Andreas Hartmann / Michael Neumann (Hgg.): Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Band 1: Antike, Regensburg: Friedrich Pustet 2004, 230 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-7917-1872-9, EUR 26,90
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Der vorliegende Sammelband "Mythen Europas" bildet ausgehend von der Antike lediglich den Auftakt einer geplanten siebenbändigen Reihe, die entlang markanter Schlüsselfiguren einen Längsschnitt durch die "Geschichte der europäischen Imagination" (17) legen soll.
Gegenstand der Darstellung ist der aus den verschiedensten politischen, religiösen, kulturellen und ökonomischen Interessen entstandene imaginative Raum, der sowohl die Geschichte als auch die gegenwärtige Bedeutung und Kultur Europas, die sich nicht auf die Rekonstruktion so genannter harter Strukturen und Systeme reduzieren lasse, erklären könne. Der Begriff der Erfahrung ist dabei von zentraler Bedeutung. Ausgehend von der Feststellung, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier stets über weitaus mehr Erfahrungen verfügt, als er selbst je machen könnte, wird der Fokus der Untersuchung auf so genannte Schlüsselfiguren gerichtet, die dadurch, dass sie Vernunft und Emotionen sehr vieler Menschen - oft einer ganzen Epoche - bündeln, zu Bestandteilen der kollektiven Imagination und Erinnerung werden. Für den Sammelband ist jedoch nicht nur der vergangene Zeithorizont von Interesse, sondern ebenso die Zukunft, die - insofern die erinnerten Erfahrungen auf sie projiziert werden - die Bedingungen möglicher Geschichte erkennbar werden lässt.
Der methodische Ansatz schließt sich an ebenso aktuelle wie umfassende Forschungsfelder an, die in der Einleitung kurz skizziert werden. Zu nennen wären hier die mit den Namen Maurice Halbwachs, Jan Assmann oder Aby Warburg verbundene Forschungen zur 'kulturellen Erinnerung' und die Untersuchungen zur den realen Raum transzendierenden Raumwahrnehmung und -erfahrung, die vor allem auf das Konzept der "Lieux de mémoire" von Pierre Nora zurückgehen.
Das Konzept der "Schlüsselfigur" verspreche darüber hinaus, neue Forschungsergebnisse zu zeitigen. Zum einen seien jene Figuren, insofern sie die Projektionsfläche der unterschiedlichsten psychischen und kognitiven Anliegen ihrer Zeit bilden, geeignet, die stets unsteten Grenzen zwischen 'bewusst' und 'unbewusst' näher bestimmen zu können. Zum anderen könnte über sie ein Zugang zu den einzelnen, konkreten Menschen auch der ungebildeten Bevölkerungsschichten hergestellt werden, deren Welterfahrung sie ebenso dokumentieren, im Gegensatz zu den von der Elite verfassten schriftlichen Quellen.
Die zentrale Frage des Sammelbandes besteht darin, kraft welcher Wirkungen sich Figuren als Schlüsselfiguren etablieren konnten beziehungsweise welche Wünsche, Sehnsüchte und Bedürfnisse es waren, denen sie eine Antwort zu geben versprachen.
Der anderen Frage, auf welches gegenwärtige Interesse jene Figuren reagieren und was sie im Einzelnen zu Mythen Europas werden ließ, fühlen sich die verschiedenen Beiträge in sehr unterschiedlichem Maße verpflichtet. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Beitrag von Hans-Joachim Gehrke über Alexander den Großen, in dem ausgehend "von der immer noch vorhandenen und höchst wirksamen Tendenz zur Heldenverehrung" (80) darauf verwiesen wird, dass die Geschichte als magistra vitae nur dann ihren Sinn behalte, wenn nicht nur danach gefragt werde, warum Geschichte gemacht wird, sondern auch wie und unter welchen Bedingungen sie geschieht. Ausgehend von Alexander wird hier an die Opfer, den Preis siegreichen Heldentums, erinnert.
Stefan M. Maul zeigt anhand der westlich geprägten Vorstellung vom "Orientalischen Despotismus", wie geläufige Topoi durch historische Interpretationen überzeugend revidiert werden können. Am Beispiel des Gilgamesch, der mit dem um 2750 vor Christus lebenden König von Uruk im heutigen Irak identifiziert wird, werde ein mit bloßen Machtansprüchen unvereinbares Königsbild erkennbar.
Auf der berühmten elften Tafel des Epos, die von der Sintflut berichtet, wird der an seiner eigenen Hybris gescheiterte Gilgamesch von dem altbabylonischen Noah unterrichtet. Dieser rät ihm in Folge seiner Verfehlungen jedoch nicht, sein königliches Amt niederzulegen, sondern es in der Sorge um die Menschen und die Götter wieder aufzunehmen, die allein die Voraussetzung für Helden- und Ordnungstaten sei.
Barbara Graziosi nimmt in ihrem Beitrag die berühmte 'homerische Frage', ob die Epen von nur einem oder mehreren Dichtern stammen, anhand der antiken Homerbiografien erneut auf. Nicht diese Frage soll jedoch zu einem Ende geführt werden, sondern der merkwürdige Befund, dass die divergierenden Angaben über Lebenszeiten und Geburtsorte die Antike anders als die moderne Forschung kaum interessierten. Am Beispiel ihrer Ausführungen soll gezeigt werden, wie aufschlussreich die Untersuchung von Imaginationen sein kann.
Die Angabe zahlreicher Geburtsorte entstand beispielsweise dadurch, dass jeder Rhapsode eine individuelle Beziehung zu der jeweiligen Stadt dadurch herzustellen versuchte, dass er entweder eigene Beziehungen zu Homer hervorhob oder die Stadt schmeichlerisch als dessen Geburtsort bezeichnete. Dies veranlasste das griechische Publikum jedoch nicht, die Identität Homers in Frage zu stellen. Sie, die schon lange gewohnt waren, Homer als Panhellenen zu imaginieren, fühlten sich durch diese heterogenen Berichte eher bestätigt.
Keine Figur, sondern ein Schlüsselereignis liegt dem Beitrag von Susanne Gödde über den Raub der Sabinerinnen zu Grunde, in dem gezeigt wird, dass Mythen stets den politischen Verhältnissen angepasst werden. Anhand der Darstellung des Geschlechterverhältnisses werde erkennbar, dass in augusteischer Zeit, in der viele der uns bekannten Berichte verfasst wurden, das Bild der geraubten Frau durch die Konstruktion der gezähmten und willigen Frau ersetzt worden sei. Diese Umschreibung des Mythos, der von der Niederwerfung und Integration der Sabinerinnen berichtet, habe in augusteischer Zeit, die neue Selbstbilder und Identifikationsfiguren benötigte, die politische Funktion übernommen, die Gewalt der Gründungsgeschichte unter Augustus zu rationalisieren.
Dass auch aus einzelnen Charakteren Mythen werden können, versucht Hans Jürgen Tschiedel am Beispiel von Caesar herauszustellen. Hin und her gerissen zwischen den "wahren Abgründen sittlicher Verkommenheit" (115) einerseits und dem Bild des "liebenden Ehemannes" (116) andererseits, scheint eine über die moralischen Werturteile hinausgehende Interpretation, die nach den Voraussetzungen dieser Zuschreibungen hätte fragen können, nicht vorgesehen gewesen zu sein.
Rezeptionsgeschichten setzen im Vergleich dazu immer schon auf einem höheren Reflexionsniveau ein. Manfred Clauss stellt in seinem Beitrag die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Kleopatra heraus sowie die Tatsache, dass ihre Geschichte von vornherein durch den Blick der anderen bestimmt war beziehungsweise von ihren siegreichen römischen Feinden geschrieben wurde.
Jürgen Malitz stellt in seinem Aufsatz über Nero dessen Künstlertum in den Mittelpunkt der Untersuchung, das, wie er überzeugend zeigt, wichtige soziale und politische Funktionen für die Beziehungen zwischen Kaiser und Aristokratie übernommen hat. Die aktive Ausübung von Bildhauerei oder Malerei, die von keinem anderen Römer von Stand bezeugt werde, und das Interesse für Philosophie und Musik, dem die Aristokratie zwar innerhalb ihrer Privatsphäre Raum verschaffte, das sie aber von der Öffentlichkeit streng getrennt hielt, wurde von Nero in ostentativer Absicht genutzt. Um die Aristokratie zu deklassieren, zog es Nero zum Beispiel bei öffentlichen Auftritten vor, an Stelle der standesüblichen Leier die Kithara, ein Instrument der Berufskünstler, einzusetzen. Gesten wie diese, mit denen er sich die Gunst des Volkes zu erwerben suchte, hatten durchaus machtpolitische Funktionen, da sie vor allem dann zum Einsatz kamen, wenn die Probleme mit der senatorischen Führungsschicht am größten waren.
Die Frage, welche Bedingungen das Ende der antiken Philosophie und die Ausbreitung des Christentums erklären, wird von Pedro Barcélo am Beispiel Constantins des Großen und von Andreas Merkt weit entfernt vom kaiserlichen Hof anhand des heiligen Antonius untersucht. Letzterer stellt, wie auch zahlreiche neuere Forschungen, heraus, dass insbesondere das Mönchtum die antike Philosophie, die ebenfalls immer an konkrete Lebensformen gebunden war, allmählich verdrängen konnte.
Eine sehr schöne und dezidierte Darstellung erfährt die augustinische Christologie in dem Beitrag von Norbert Fischer. Dass die Person Jesus Christus jedoch keine Gestalt ist, die sich unproblematisch in die Liste mythologischer Schlüsselfiguren einschreiben ließe, zeichnet sich auch in diesem Aufsatz ab, in dem trotz der zu Anfang dargelegten erkenntnistheoretischen Vorbehalte letztlich Zuflucht genommen wird bei der Historizität Jesu, die schließlich wieder seine Überlegenheit gegenüber allen ungeschichtlichen Mythen erkläre.
Das hier gewählte Konzept der Schlüsselfiguren ist vergleichbar der anderen Sammelbänden zu Grunde liegenden Zielsetzung. Um die Antike modernen Lesern in ihrer Fremdheit wieder zugänglich zu machen, wird verschiedentlich der Fokus auf "große Gestalten" oder "große Texte" gerichtet, von denen aus sich der Leser weitere Zusammenhänge erschließen kann. [1] Dem eigenen Anspruch, ein breiteres Publikum zu erreichen, werden die Autoren insofern gerecht, als die einzelnen Figuren jeweils mit zeitübergreifenden historischen, politischen oder auch lebensphilosophischen Fragestellungen verbunden werden.
Anmerkung:
[1] Kai Brodersen (Hg.): Große Gestalten der griechischen Antike. 58 historische Portraits von Homer bis Kleopatra, München 1999; Martin Hose (Hg.): Große Texte alter Kulturen. Literarische Reise von Gizeh nach Rom, Darmstadt 2004; Karl-Joachim Hölkeskamp u.a. (Hg.): Sinn (in) der Antike. Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum, Mainz 2003.
Claudia Horst