Clifford Ando (ed.): Roman Religion (= Edinburgh Readings on the Ancient World), Edinburgh: Edinburgh University Press 2003, XVII + 393 S., 3 maps, ISBN 978-0-7486-1566-7, GBP 24,50
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Clifford Ando / Jörg Rüpke (eds.): Religion and Law in Classical and Christian Rome, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006
Clifford Ando: Imperial Rome AD 193 to 284. The Critical Century, Edinburgh: Edinburgh University Press 2012
Clifford Ando: The Matter of the Gods. Religion and the Roman Empire, Oakland: University of California Press 2008
Strukturen und Charakter der römischen Religion sind für die moderne Forschung seit einigen Jahren wieder von Interesse. Dabei reicht das Spektrum von umfangreichen Untersuchungen zu einzelnen Themengebieten, zum Beispiel zum Kaiserkult und seiner Ausübung [1], über die Kultpraxis [2] bis hin zu übergreifenden Zusammenstellungen des Quellenmaterials [3]. Auch an aktuelleren einführenden Darstellungen fehlt es nicht. [4] Welchen Platz nimmt hier die Aufsatzsammlung mit dem programmatisch lapidaren Titel "Roman Religion" ein?
In seiner Einleitung erläutert Clifford Ando zunächst den Begriff religio in der Ausdeutung des Valerius Maximus als Summe der gängigen Kultpraxis, der Götter und Menschen gleichermaßen mit einbezieht (1,1,1a-b). Der antiken Gedankenwelt gemäß und von Augustinus später auf das Schärfste verurteilt (civ. 6,4), widmete Varro den ersten Teil seiner antiquitates Romanae den res humanae und erst den folgenden den res divinae: der Maler sei schließlich vor dem Gemälde da gewesen. In diesen Aussagen zeigt sich das Verständnis der Römer zu ihrer Religion deutlich. Valerius Maximus und Varro schrieben in der ereignisreichsten Zeit Roms, der Umbruchphase von der Republik zum Prinzipat, die den zeitlichen Schwerpunkt der Aufsatzsammlung bildet.
In sieben Sektionen werden unter dem Oberbegriff Kontinuität und Wandel Erscheinungsformen und Charakteristika der römischen Religion untersucht. Einführend fragt Jonathan Smith in Teil 1 (Historiographie und Methode) nach der Vergleichbarkeit der Strukturen der christlichen und spätantiken Religion (Auszug aus: J.Z. Smith: Drudgery Divine: On the Comparison of Early Christianities and the Religions of Late Antiquity, Chicago 1990). Gregory Woolf analysiert im Anschluss daran die Grundlagen der Polis- und Staatsreligion und betont ihre Einbettung in das jeweilige politische, soziale und ökonomische System in den römischen Provinzen (zuerst publiziert 1997). Teil 2 handelt von religiösen Institutionen und religiöser Autorität. Richard Gordon richtet seinen Blick auf die zentralen Priesterschaften, die Religionsauffassung und die Ideologie im frühen Prinzipat (1990 zuerst veröffentlicht). Die Untrennbarkeit religiöser und politischer Motive im römischen Staat unterstreicht auch Arthur D. Nock in seinem Beitrag von 1939.
Nach diesen grundlegenden Bemerkungen zum römischen Religionsverständnis schließen die Sektionen 3-7 mit jeweils einem thematisch orientierten Schwerpunkt an. Ritual und Mythos stehen im Fokus von Sektion 3. Denis Feeney erhellt den Zusammenhang zwischen beiden Begriffen anhand der Säkularspiele des Augustus sehr deutlich (aus: D. Feeney: Literature and Religion at Rome, Cambridge 1998). Ebenso klar wird diese Verbindung in der Analyse John Scheids über die Präsentation des Mythos und seine Relevanz im augusteischen Kultritual (zuerst 1993). Die theologia - verstanden als in der ratio begründete Erklärungen der römischen Götter -, das Thema des vierten Teils, ist wie der Mythos Bestandteil römischer Kultpraxis. Arnaldo Momigliano beleuchtet die theologischen Leistungen der römischen Elite im 1.Jahrhundert nach Christus in der Interpretation des Mythos (zuerst 1984). Ein weiteres Anliegen der intellektuellen Oberschicht war die Festlegung einer hierarchischen Ordnung der Götter, die durch John Scheid anhand der Akten der Arvalbrüder plastisch nachgezeichnet wird (zuerst 1999). Integration und Ausgrenzung von Kulten sind Inhalt des fünften Teils. Regulationsmechanismen bei der Aufnahme auswärtiger Kulte und religiöse Toleranz am Beispiel der Bacchanalien erläutert John North (von 1979). Clifford Ando greift mit seinem Beitrag in die Flavierzeit aus und untersucht anknüpfend an die Fragestellung Woolfs nach der Polis- oder Staatsreligion die städtischen Gemeinden der Provinzen auf ihre Rolle als Ort der Annahme beziehungsweise Ablehnung auswärtiger Gottheiten. Unter welchen Bedingungen sich Götter überhaupt an anderen Orten niederließen, analysiert Sabine MacCormack (zuerst 1990). Den zweiten Bezugsrahmen der religio neben dem lokalen bildet der zeitliche: er bestand zum einen aus der festgesetzten Zeitspanne und aktuellen Terminierung einer Kulthandlung, zum anderen wurde Ritual durch schriftlich fixierte Kalender definiert und durch weit zurückliegende Ursprünge legitimiert. Die Funktion der Aitiologien, die auch der Mythopoiesis dienten und damit religio begründeten, zeigt Mary Beard in ihrem Beitrag auf (zuerst 1987).
Die letzte Sektion greift wieder die Grundgedanken Kontinuität und Wandel der religio auf und wird durch zwei zusammenfassende Beiträge aus den Standardwerken Carl Kochs und Georg Wissowas vertreten.
Eine zentrale Frage des Bandes befasst sich mit der Praxis und Präsentation römischer Kulte und ihrer Relevanz und Akzeptanz beim römischen populus. Ein entscheidender Unterschied zu den griechischen Göttern liegt darin, dass die römischen Götter lange Zeit als unnahbare Wesen galten, deren Moral genauso integer zu sein hatte wie die der Römer selbst, da sie - im Gegensatz zu den griechischen Göttern - unter und nicht über den gültigen Normen standen (60). In der Umsetzung der römischen Kultpraxis wurden vor allem in der späten Republik und im frühen Prinzipat neue Wege gesucht. Die Abfassung von Kalendern wurde zum zentralen Element: In der geordneten Folge einer schwer überschaubaren Datenmenge wurde ein neues Konzept der Information und Memorialtechnik aufgestellt. Alte Bräuche wurden wachgerufen und mit gerade implantierten zu einem Gesamtgefüge verschmolzen (Gordon, 70). Eine Schnittstelle zwischen Tradition und Innovation des Kultes bildeten die ludi saeculares des Augustus, wie D. Feeney und J. Scheid herausstellen. Die Spiele wurden aus ihrem traditionellen Kontext gelöst und nicht mehr den Unterweltgöttern gewidmet, sondern waren nach der Entsühnungsfeier auf die Zukunft gerichtet und verhießen unter Apolls neuer Schirmherrschaft Frieden und Wohlstand. Feeney legt dar, dass Apoll als der einzige griechische Gott der Säkularspiele tagsüber geehrt wurde, ungewöhnlicherweise aber durch unblutige Opfer wie auch Eilythia, die aber nachts kultische Verehrung erhielt (108). Jupiter und Juno wurden tagsüber blutige Opfer dargebracht. Mit dieser Ausnahmestellung nahm Apoll wie das carmen saeculare eine Mittlerfunktion zwischen neuer und überkommener Kultform ein. Im carmen, das als dichterisches Komposit einen neuen ästhetischen Bestandteil des Festes bildete, wurden mythologische Elemente und aitiologische Erzählungen miteinander verwoben, wie Scheid erklärt (123). Hier wird die Verbindung von Mythos und Ritual greifbar. In der Wahrnehmung historischer, nationaler und institutioneller Interessen erfüllte der Mythos eine soziologische und eine intellektuelle Funktion und stellt wie das Kultritual eine Basis römischer Religion auch auf intellektueller Ebene dar.
Die Ausführungen Varros in seinen antiquitates legen aufgrund seiner Unterteilung in eingehende Texte zu den Priesterschaften (also den Kultverantwortlichen) und die drei genera der theologia nahe, dass Kultausübung und Theologie zu trennen seien; eine Auffassung, die dem Verständnis römischer Religion entgegensteht. Kultausübung ist Religion in Wort und Tat (vergleiche Scheid zu den Gebeten der Arvalbrüder, 145). In den Wirren des 1. Jahrhunderts von Christus und den Auseinandersetzungen mit der Politik Caesars entwickelten Varro, Cicero und Nigidius Figulus ihre Konzepte und Erklärungsmuster von Religion, die die Vorstellungen der Oberschicht prägend beeinflussten. Gerade Cicero stand für die Einführung griechischer Philosophie in die römische Gedankenwelt, er begrüßte die antiquitates des Varro, die etwa ein Jahr vor seinem Werk de natura deorum veröffentlicht wurden, zwar emphatisch, distanzierte sich aber in seiner Arbeit davon. Sein Verdienst ist die kritische Würdigung und Sichtung hellenischer philosophischer Systeme, die daraus resultierende Aufbruchsstimmung und die rationale und ideologische Aufklärung, deren Gefahr für die Einheit der Oberschicht der erste Prinzeps erkannte und reagierte: Augustus ersetzte die Philosophie durch programmatische Dichtung, um den Bedürfnissen der Elite nachzukommen, wie Arnaldo Momigliano überzeugend argumentiert (151). Das ebengenannte carmen saeculare liefert ein herausragendes Beispiel für diese Dichtung.
Livius, Geschichtsschreiber an der Schwelle zum Prinzipat, berichtete über den Bacchanalienskandal (Liv. 39,8). North weist nach, dass die Annahme des Livius, der Kult sei neu in Rom, irrig ist (204). Vielmehr bestand neben den oft diskutierten Fakten der unkontrollierbaren Versammlungen einer Kultgemeinschaft, die die Gesellschaftshierarchie im Kleinen abbildete, die Gefahr darin, dass man dem Kult freiwillig beitrat. Die römische Religion war nämlich weit von der Idee der Toleranz entfernt, wie North zutreffend hervorhebt (212). Der evocatio auswärtiger Götter und ihrer Aufnahme in das Imperium stand die Ortsgebundenheit schon der Hausgötter des Aeneas, des Ahnherrn Roms, gegenüber, ein politischer Zwiespalt, der die Problematik der Übertragung von Stadtgöttern auf das Imperium andeutet und den Konflikt zwischen Stadt- und Reichsreligion demonstriert. Clifford Ando betont in seinem Beitrag die Abhängigkeit der Religion vom Rahmen ihrer Ausübung; die Religion einer Stadt ist kaum ohne Modifikation in anderen Stadtgemeinden anwendbar. Den Römern war der Ort an sich heilig (zum Beispiel Quellen), bei den Christen wurden die Orte durch die Verehrung der Menschen geheiligt. Dabei war die natürliche Heiligkeit eines Ortes nur schwer mit der unbefangenen Übernahme von Göttern vereinbar, erst das Christentum sah ja in der Versammlung der Gläubigen eine heilige Stätte. Sabine MacCormack trennt klar zwischen den loca sancta der Christen und der Römer. Nur im Bereich der Sepulkralbauten und in der Anlage von Friedhöfen lassen sich kongruente Linien herstellen. Diese Räume waren Christen und Römern heilig.
Der zweite entscheidende Parameter, den die Religion zur Ordnung der Gesellschaft beitrug, war neben dem Raum die Zeit. Mary Beard definierte die Funktion des römischen Festkalenders als identitätsstiftendes Instrument und Werkzeug zur Geschichtsbildung durch die Machthaber (273). Dabei nahmen die Aitiologien einen wichtigen Platz ein, sind aber selbst mehr als Symbol denn als reale Erklärungsmuster zu verstehen. Die Autorin belegt die These mit dem Fest der Parilia am 21. April, dessen Ursprung und Bedeutung von Plutarch (Rom. 12.1-2), Dionysius Halikarnassus (1,88,3) und Ovid (fasti IV 783-806) je nach aktuellem Zeitbezug ausgedeutet wird. Kalenderaufzeichnungen waren eben keine starren Fixierungen des Ist-Zustandes, sondern ein flexibles Gewebe von Daten, das nach Bedarf neu angepasst wurde.
Mit diesem Band über römische Religion hat Clifford Ando eine nützliche Sammlung zentraler Beiträge zum Thema publiziert, dessen Stärke weniger darin besteht, ansonsten schwer zugängliche Texte zur Verfügung zu stellen, sondern vielmehr darin, die abgedruckten Beiträge erstmalig im Zusammenhang zu lesen, wodurch sich dem Leser reichhaltige neue Perspektiven eröffnen. In diesem Kontext erschließt sich auch die auszugsweise Wiedergabe aus den Standardwerken von Carl Koch und Georg Wissowa. Carl Koch fragt, inwieweit das römische Denken in der Lage war, Gegenkräfte zu entwickeln und konstatiert, dass im Gegensatz zur kritischen und aufgeklärten Phase des 1. Jahrhunderts vor Christus die Römer zur augusteischen Zeit wieder an ein Eingreifen der Götter glauben mochten. Augustus wusste seine Chance auf die Erneuerung der pietas nach dem Sieg von Aktium zu nutzen. Im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte kam die Rettung unverdient, gleichsam als Vorausgeschenk für eine aufkeimende neue Religiosität. Aurelius Cotta trennte zwischen Philosophie und auctoritas maiorum (Cic. div. 1,8). Augustus wählte den Weg der auctoritas und ließ sie in dichterische Formen gießen (vgergleiche den Beitrag Momiglianos). Passagen aus Wissowas Werk zur Gründung des capitolinischen Heiligtums, zur Erweiterung des Kreises der römischen Staatsgötter (vergleiche dazu den Beitrag Clifford Andos), zum Verfall der Staatsreligion und zu den religiösen Verhältnissen der ersten beiden Jahrhunderte beschließen den Band. Abgerundet wird er durch einen umfassenden Schlussteil: er bietet Kartenmaterial, eine Chronologie zu den Ereignissen aus den Beiträgen (359-362), ein Verzeichnis der antiken Autoren mit biografischen Daten (363-364), ein Glossar der wichtigsten sakralen Termini (365-371), kommentierte Hinweise zur Literatur und aktuelle Leseempfehlungen zu den einzelnen Kapiteln (372-377), eine Gesamtbibliografie (378-390) und einen Index (391-393). Es bleibt zu hoffen, dass das Werk, dem jedenfalls ein großer Leserkreis zu wünschen ist, einen prominenten Platz unter den Neuerscheinungen zum Thema einnimmt.
Anmerkungen:
[1] Simon Price: Rituals and Power. The Roman Imperial Cult in Asia Minor, Cambridge 1984; Duncan Fishwick: The Imperial Cult in the Latin West, 4 Bde., Leiden 1987-92.
[2] John Scheid: Romulus et ses freres, Paris 1990.
[3] Mary Beard / John North / Simon Price: Roman Religions, 2 Bde., Cambridge 1998.
[4] Vgl. Jörg Rüpke: Die Religion der Römer, München 2001.
Meret Strothmann