Sascha Feuchert / Erwin Leibfried / Jörg Riecke u.a. (Hgg.): Letzte Tage. Die Łódzer Getto-Chronik. Juni/Juli 1944 (= Schriftenreihe zur Łódzer Getto-Chronik), Göttingen: Wallstein 2004, 256 S., 15 Farb-, 26 s/w-Abb., ISBN 978-3-89244-801-3, EUR 19,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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"Keine Ausreise-Aufforderung, eine Ration, 1 Laib Brot - diese drei Fakten an einem Tag hatten die Kraft, das Getto glücklich zu machen. Mit einem Wort: ein goldener Samstag!" Mit diesen Sätzen endet der Tagesbericht der so genannten Łódzer "Getto-Chronik" am 1. Juli 1944, geschrieben einen Monat vor der endgültigen Räumung des Gettos, in deren Folge fast alle noch verbliebenen Bewohner in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet wurden. Letztendlich erlebten nur etwa 870 von ursprünglich über 160.000 Menschen die Befreiung durch die Rote Armee im Januar 1945.
Der Chronik lag das Bestreben zu Grunde, unter den Bedingungen der Zwangsgemeinschaft des Gettos die täglichen Ereignisse zusammenzutragen und in Form einer fortlaufenden Dokumentation festzuhalten. Geführt wurde diese Chronik von den Mitarbeitern des Archivs des Gettos, das zur Verwaltung des Vorsitzenden des Judenrates Mordechaj Chaim Rumkowski gehörte und auf dessen Initiative Ende 1940 gegründet worden war. Es handelt sich also mit anderen Worten um eine höchst wertvolle Quelle, welche die Geschehnisse im Getto Łódz von Anfang 1941 bis Ende Juli 1944 dokumentiert und somit einen Blick auf die Lebensbedingungen und Reaktionen der Bewohner aus einer Innenperspektive ermöglicht.
Befremdlich erscheint angesichts dessen, dass die Chronik bislang von der Forschung kaum rezipiert worden ist und bis heute nur in Auszügen und mit starken Eingriffen vonseiten der Herausgeber in publizierter Form vorliegt. Diese Randständigkeit der Chronik in der Historiografie muss als symptomatisch für den Umstand bezeichnet werden, dass die westliche Historiografie die Geschichte der Shoah weitgehend vor allem auf der Grundlage deutscher Dokumente geschrieben hat und somit in erster Linie aus der Sicht der Täter. Jüdische Quellen wurden hingegen bisher kaum rezipiert. Um so verdienstvoller ist daher das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung geförderte Projekt der Edition des gesamten Textes der Łódzer Chronik, welche derzeit in Kooperation von der Gießener Arbeitsstelle Holocaustliteratur und dem Staatsarchiv Łódz vorbereitet wird und im kommenden Jahr erscheinen soll. Das hier zu rezensierende Buch stellt eine Vorabveröffentlichung dar, die anlässlich des 60. Jahrestages der Räumung des Gettos im vergangenen Jahr erschienen ist und die Tagesberichte der letzten beiden Monate bis zum Abbruch der Chronik enthält.
Eingeleitet wird der Band durch eine kompetente Einführung von Sascha Feuchert über die Geschichte des Łódzer Gettos und den Entstehungskontext der Chronik sowie durch die sehr lesenswerten Überlegungen von Jörg Riecke über die Sprache der Chronikberichte. Riecke zeigt hierbei auf, wie sich die Lebensbedingungen des Gettos in der Sprache des Textes widerspiegeln und wie dessen Autoren bestrebt waren, durch die feste chronologische Form eine Normalität zu konstruieren, um so die alles andere als normale Ausnahmesituation der Zwangsgemeinschaft erträglich zu machen. Gleichzeitig verweist der teilweise feuilletonistische Schreibstil auf den Anspruch, Texte für spätere Leser nach der Welt des Gettos zu verfassen, und in diesem Sinne stellt die Chronik letztlich einen "Triumph jüdischen Überlebenswillens" dar, wie Feuchert zutreffend feststellt.
Die Lektüre der Tageseinträge der Chronik macht dann schnell deutlich, welche Erkenntnismöglichkeiten der Quellentypus Selbstzeugnisse des jüdischen Lebens bieten kann. Die täglichen Berichte über Lebensmittelrationen und Hunger, über Tuberkulose und Diphtherie vermitteln einen drastischen Einblick in die Lebensbedingungen der Menschen im Getto, in dem die Gefahr des Todes allgegenwärtig war; die Auswirkungen der nationalsozialistischen Politik werden am Beispiel konkreter Schicksale deutlich.
Diese Perspektive sollte nicht zuletzt mit der aktuellen Diskussion über die deutsche Ostforschung verknüpft werden, in deren Texten "die Juden" in der Regel nur noch als quantitative und verschiebbare Größe auftauchen, obwohl Personen wie dem "Experten" für das osteuropäische Judentum, Peter-Heinz Seraphim, die Lebensumstände im Getto aus eigener Anschauung bekannt waren. Die Chronik verdeutlicht demgegenüber, dass die Bewohner des Gettos eben keine anonyme und kollektiv handelnde Masse darstellten, die passiv ihr Schicksal erlitten hätte. Vielmehr werden trotz der knappen Berichtsform die verschiedenen Interpretations- und Handlungsformen der Menschen deutlich, die sehr individuell auf ihre Situation reagierten. Die Konfliktlinien verliefen hierbei auch zwischen den verschiedenen jüdischen Gruppierungen, wie die häufigen Suppenstreiks belegen, die von linken Gruppen wie dem Bund als Protest gegen die Politik Rumkowskis organisiert wurden. Gegenüber dem gemeinsamen Feind der deutschen Besatzungsmacht versuchten sich die Menschen trotz der Abriegelung des Gettos von der Außenwelt durch Maßnahmen wie einen in einem Kinderwagen improvisierten Gemüsegarten (działka) gegen den Hunger zu wehren und sich mittels illegal vorhandener Radios über den Kriegsverlauf zu informieren. Mit dem Wissen um den weiteren Gang der Geschichte ist es sehr bedrückend, dass gerade die letzten Tageseinträge vor der Räumung des Gettos angesichts des Näherrückens der Front in einem hoffnungsvolleren Ton verfasst worden sind.
Insgesamt stellt das Buch eine Edition von außergewöhnlichem Quellenwert dar, die durch eine sorgfältige Textgestaltung sowie eine ansprechende Umsetzung durch den Wallstein-Verlag abgerundet wird und darüber hinaus zu einem sehr erschwinglichen Preis auf den Markt kommt. Die überfällige Publikation der Łódzer Chronik liegt offensichtlich in den richtigen Händen.
Hans-Christian Petersen