Rezension über:

Ralph Ubl: Prähistorische Zukunft. Max Ernst und die Unzeitigkeit des Bildes, München: Wilhelm Fink 2004, 212 S., ISBN 978-3-7705-3911-6, EUR 32,90
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Rezension von:
Alexander Streitberger
Institut für Europäische Kunstgeschichte, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Lars Blunck
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Streitberger: Rezension von: Ralph Ubl: Prähistorische Zukunft. Max Ernst und die Unzeitigkeit des Bildes, München: Wilhelm Fink 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 5 [15.05.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/05/7288.html


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Ralph Ubl: Prähistorische Zukunft

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"Prähistorische Zukunft" - der Titel macht neugierig, bildet er doch ein handfestes Oxymeron, das ganz der surrealistischen Vorliebe für das Widersinnige und Absurde entspricht. Die Auflösung dieses Paradoxons, das die ferne Vergangenheit in die Zukunft projiziert, bildet letztlich den Generalbass der Argumentation von Ralph Ubl, dessen Ausgangspunkt zunächst ein hinreichend bekanntes Phänomen ist: die Vorliebe surrealistischer Maler und Dichter des Surrealismus für Bild- und Textmaterial geologischer und paläontologischer Lehrbücher, die zu ihrer Sozialisation in der Kindheit beigetragen hatten. Mit Max Ernst rückt Ubl denjenigen Künstler in den Vordergrund, der wohl am häufigsten und vielschichtigsten von solchen prähistorischen Bildern Gebrauch gemacht hat.

Als geschichtsphilosophische Folie beruft er sich dabei auf Siegfried Giedion, Theodor W. Adorno und Walter Benjamin. Vor allem Benjamins Gedanken zur traumhaften Revitalisierung einer bruchstückhaften und erstarrten Urgeschichte im Surrealimus gibt dabei die Marschrichtung für Ubls These vor. Demnach sind Ernsts Bilder ungleichzeitige Konglomerate, die Geschichtsfantasie, soziale Praktiken und jüngste Zeitgeschichte vereinen und als künstlerischen Entwurf in die Zukunft projizieren (12). Das Verdienst der Arbeit Ubls im Kontext der Ernst-Literatur ist es, diesen kulturhistorischen Fokus nicht als gegeben vorauszusetzen, sondern in konsequenter Engführung mit den traditionellen kunsthistorischen Methoden der Formanalyse und Ikonografie auszuloten und fruchtbar zu machen.

Wie nun die Ungleichzeitigkeit des Bildes in Max Ernsts Werk der 1920er-Jahre, also just in der Zeit des Übergangs von Dadaismus zum Surrealismus, zu Stande kommt, was sie bewirkt und welche kunsttheoretischen, sozialen und zeitgeschichtlichen Implikationen damit verbunden sind, breitet Ubl in vier ausführlichen Kapiteln aus.

Zu Beginn steht der Versuch, anhand des künstlerischen Rekurses auf die Prähistorie die formale und inhaltliche Grenzlinie zwischen Ernsts dadaistischem und surrealistischem Werk zu ziehen und diesen Bruch als epistemischen Wechsel darzustellen. Demnach führen die dadaistischen Arbeiten vorfabriziertes Bildmaterial durch die Techniken des Collagierens und der Übermalung und den damit einhergehenden Prinzipien der "Wiederholung und Entstellung" (130) als "Zerfallsprodukte des Illusionismus" (54) ein. Der Rückgriff auf Gérard Genettes Begriff des "Mimetismus" (19) erweist sich in diesem Zusammenhang als fruchtbar, um das parodistische Potenzial des dadaistischen Realitätsbezugs von den mimetischen Prinzipien des Illusionismus und der Nachahmung abzusetzen.

Ernsts Surrealismus dagegen sei gekennzeichnet durch "Revitalisierung in Nachbildern oder Simulakren der Mimesis" (13). Mit Simulakren meint Ubl in erster Linie die Technik der Frottage, die als indexikalischer Verweis auf die gepauste Vorlage in der Schwebe zwischen Präsenz und Abwesenheit stehe und so die Fantasie des Betrachters anrege. Durch das Prinzip "des Sehens von Ähnlichkeiten", das vexierbildartig neue Figuren aus dem abgepausten Muster imaginiert, werde eine "spukhafte Lebendigkeit" (54) eingehaucht, die dem mortifizierenden, parodistischen Verfahren des Dadaismus entgegenstehe. Eine ausführliche Analyse der Frottagen der "Histoire naturelle" von 1925/26 fundiert diese These und bringt sie differenziert mit dem grundlegenden surrealistischen Prinzip des Automatismus in Verbindung.

Die Einbeziehung von "Fehlleistungen, Träume[n] und Automatismen" (111) in den Entstehungsprozess und die Rezeption der Frottagen führt Ubl anschließend zu einer eingehenden Betrachtung von Ernsts Freud-Rezeption. Dabei stützt er sich hauptsächlich auf den Text "Visions de demi-sommeil", der 1927 in "La Révolution surréaliste" erschien. Von der einleuchtend dargestellten engen Verzahnung psychoanalytischer Lektüre und surrealistischen Fantasierens spannt der Autor im vierten und letzten Kapitel den Bogen zur jüngsten Vergangenheit und der Verarbeitung der Erlebnisse des Ersten Weltkrieges durch den Surrealisten.

Spätestens hier wird allerdings deutlich, dass sich eine allzu strikte Grenzziehung als zu statisch und unflexibel erweist, wie Ubl selbst in Bezug auf Max Ernsts dadaistische Fotocollagen um 1920 eingesteht. Das zersetzte Bildmaterial werde hier wieder homogenisiert und lege in seiner Geisterhaftigkeit "Schichten einer surréalité" frei (141). Dass Ubl dennoch an der zuvor eingeführten Trennung festhält und sich mit der Einführung des Begriffs "Protosurrealismus" aus der Aporie zu retten sucht, wirkt wenig überzeugend. Hier wäre es angebracht, die schulmäßige Unterscheidung in Ismen aufzugeben oder zumindest zu hinterfragen.

Die gelegentliche Tendenz zu einer bisweilen allzu konstruierten Argumentation, um eine These zu bilden bzw. aufrecht zu erhalten, schmälert leider ein wenig das unbestreitbare Verdienst der kenntnisreichen Untersuchung. Diese Schwäche wird vor allem im letzten Kapitel evident. Wenn Ubl die 1933 entstandene mysteriöse Gipslandschaft "L'Europe après la pluie I" als "düstere Vorahnung, als Pessimismus" (189) in Hinsicht auf die sich zerschlagenden revolutionären Hoffnungen der Surrealisten sieht und einen Bezug zur politischen Entwicklung der kommenden Jahre herstellt, mag dies noch angehen. Wenn er aber gegen die Äußerungen des Malers selbst und lediglich auf einer recht subjektiven wirkungsästhetischen Grundlage behauptet, das Werk sei unberührt von dem surrealistischen Prinzip des Ähnlichkeitssehens, da ein vexierendes Umspringen in eine andere Figur verweigert werde, so scheint diese Argumentation doch zu sehr auf die rhetorische Pointe zurecht geschustert, nach der das Bild als Falte fungiere, die das surrealistische Werk über die geologischen Dadabilder lege (193).

Aufgrund der oft scharfsinnigen Bildanalysen und der damit einhergehenden Neueinschätzung der prähistorischen Arbeiten Max Ernsts im Kontext ihrer geistigen und kulturellen Vorgeschichte eröffnet Ubls Buch trotz der erwähnten Mängel einen neuen, lohnenswerten Blick nicht nur auf das Werk des Künstlers, sondern auch auf das Gesamtphänomen Surrealismus.

Alexander Streitberger