für Nordamerika um die Jahrhundertwende fest: Louis Comfort Tiffany als Glaskünstler und Designhändler großen Stils setzte vor allem den Reichtum der Ornamentik und des farbigen Materials ein, um eine neubyzantinische Mode zu etablieren, teilweise eng mit der Formenwelt des Art Nouveau verbunden.
Hinsichtlich der architektonischen Ausrichtung ist allerdings fraglich, ob Amerikas bekanntester historistischer Architekt, Henry Hobhouse Richardson, uneingeschränkt als "Neubyzantinist" apostrophiert werden kann. Zwar übernimmt die Christ Church in New York im Inneren in Ansätzen das Raumkonzept der Hagia Sophia, am Außenbau sind jedoch eher Bezüge zum südfranzösischen, spanischen und normannischen Sakralbau zu finden.
Bullens Vorstellung und Analyse des Neubyzantinismus ist auf jeden Fall eine lesenswerte Lektüre und vor allem auch ein ästhetisch ansprechendes Buch, in dem schon ein anfängliches Blättern Freude bereitet. Die Leistung liegt besonders in der erstmaligen Zusammenschau von Architektur und Ausstattung in diesem neubyzantinischen Kontext des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Weitere Ausdifferenzierungen werden dann die Aufgabe daran anschließender Forschungsarbeiten sein.
Anmerkung:
[1] J. B. Bullen: The Myth of the Renaissance in Nineteenth-Century Writing. Oxford: Claredon Press 1994; ders.: The Pre-Raphaelite Body: Fear and Desire in Painting, Poetry and Criticism. Oxford: University Press 1998.
Stefanie Lieb