Dorothee Hochstetter: Motorisierung und "Volksgemeinschaft". Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK) 1931-1945 (= Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 68), München: Oldenbourg 2005, IX + 537 S., ISBN 978-3-486-57570-5, EUR 69,80
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Was haben auf den ersten Blick so unterschiedliche Männer wie Altbundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, der frühere bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß, der Verleger Franz Burda, der Althistoriker Alfred Heuß und der Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg miteinander gemeinsam? Eine Antwort auf diese Frage gibt Dorothee Hochstetters Studie über das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK), die auf eine Dissertation an der Freien Universität Berlin zurückgeht. Diese fünf Männer, die die politische und intellektuelle Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig geprägt haben, waren 1933 ins NSKK eingetreten und wurden dort manchmal nur wenige Jahre, teilweise aber bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes, als Mitglieder geführt. Nach dem 8. Mai 1945 galt dies zunächst als Kavaliersdelikt, weil das NSKK, so eine verbreitete Ansicht, unpolitisch gewesen sei. Selbst der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg erklärte diese Gliederung der NSDAP nicht zu einer verbrecherischen Organisation, und in den Spruchkammerverfahren, die eigentlich der Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft dienten, wurde die Zugehörigkeit zum NSKK fast schon automatisch mit "politischer Unschuld" gleichgesetzt. Es verwundert insofern nicht, dass die NS-Forschung dem NSKK bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt hat, schien eine Beschäftigung mit diesem offenbar marginalen Thema doch wenig lohnend zu sein.
Hochstetter legt nunmehr die erste Monografie zum NSKK vor und zeigt darin, wie wichtig selbst auf den ersten Blick eher nebensächliche Themenfelder für die wissenschaftliche Erforschung des "Dritten Reiches" sind. Die Quellenbasis ist breit und umfasst 52 Archive und fast 100 Periodika, Zeitungen und Zeitschriften. Den Hauptgegenstand der Untersuchung bildet "die Organisationsgeschichte des NSKK und seine Funktion im nationalsozialistischen Herrschaftssystem" (11). Die Autorin fragt danach, inwieweit das NSKK nach dem 30. Januar 1933 sein selbst erklärtes Ziel erreichte, die Führung in allen Bereichen des Kraftfahrtwesens zu übernehmen. Methodisch schließt sie an die Diskussion um das Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Modernisierung an. Sie interessiert, welchen Anteil das NSKK an der Motorisierungspolitik des NS-Staates hatte und inwieweit sich diese auf Richtung, Reichweite und Tempo der Modernisierung im Deutschen Reich auswirkte. Es geht ihr insofern um einen eigenständigen Beitrag zu der umstrittenen Frage, inwiefern die NS-Politik intentional auf einen Wandel im technologischen Sektor abzielte.
Die Autorin nähert sich diesen Fragen in elf Kapiteln. Zuerst handelt sie die Anfänge des NSKK seit 1931 ab, in der diese paramilitärische Organisation noch zur Sturmabteilung (SA) gehörte. Es folgt das mit mehr als 80 Seiten längste Kapitel der vorliegenden Studie über Aufbau, Führerkorps und Mitglieder des NSKK und über dessen Stellung im NS-Staat. Die drei darauf folgenden Kapitel sind dann der "Gleichschaltung" der Automobilclubs, den NSKK-Motorsportschulen und der Funktion des Motorsportes im "Dritten Reich" gewidmet. Drei weitere Kapitel beschäftigen sich mit den Einflussversuchen der NSKK-Führung auf die Automobilindustrie, die Kraftfahrsachverständigen und Fahrlehrer sowie auf die Verkehrssicherheit. In ihren beiden letzten Kapiteln zeichnet die Autorin nach, welche Rolle das NSKK in der "Judenpolitik" des NS-Regimes spielte und auf welche Weise sich die Funktionen dieser Organisation im Zweiten Weltkrieg veränderten. Der Leser erfährt eine Fülle neuer Details, die auch für andere Bereiche der NS-Forschung von Interesse sind. So zeigt Hochstetter, wie intensiv die NSKK-Korpsführung spätestens seit 1935/36 mit dem Reichskriegsministerium und der Heeresführung zusammenarbeitete, um männlichen Jugendlichen die für eine moderne Kriegführung notwendigen motortechnischen Kompetenzen zu vermitteln. Den motorisierten Sonderformationen der Hitler-Jugend, die von Angehörigen des NSKK ausgebildet wurden, kam dabei eine besondere Bedeutung zu, denn sie waren für männliche Jugendliche aufgrund des allgemeinen Interesses an Technik äußerst attraktiv. Außerdem weist die Autorin nach, dass das NSKK die Beseitigung des "jüdischen Einflusses" aus dem Automobilwesen und dem Straßenverkehr forcierte und sich an vorderster Front an der "Reichskristallnacht" vom 7. bis 10. November 1938 beteiligte.
Neben der Ausgrenzung und Stigmatisierung der Juden lagen die wichtigsten Funktionen des NSKK in der "Gleichschaltung" der Automobilvereine und des Motorsports, der emotional-affektiven Integration der "Volksgenossen" bei Motorsportveranstaltungen, dem Anpassungsdruck auf Berufsangehörige des Kraftfahrzeugwesens, der Vorbereitung der männlichen Jugend auf den Krieg und der logistischen Unterstützung der NS-Kriegführung. An den politischen Entscheidungsprozessen des NS-Regimes, daran lässt die Autorin keinen Zweifel, hatte das NSKK keinen Anteil. Weder nahm die NSKK-Korpsführung nennenswerten Einfluss auf die verkehrspolitische Gesetzgebung, noch leistete sie einen eigenständigen Beitrag zur Gestaltung der NS-Motorisierungspolitik. Eigentlich war das NSKK ein Speditions- und Transportunternehmen, dessen sich andere NS-Institutionen je nach politischer Opportunität bedienen konnten. Keinesfalls beherrschte das NSKK das Kraftfahrtwesen im Deutschen Reich, wie Korpsführer Adolf Hühnlein und seine Mitarbeiter stets vollmundig deklamierten.
Es ist nun allerdings diese relative Bedeutungslosigkeit des NSKK im "Dritten Reich", aus der einige doch gravierende Probleme resultieren. Die Studie zerfließt mehr und mehr in eine Geschichte der Motorisierung im NS-Staat, hinter der das NSKK als Institution immer weiter verschwindet. Weil das NSKK keinen Anteil an der NS-Motorisierungspolitik hatte, erweist sich die Frage nach den modernisierenden Wirkungen dieser Politik als völlig unergiebig. Die Bedeutung des NSKK lag, wie die Autorin selbst nachweist, in der inneren Mobilisierung der "Volksgemeinschaft", der Vorbereitung auf den Krieg und der logistischen Unterstützung der Kriegführung. Es wäre besser gewesen, wenn sich die Untersuchung stärker an diesen Themen orientiert und den Stellenwert des NSKK bei der "inneren Formierung" des NS-Regimes herausgearbeitet hätte. Dann hätten auch die inneren Strukturen des NSKK und dessen komplexe Mechanismen der Mitgliederintegration stärker berücksichtigt werden können, als das in der vorliegenden Studie geschieht. Die eingangs postulierte Organisationsgeschichte des NSKK bleibt insofern defizitär.
Im Grunde genommen liefert Hochstetter bloß eine halbierte Geschichte des NSKK, in der dessen interne Organisationskultur fast vollkommen ausgespart wird, und eine perspektivisch verengte Darstellung der NS-Motorisierungspolitik. Letztere zeigt sich darin, dass die Autorin - trotz aller empirischen Kärrnerarbeit - darauf verzichtet hat, die Akten der für die Motorisierungspolitik wichtigsten Behörden auszuwerten, darunter das Reichsfinanz- und das Reichsverkehrsministerium, das Reichsministerium des Innern, der Vierjahresplan und die Dienststelle des Generalinspekteurs für das Straßenwesen. Sie kann sich nicht entscheiden, welchen Teilbereich sie untersuchen soll. Bei einer stärkeren Fokussierung auf die Organisationsgeschichte des NSKK hätte ohne weiteres ein Drittel des Textumfangs entfallen können. Der größte Gewinn von Hochstetters Studie besteht darin, mit der Legende aufgeräumt zu haben, das NSKK sei unpolitisch gewesen. Sie zeigt, dass diese Organisation auf bürgerliche Männer eine große Anziehungskraft ausgeübt hat. Möglicherweise trug das NSKK auch dazu bei, dass die "moralische Resistenz" des deutschen Bürgertums gegenüber dem NS-Regime zusehends schwand, wie es Hans Mommsen einmal formuliert hat.
Armin Nolzen