Hubert Burda / Christa Maar (Hgg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, 2. Aufl., Köln: DuMont 2004, 452 S., ISBN 978-3-8321-7873-4, EUR 24,90
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Wir leben im Zeitalter der Bilder und des Sichtbaren. Nichts soll unseren Augen verborgen bleiben, alles wollen wir sehen oder, da unsere Augen zu schwach sind, mit optischen Instrumenten sichtbar machen: Entferntes und Mikroskopisches, den Mars genauso wie die Viren, die uns bedrohen. Das Potenzial der Bilder erschütterte soeben die ganze Welt: Was niemand für möglich hielt, zeigen die Bilder aus Abu Ghraib, Spiegel, die der Macht die Masken wegreißt und ihre Arroganz als monströse Fratze sichtbar werden lässt.
Es ist die Zeit des pictorial oder iconic turn, die der amerikanische Literaturwissenschaftler William Mitchell und der deutsche Kunsthistoriker Gottfried Boehm vor zehn Jahren prophezeiten, die Zeit der global zirkulierenden Bilder, die unser Selbstverständnis nicht mehr länger nur illustrieren, sondern bedrohen, die uns Angst einjagen, uns verwirren und deren Schönheit uns immer auch wieder betören. Allerorten sind jetzt Bilder Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion, nicht nur in den Geisteswissenschaften. Die Biowissenschaften bedienen sich ihrer, etwa, um den Bereich der Nanometerskala zu bebildern oder um den menschlichen Wahrnehmungsapparat, die 'Bilder im Kopf', anatomisch zu lokalisieren und biochemisch zu verstehen. Dem iconic turn in allen Bereichen der Wissenschaft ist auch der gleichnamige Band von Christa Maar und Hubert Burda gewidmet, Ergebnis der 2003 in München veranstalteten Vortragsreihe, in der außer Kunsthistorikern und Philosophen auch Neurobiologen, Mathematiker, Computerwissenschaftler und Künstler zum Bilder-Thema sprachen.
Bilder haben eine eigene Logik, das heißt sie erzeugen "Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln" (28), lautet die These von Gottfried Boehm, die insofern zentral für die Bilderdebatte ist, als sie diese von der Sprache kategorisch trennt. Erst jetzt, wo die Bilder ihre politische Macht offenbaren, merken wir, dass wir einen naiven Umgang mit ihnen pflegen. Niemand hat uns gelehrt, wie die Bilder gemacht sind, wozu sie gemacht sind und was sie mit uns machen, wenn wir sie betrachten. Boehm sieht dies als die intellektuelle Herausforderung der Gegenwart an. Bilder sind ein blinder Fleck im Gebrauch unseres rationalen Systems, das immer im Dienst der Sprache stand. Zwar sind wir dazu befähigt, ein Bild zu sehen, mithin das wahrzunehmen, was Boehm mit "ikonischer Differenz" (32) bezeichnet. Was das Ikonische sei und wie es funktioniert, ist seit jeher Gegenstand künstlerischen Schaffens und jetzt auch das Projekt der Bildwissenschaften, die sich allerorten formieren. Die Kunstwissenschaft ist dabei federführend.
Auch dem Neurobiologen Wolf Singer geht es um die ikonische Differenz: Bilder der eigenen Wahrnehmung seien überzeugender als jedes sprachlich vorgetragene Argument. Der Visus ist aus neuronaler Sicht der bestausgestattetste Sinn und dominiert überdies die anderen Sinne. Unsere Wahrnehmungen sind aber nicht als Abbilder einer 'Wirklichkeit' zu verstehen, sondern stützen sich auch auf ein im Verlauf der Evolution genetisch gespeichertes Vorwissen. Bei der Wahrnehmung und Vorstellung von Objekten werden die gleichen Hirnareale aktiviert, sodass im Fall einer Halluzination 'wirkliche' und selbst erzeugte Bilder nicht voneinander unterschieden werden können. Seit die Hirnforschung erkannt hat, dass das Gehirn kein Konvergenzzentrum aufweist, in dem alle Sinneseindrücke gebündelt verarbeitet werden, stellt sich die Frage, wie wir mit der netzartig strukturierten, distributiven Organisation unserer Gehirne kohärente Bilder von der Welt entwerfen. Dabei spielt die Ensemblebildung von Neuronen eine ebenso große Rolle wie die Zeitstruktur neuronaler Entladungen. Noch ist es nicht bekannt, wie unser Gehirn Konsistenzbeweise generiert. Das größte Rätsel, wie es kommt, dass jeder Mensch sich trotz gleichablaufender biochemischer Hirnprozesse ein anderes Bild von der Welt macht, wird hiermit freilich nicht berührt.
Vor diesem Hintergrund spitzt sich die These des kunstliebenden Neurobiologen Semir Zeki, dass Kunst den Gesetzen des Gehirns unterliegt und Ausdruck der neuronalen Fähigkeit des Gehirns sei, auf einen eklatanten Reduktionismus zu. Wenn Zeki angesichts Michelangelos non-finito-Skulpturen zu der Erkenntnis kommt, dass ein "unvollendetes oder mit Mehrdeutigkeit behaftetes Kunstwerk das Gehirn intensiver beschäftigt als ein vollendetes" (94), so liefert er allenfalls eine Begründung für die Tätigkeit der Kunstwissenschaften. Wenn es aber wenig später vom gleichen Autor heißt, dass "das Geheimnis der Abfolge der Tristan-Akkorde, über die soviel geschrieben worden ist, sich wahrscheinlich nur ergründen läßt, wenn wir die musikalische Wahrnehmung der dahinter stehenden neuronalen Mechanismen verstehen" (98), dann folgen wir dem Schluss, dass mit größer werdendem Wissen der universalen Gesetze der Gehirnaktivität eine steigende Anzahl gelungener Kunstwerke produziert werden. Genau dies aber ist nicht zu erwarten.
Bei der Sichtbarmachung unsichtbarer Welten mithilfe des Rastertunnelmikroskops erforschen Biowissenschaftler die Emergenz lebender Systeme aus toter Materie und die Entstehung des DNS-Codes. Mit zunehmender Erkenntnis sehen sich die Wissenschaftler befähigt, die Grenzen von Künstlichem und Natürlichem zu verwischen, wie der Experimentalphysiker Wolfgang Heckl ausführt. Wie sehr nun die Bildgebungsverfahren der Nanoskopie auf einer Konvention beruht, deren Ergebnis mitnichten ein 'Abbild' der Natur darstellt, legt Heckl in einem Viererschritt der Erkenntnis offen. Die Bildgebung ist hochgradig von der verwendeten Technik abhängig und auch die Bilder derselben Versuchsanordnung weisen Differenzen auf, die nicht immer erklärbar sind. Die Frage nach dem 'tatsächlichen Aussehen' der Teilchen ist von der Interpretation des einzelnen Wissenschaftlers abhängig, der sich auch für das 'schönste' Bild entscheiden kann. Es sind gerade die Bilder der modernsten Technologien, die je nach Vorwissen, Geschmack und wissenschaftlicher Tradition, eben kulturell kodiert werden. Seit Demokrit hält sich die Vorstellung vom kugelförmigen Atom.
Die heutigen Bio- und Computerwissenschaften scheinen den uralten Traum der Wissenschaft, die Natur mithilfe der Kunst bzw. der Technik zu simulieren, wahr werden zu lassen. Roboter gehen zukünftig nicht mehr im zackigen Staccato, sondern bekommen einen "natürlichen look and feel" (164) und werden nach der "Ästhetik des Engineering" (163) konstruiert. Der menschliche Bewegungsapparat dient den Humanoiden als Vorbild, die mit naturähnlichen Materialien und der Technik der sensomotorischen Koordination ausgestattet sind, damit sich der Roboter mit seiner Umwelt interaktiv austauschen kann. Die neuen Konzepte der Artificial Intelligence folgen ontogenetischen Prozessen, die in Genregulatornetzen errechnet werden, um Evolution nach dem Prinzip des 'survival of the fitest' selbsttätig zu simulieren. Auf diese Weise können nicht nur unendlich viele Typen von Kreaturen entwickelt werden, deren Entwicklungsgeschichte digital aufgezeichnet und analysiert wird. Überdies sollen nach dem Prinzip des 'life as is could be' neue 'Lebensformen' erzeugt werden. Die KI-Forschung bedient sich dabei einer ganzen Reihe von Visualisierungstechniken, um die simulierte Evolution in nie zuvor gesehenen Bildern sichtbar zu machen.
Eine Leitfrage des iconic turn betrifft den Brückenschlag von Bio- und Kulturwissenschaften, inwiefern sich beide Wissenskulturen miteinander vernetzen oder gar voneinander profitieren können. Friedrich Kittler zeichnet die Geschichte der errechneten Bilder nach, die 1836 mit der "Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge" der Gebrüder Weber begann. Nebenbei verkündeten die Weber-Brüder das Ende der Kunst, die an den neuen, der Physik obliegenden Aufgaben scheitern werde. Wie der Ruf aus einer nicht allzu fernen Zeit, dessen Echo in den naturwissenschaftlichen Beiträgen des vorliegenden Bandes erklingt, kommt die Botschaft des Medienhistorikers, der die wechselseitige, oft paradoxe Befruchtung von Naturwissenschaft und Kunst in der Technikgeschichte des bewegten Bildes von der Chronofotografie, über das Kino bis zum Computer nachzeichnet. Die Frage, wer uns was zu sehen lehrte, empfiehlt Kittler der Kunstwissenschaft, die rezente Bildgebungsverfahren in der Geschichte der Kunst verankert sähe. Die Zukunft der von Computern errechneten und berechneten Welt malt Kittler düster aus: Es gibt darin kein Weltbild mehr, kein Subjekt, das den Wissenschaften ihre Gegenstände vorgibt, weil all diese Leistungen die sich selbst programmierenden Computer übernehmen.
Sind die Grenzen von 'wirklicher Welt' und ihrer Simulation erst einmal bis zur Unkenntlichkeit verwischt, was alle erwarten, dann ist die Frage nach den Bildern ohnehin obsolet. Bei aller Emphase, mit der der Band dem iconic turn huldigt, wird ebenso deutlich, dass sich die Bilder in einem kritischen Zustand ihres Seins befinden, ja dass es 'das Bild' ohnehin nicht mehr gibt. Dies allein legitimiert die Begründung einer Wissenschaft von den Bildern, die sich transdiziplinär allen Phänomenen der Bildlichkeit widmet. Wie verwirrend vielfältig das Bilder-Thema ist, spiegelt der Band eindrucksvoll wider, ebenso die Chance, die vor allem die Kunstwissenschaft darin sieht, ihr Fach mit dem Zugriff auf alle Bilder zu erneuern. Doch ist hier zuweilen mehr von den Medien, die Bilder transportieren, die Rede, als von den Bildern selbst, wie etwa in den Beiträgen von Bazon Brock und Horst Bredekamp, der zusammen mit Franziska Brons über die Funktion der Fotografie als Medium der Bakteriologie am Ende des 19. Jahrhunderts schreibt. Robert Koch begrüßte das neue Medium und verbannte die bis dato zur Darstellung von Krankheitserregern gebräuchliche Zeichnung ins Reich der Lüge.
Den Kern der Bilder-Frage sieht Hans Belting an die Frage nach ihrer Referenz auf Körper gebunden, Körper, die künftig gentechnisch oder maschinentechnisch produziert werden. Belting sieht im Bilddiskurs, der den Wert der Bilder nach ihrer Information bemisst, eben jenen Reduktionismus, der den Menschen auf die in seinem Körper kodierte DNS zurückführt. Die Bildgeschichte zeige nur zu deutlich, dass die Befreiung vom Körper ein uralter Wunsch ist, der den Bilderreichtum der Kulturen überhaupt provozierte: alle Versuche, die Natur zu überwinden, mündeten in die Bildproduktion, seien es virtuelle Bilder oder Roboter. Dabei ging es "selten um die Reproduktion von Körpern, sondern in der Regel um die Produktion von Menschenbildern" (360). Erst wenn die Differenz von Körper und Bild aufgehoben ist, was schon jetzt der Fall ist, da Körper und Bilder miteinander verwechselt werden, betreten wir die neue Ära, die man die postikonische nennen könnte. In ihr wird der Dualismus von Körper und Bild und auch die Rede vom iconic turn zu einem Ende kommen.
Christiane Kruse