David Gaunt / Levine Paul A. / Laura Palosuo (eds.): Collaboration and Resistance during the Holocaust. Belarus, Estonia, Latvia, Lithuania, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 519 S., ISBN 978-3-03910-245-7, EUR 71,70
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Die historische Forschung zu Fragen der Reaktionen der Bevölkerung in den von NS-Deutschland besetzten ostmittel- und osteuropäischen Ländern nimmt allmählich Konturen an. Der zu besprechende Sammelband bietet einen Einblick in den Forschungsstand zu vier Ländern, die unter deutscher Besatzung 1941 bis 1944 im so genannten Reichskommissariat Ostland zusammengefasst waren. Die enthaltenen 19 Aufsätze basieren auf Vorträgen, die auf einer Konferenz in Uppsala im April 2002 gehalten wurden. Die Konferenz brachte Teilnehmer aus acht Ländern zusammen, um die seit der Öffnung sowjetischer Archive erstmals zugänglichen Quellen zu diskutieren.
Fragen nach der "Kollaboration" der lokalen Bevölkerung in der Vernichtungspolitik einerseits und dem jüdischen Widerstand andererseits stehen im Mittelpunkt. Je vier Aufsätze drehen sich um die deutsche Täterseite, um Litauen und Lettland, drei um Weißrussland und zwei um Estland. Zwei Autoren befassen sich mit Formen unbewaffneten jüdischen Widerstands: Joachim Braun fragt nach der Bedeutung von Musik in den Ghettos, und Anika Walke fordert mit Blick auf den Selbstbehauptungswillen jüdischer Frauen eine Ausweitung des Widerstandsbegriffs, die in der jüdischen Historiografie schon seit langem diskutiert wird.
In der Einleitung wird angedeutet, dass die Diskussion zwischen den Wissenschaftlern phasenweise sehr angespannt verlief und sich in Fronten von Anklage und Rechtfertigung verhärtete. Die Lektüre bestätigt diese Andeutungen. Insbesondere einige der Historiker aus Lettland (Andrew Ezergailis) und Estland (Meelis Maripuu) scheinen nach wie vor bemüht, die eigene Nation vor Anschuldigungen zu schützen. Maripuu etwa deutet die Forderung des "Estnischen Befreiungskomitees" vom 22. Juni 1941 nach der sofortigen "Isolation aller Juden in Isolationslagern und Konfiskation ihres Vermögens" zu einer "politischen Höflichkeitsnote" an Hitler um (410). Gleichzeitig spricht er die rechtsextreme estnische Bewegung vom Antisemitismus frei und überlegt, ob man nicht die Deportation von 439 estnischen Juden durch die Sowjetunion als "ersten Akt des Holocaust" bezeichnen könne (409). Als wichtigsten Faktor, der eine "allgemeine negative Neigung zu den Juden" verursacht habe, benennt der Verfasser "zweifellos die aktive Kollaboration der Juden mit der sowjetischen Okkupationsmacht und ihre Beteiligung am roten Terror unmittelbar vor der deutschen Okkupation" (410).
Auf westlicher Seite hingegen existieren immer noch weitgehend Zerrbilder über die Gesellschaften in diesen Regionen und ihre Geschichte im 19./20. Jahrhundert. Es scheint, als ob die wissenschaftlich unsinnige Frage von Robert Waite, ob Lettland "eine Nation von Kollaborateuren" sei, immer noch den Ton von wesentlichen Teilen der Debatte bestimme. Es ist jedoch nicht nur der Zusammenklang von anklagendem Gestus der Kollektivbeschuldigungen einerseits und apologetischen Zurückweisungen andererseits, der Forschungsfortschritte behindert. Es ist auch die Verwendung von hochpolitisierten Konzepten wie "Kollaboration" selbst, die die historische Analyse erschweren. Die Überlegungen von Robert Bohn zum Begriff "Kollaboration" demonstrieren in unfreiwilliger Weise erneut, dass Definitionsbemühungen nicht über die unfruchtbaren Vorschläge von Czesław Madajczyk und Werner Röhr hinauskommen. "Kollaboration" und seine Synonyme "Verrat" und "Zusammenarbeit mit dem Feind" sind nun einmal juristische und keine analytischen Kategorien.
Die Aufsätze zu Litauen von Arūnas Bubnys, Saulius Sužiedėlis und Sarunas Liekis zur litauischen Beteiligung an der Verfolgung und Ermordung der Juden sowie zum Verhältnis von sowjetischem und jüdischem Widerstand überzeugen hingegen dadurch, dass sie sich in empirischer Weise den Fragestellungen nähern und sich bemühen, die jeweiligen Motive und Kontexte zu analysieren. Das Gleiche gilt für die Studien von Anton Weiss-Wendt zur Verfolgung und Ermordung der Zigeuner in Estland und von Barbara Epstein zur Zusammenarbeit von Juden und Weißrussen in Minsk. Martin Dean wertet vor allem Aussagen vor sowjetischen Gerichten und von jüdischen Überlebenden für seine Mikrostudie zu Mir aus. Damit gelingt ihm eine Annäherung an den Alltag der Verfolgung von Juden und wirklichen oder vermeintlichen Partisanen. Der Untersuchung von Aya Ben-Naftali zum 9. Fort in Kaunas, wo etwa 45.000 Opfer ermordet wurden, ist das Entsetzen über das dortige Geschehen deutlich anzumerken. Die Studie von Evgenij Rosenblat zu Judenräten und jüdischem Widerstand in Weißrussland leidet zwar erheblich unter der Fragestellung nach "jüdischer Kollaboration", bietet aber neues Material aus weißrussischen Archiven und zeigt - ebenso wie Epstein - die unterschiedlichen Bedingungen des jüdischen Widerstands in Weißrussland im Vergleich zu den baltischen Ländern.
Einen historiografischen Überblick zu Lettland hat Antonijs Zunda erarbeitet und bietet damit Einblick in die lettischsprachige Forschung. Die Aufsätze von Matthew Kott zu lettischen Zeitungen unter deutscher Besatzung und Karlis Kangeris zur deutschen Propaganda sind vor allem wegen ihres Quellenreichtums interessant, vermögen jedoch analytisch nicht zu überzeugen. Bei Kott liegt das vor allem an der simplifizierenden Argumentation, dass Antisemitismus unmittelbar zur Beteiligung an der Ermordung der Juden geführt habe. Bei Kangeris ist es wohl auch ein Problem des streckenweise kruden Deutschs, das - wie in allen deutschsprachigen Aufsätzen in diesem Band - sehr zu wünschen übrig lässt und das Verständnis unnötig erschwert. Beachtung verdient ein Quellenfund von Kangeris im Archiv des Auswärtigen Amtes. Auf einer Sitzung am 29. Mai 1941 äußerten deutsche Besatzungs-, Wehrmachts- und Propagandafunktionäre die Hoffnung, dass es zu Pogromen gegen Juden kommen werde (168-170).
Von den deutschen Beiträgen überzeugt vor allem derjenige von Jörg Hackmann zu den umsiedlungspolitischen Überlegungen Werner Hasselblatts. Uwe Dankers Überlegungen zum Personal der deutschen Zivilverwaltung leiden daran, dass der Verfasser weitgehend nur die im schleswig-holsteinischen Landesarchiv liegenden Akten der verschiedenen Verfahren gegen Reichskommissar Hinrich Lohse und dessen Nachlass genutzt hat, nicht aber das Material des Bundesarchivs und vor allem der Archive in Riga und Vilnius. Sebastian Lehmann fragt nach dem Quellenwert britischer Spruchkammerverfahren und erklärt, warum sie nur begrenzt aussagekräftig sind.
Die dem Sammelband zu Grunde liegende Fragestellung nach der Reaktion der einheimischen Bevölkerungen auf die deutsche Besatzung wird uns noch lange beschäftigen. Der Band zeigt, wie notwendig und wie schwierig die Kontextualisierung des Holocaust ist. Insbesondere die Einbeziehung der je spezifischen Vorgeschichte seit Mitte der 1930er-Jahre und der wesentlich durch die Kriegsführung bestimmte Kontext geraten immer wieder zu schnell aus dem Blick.
Christoph Dieckmann