Gudula Gutmann: Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn 1890 bis 1894/95. Der Zweibund im Urteil der führenden Persönlichkeiten beider Staaten, Münster: Scriptorium 2004, IX + 503 S., ISBN 978-3-932610-27-1, EUR 40,00
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Gudula Gutmann hat in ihrer Dissertation den Zweibund von 1890-1894/95 im Spiegel der führenden politischen Persönlichkeiten untersucht. Zwölf Personen werden vor- und sich gegenübergestellt: die Kaiser, nämlich Franz Joseph und Wilhelm II., die Leiter der Außenpolitik, wie Caprivi, Marschall und Kálnoky; die Botschafter in Berlin und Wien, nämlich Reuss, Eulenburg, Széchényi und Szögyény sowie Wolkenstein (St. Petersburg), und außerdem noch ausgewählte wichtige Mitarbeiter wie Holstein oder Aehrenthal. Lose inspiriert wurde die Konstruktion dieser Dissertation, wie ein einleitendes Zitat aus der Aemiliusvita zeigt, von den Parallelviten des Plutarch. Der Zeitraum erklärt sich durch die Entlassung Bismarcks 1890 einerseits, die Entlassung Caprivis und Kálnokys 1894 und 1895 andererseits. Eines der hier behandelten Probleme ist die in der Forschung kontrovers behandelte Frage, in welcher Weise die Entlassung Bismarcks die Gewichte innerhalb der Allianz verschoben habe. Hatten die Österreicher nach Bismarcks Abgang an Einfluss und Spielraum gewinnen können? Um es vorweg zu sagen: Nur in der Einleitung, nicht aber in der Arbeit selbst werden Fragen, die in der Literatur zum Thema diskutiert werden, erwähnt. Der Text ist darstellend und arbeitet fast ausschließlich mit Quellenmaterial. Gutmann kennt die Sekundärliteratur, wie die Einleitung zeigt, aber sie hat deren Fragestellungen nicht mit ihren eigenen Forschungen vernetzt.
Diese Arbeit sollte erklärtermaßen keine Mentalitätsgeschichte sein. Gutmann formuliert ihre Erkenntnisinteressen wie folgt: "Ziel dieser Arbeit ist es gleichwohl, die persönlichen Ansichten und Erfahrungen einzelner Diplomaten und Staatsmänner zur Grundlage zu nehmen und darauf aufbauend die Auswirkungen auf und die Wechselwirkungen mit der Außenpolitik zu untersuchen. Zu prüfen ist ferner, welchen Einfluss Sympathien und Antipathien auf die Gestaltung der Politik hatten und welche Folgen möglicherweise daraus erwuchsen" (9).
Gutmann erstellte keine Biografien der Persönlichkeiten, sondern eine aus den veröffentlichten und unveröffentlichten Akten und den Nachlässen gearbeitete Darstellung ihrer Ansichten über die Allianz und den Bündnispartner. Diese folgt einem vorgegebenen Schema und untersucht die Kommentierung der politischen Ereignisse im fraglichen Zeitraum durch die jeweils behandelte Persönlichkeit.
Das Fazit, das sie in ihrer Schlussbetrachtung zieht, ist vertraut: Wechselseitiges gewaltiges Geschimpfe übereinander; die Deutschen behandeln die Österreich-Ungarn mit Verachtung, Arroganz und Schroffheit und werden von jenen wegen ihrer fehlenden Sensibilität, ihrer Unfähigkeit, die Probleme der Donaumonarchie zu verstehen, und wegen ihres mangelnden Taktes ebenfalls verachtet. Die jeweiligen Kapitelüberschriften: "Kaiser Wilhelm II. - Der "Piefke" sprechen für sich. Schließlich sei die Allianz, so Gutmann, in Gefahr geraten, "von innen ausgehöhlt zu werden und zu einer Farce zu verkommen". Einzig die Angst, ohne Partner allein dazustehen, hielt das Bündnis intakt. "Schließlich war ein schlechtes Bündnis besser als eine völlige Isolierung" (397). Das dürfte allerdings zu pessimistisch sein, da der Vergleich zeigen würde, dass im damaligen Europa alle Staatsführungen über ihre jeweiligen Bündnispartner stöhnten und diese oft zum Teufel wünschten. In diesem Vergleich würde der Zweibund immer noch gut dastehen.
Gutmann hat viel Quellenmaterial für ihre Untersuchung herangezogen, auch aus entlegenen Archiven, und die Arbeit wird für Historiker, die sich mit der Geschichte des Zweibunds in dieser Zeit beschäftigen, deshalb nicht ohne Wert sein. Trotzdem will dieses Buch nicht wirklich überzeugen. Das Problem sehe ich in der gewählten Grundkonzeption. Dies ist weder eine Biografiensammlung noch eine Studie der politischen Vorgänge oder Entscheidungsmechanismen und auch nicht der politischen Grundüberzeugungen, sondern eine Ansammlung von Meinungen und Kommentaren zu politischen Vorgängen, die in der zwölfmaligen Wiederholung ermüden. Gutmann sah dieses Problem wohl auch und erklärte, sie wolle die Ereignisse aus verschiedenen Blickwinkeln spiegeln. Natürlich wurden die fraglichen Vorgänge von den einzelnen Persönlichkeiten unterschiedlich bewertet, aber die Unterschiede sind nicht pointiert genug, oder nicht pointiert genug herausgearbeitet, um die Arbeit wirklich zu tragen. Welche anderen Möglichkeiten hätten sich für Gudula Gutmann geboten, ihre Intention umzusetzen? Von ihren Erkenntnisinteressen, von den verwendeten Quellen und der Gesamtfragestellung her fühlt man sich an die biografischen Teile von Federico Chabods Klassiker: "Storia della Politica Estera Italiana dal 1870 al 1896" erinnert. Chabod hatte ebenfalls auf die Untersuchung politischer Entscheidungsvorgänge verzichtet, stattdessen aber, in einer umfassenderen biografischen Herangehensweise, die politischen Grundideen, die politische Kultur der außenpolitischen Entscheidungsträger scharf herausgearbeitet. 1951 erschienen, unzählige Male neu aufgelegt, ist dieses Buch auch heute noch ein unverzichtbares Standardwerk zum Thema.
Insofern lag in Gutmanns Vorhaben durchaus eine Chance, und es muss ihr zugute gehalten werden, dass sie ein umfangreiches Quellenmaterial ausgewertet hat. Die Frage ist jedoch, ob sie nicht mit einer anderen Konzeption, einer breiteren Fragestellung, die nicht nur die Ansicht ihrer Protagonisten über den Zweibund, sondern auch deren politische, soziale und kulturelle Grundüberzeugungen untersucht und verglichen hätte, zu umfassenderen Erkenntnissen gelangt wäre.
Holger Afflerbach