Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2005, 445 S., ISBN 978-3-10-000420-8, EUR 22,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Lew Besymenski: Stalin und Hitler. Das Pokerspiel der Diktatoren. Aus dem Russischen von Hilde und Helmut Ettinger, Berlin: Aufbau-Verlag 2002
Richard Overy: Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Rußland. Aus dem Englischen von Udo Rennert und Karl Heinz Siber, München: DVA 2005
Richard Overy: Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Rußland. Aus dem Englischen von Udo Rennert und Karl Heinz Siber, München: DVA 2005
Ludolf Herbst: Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2010
Ronald D. Gerste: Roosevelt und Hitler. Todfeindschaft und totaler Krieg, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011
Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen: Wallstein 2002
Cornelius Torp: Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat. Alter und Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien von 1945 bis heute, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015
Gabriele Metzler: Der deutsche Sozialstaat. Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall, München: DVA 2003
Dass die Nationalsozialisten auf die gesellschaftlich integrierende Wirkung wohlfahrtsstaatlicher Politik setzten, ist lange bekannt. Aber lässt sich das "Dritte Reich" deswegen als Sozialstaat charakterisieren? Götz Aly beantwortet diese Frage mit einem klaren Ja und plädiert dafür, die NS-Herrschaft nicht nur als Rassenstaat sondern auch als weithin erfolgreiches Projekt eines "nationalen Sozialismus in den Blick zu nehmen" (39). Seine Gedankenführung stützt sich vor allem auf vier Argumente:
- Erstens die Weiterentwicklung des Sozialstaats durch Leistungserhöhungen und neue Förderprogramme (51, 71 f., 359 f.);
- zweitens das "völkische Gleichheitsversprechen" (358) der Nationalsozialisten, deren egalitäre Gesellschaftspolitik bestehende Klassenunterschiede eingeebnet und breiten Bevölkerungsschichten neue Teilhabemöglichkeiten am Massenkonsum eröffnet habe (19 f.);
- drittens eine "Politik der sozialen Gerechtigkeit" (37), die Wohlhabende bei den Steuern und Abgaben zur Kriegsfinanzierung deutlich stärker belastet habe als Geringverdiener;
- sowie viertens die "sozialpolitisch 'gerechte' Umverteilung" (324) der Kriegsbeute.
Meine Besprechung wird sich vor allem auf die ersten beiden Punkte konzentrieren.
Alys Argumentation überzeugt dort, wo er die zahlreichen Initiativen des Regimes beschreibt, den Lebensstandard der deutschen Bevölkerung auf Kosten von Juden und Einwohnern besetzter Länder zu heben. Zweifellos lebte die Mehrheit der Deutschen in den Kriegsjahren ungleich besser als die Bevölkerung der besetzten Länder. Allerdings ist Alys Bild der nationalsozialistischen Konsumgesellschaft schön gefärbt und weich gezeichnet, da er nur selten zwischen Konsumversprechen und tatsächlichen Konsumchancen differenziert. Bekanntlich blieb der eigene Volkswagen für den einfachen "Volksgenossen" unerreichbar, und von der sozialen Öffnung des Ferntourismus durch die KdF profitierten vornehmlich Angehörige des finanziell gut gestellten Mittelstands, während Arbeiter sich zumeist mit Tagesausflügen in die nähere Umgebung zufrieden geben mussten.
Dass das "völkische Gleichheitsversprechen" einstweilen kaum mehr war als eine propagandistische Illusion, zeigt sich auch in der Lebensmittelversorgung, die Aly gern als Beleg für den sozialen Egalitarismus des "Dritten Reiches" heranzieht (196 f., 358). Zwar blieb die für Normalverbraucher verfügbare Kalorienmenge bis Ende 1944 nominell einigermaßen stabil. Doch führte die Umleitung knapper Devisen in die Rüstungsproduktion bereits in den Vorkriegsjahren zu einem massiven Defizit in der Proteinversorgung, das erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigungen, juvenile Wachstumsstörungen und eine signifikante Zunahme der Sterblichkeit zur Folge hatte. Die Auswirkungen dieser "Fettlücke" wurden seit Kriegsbeginn durch ein Rationierungssystem verschärft, das auf einer brutalen Hierarchisierung der Verbraucher nach sozialutilitaristischen Wertigkeitskriterien basierte. Viele, die der Rüstung nicht nützten, wurden bald vom Nötigsten ausgeschlossen. Rund 30-40 Prozent der Bevölkerung, besonders Frauen und Alte, waren als "Normalverbraucher" auf Zuteilungen angewiesen, deren Fleisch- und Fettgehalt deutlich unter dem für den Gesundheitserhalt notwendigen Minimum lag. Dieses Prinzip der Hierarchisierung nach sozialen Nützlichkeitserwägungen lässt sich während des Krieges in vielen Lebensbereichen beobachten, z. B. im Gesundheitswesen, das Alte und chronisch Kranke zunehmend aus der medizinischen Regelversorgung ausgrenzte.
Aber wie war es um die sozialpolitischen Verbesserungen des NS-Staates bestellt? Einleuchtend, allerdings nicht ganz neu, ist Alys Hinweis auf die bewusst großzügig gestalteten Unterhaltsregelungen für Familien eingezogener Wehrmachtssoldaten. Andere Maßnahmen, wie Familienbeihilfen und Ehestandsdarlehen, standen hingegen im Kontext einer rassistischen Bevölkerungspolitik und waren nur nach einer erbbiologischen Überprüfung der Antragsteller zugänglich. Die Gesundheitsversorgung litt erheblich darunter, dass die Hitler-Regierung unter dem Primat rüstungswirtschaftlicher Ziele Sparverordnungen aus der Endphase der Weimarer Republik fortschrieb. Krankenkassen waren angewiesen, ihre Regelleistungen auf dem niedrigen Stand von 1931/32 einzufrieren, freiwillige Leistungen zu streichen und den Zugang zu kostenintensiven Behandlungen zu erschweren. Dort, wo das Regime investierte, floss das Geld vor allem in den Ausbau des erbbiologischen Kontroll- und Interventionsapparats. In der Alterssicherung zeigt sich ein ähnliches Bild: Auch hier setzte das NS-Regime die Sparpolitik der Weimarer Präsidialkabinette fort und kürzte im Dezember 1933 die Renten erneut - mit der Folge, dass die Einkünfte aus der Invaliden- und Angestelltenversicherung bis Kriegsbeginn deutlich unter Höchstständen aus der Zeit vor der Weltwirtschaftskrise blieben. Die 1941 gewährten Leistungsverbesserungen, mit denen die nationalsozialistischen Machthaber auf die akute Verarmung der älteren Bevölkerung durch den kriegsbedingten Anstieg der Lebenshaltungskosten reagierten, glichen nur einen Teil dieser Kürzungen aus. Die Rentenerhöhung 1941 war übrigens nicht, wie Aly vermutet, Ergebnis nationalsozialistischer "Stimmungspolitik", sondern ein Versuch der Ministerialbürokratie, weiter reichenden Reformplänen der DAF das Wasser abzugraben, indem man die Reformierbarkeit des bestehenden Versicherungssystems demonstrierte.
Bezweifeln kann man auch, ob das "sozialpolitische Appeasement" (360) der Nationalsozialisten tatsächlich die konsensstiftende Wirkung entfalten konnte, die Aly ihm zuschreibt. Abgesehen davon, dass seine materialistische Bestechungstheorie auf zu einfachen Annahmen über sozialstaatliche Integrationspotenziale beruht, deuten Berichte des SD und von Parteistellen eher in eine andere Richtung und lassen bestenfalls kurzfristige Zustimmungseffekte erkennen. Dass viele sozialpolitische "Verbesserungen" weit hinter der Entwicklung der Lebenshaltungskosten zurückblieben und lediglich Kürzungen der Weltwirtschaftskrise verspätet zurücknahmen, blieb der Bevölkerung ebenso wenig verborgen wie die Einbettung sozialer Reformversprechen in einen repressiven Kontext, der sich in den Kriegsjahren gegen immer größere Teile der deutschen Gesellschaft richtete.
Das Trugbild eines nationalsozialistischen Sozialstaats zerbricht vollends, wenn man die destruktiven Potenziale seiner Politik in die Gesamtbilanz mit einrechnet. Diese Bilanz müsste weit stärker, als dies bei Aly geschieht, den Charakter der NS-Sozialpolitik als Instrument erbbiologischer und sozialer Selektion berücksichtigen. In dieser Hinsicht unterschied sich "Hitlers Volksstaat" fundamental vom universalistischen Sozialstaat der Weimarer Republik. In die Bilanz müsste auch die Funktion der NS-Sozialpolitik als Arbeitserzwingungspolitik einfließen, ebenso die zunehmende Entrechtlichung der sozialen Sicherung. Die Forschung hat den Sozialstaatsbegriff daher mit guten Gründen nur zögernd auf die NS-Diktatur übertragen und stattdessen mit Begriffen wie "völkischer Wohlfahrtsstaat" (Sachse / Tennstedt) die Differenz dieser terroristischen Extremvariante zu den vorangegangen und nachfolgenden Formationen des deutschen Sozialstaats akzentuiert. Alys Studie präsentiert kaum Argumente, die dieses Urteil revidieren können. Denn die nationalsozialistische Sozialpolitik folgte nicht der sozialstaatlichen Grundbewegung umfassender Inklusion, sondern war gerade durch die scharfe Spannung zwischen sozialer Inklusion und bis in die Lebensvernichtung reichende Exklusion gekennzeichnet.
Über die Forschungen anderer setzt sich Aly auf der Suche nach schnellen Pointen oftmals nonchalant hinweg. Die Bedeutung des "Novembertraumas" als negativer Referenzpunkt für die Kriegs-Sozialpolitik der braunen Machthaber, auf die er mehrfach rekurriert (30 f., 36), ist z. B. von Tim Mason und Karsten Linne schon vor Jahren herausgearbeitet worden. Solche "Neuentdeckungen", die alten Wein in neue Schläuche füllen, sind auch deshalb ärgerlich, weil Aly mit den Arbeiten der Fachkollegen hart ins Gericht geht: Bisher habe die Forschung lieber das "akademisch-selbstgenügsame Herumgestochere in gewöhnlichen Institutionenkonflikten" (41) betrieben als die konsensstiftenden Elemente der NS-Diktatur ernst zu nehmen. Die brauchbare Literatur zum Thema seines Buches sei daher "begrenzt" (39). In öffentlichen Lesungen nimmt Aly gern ein jüngst erschienenes Taschenbuch-Lexikon zur Hand, um damit seine These von der defizitären Erforschung der NS-Sozialpolitik zu untermauern. Dass dieser Vorwurf absurd ist, zeigt ein rascher Blick in den Online-Katalog des Instituts für Zeitgeschichte, wo interessierte Leser hunderte einschlägiger Veröffentlichungen finden. Hätte Aly nur einen kleinen Teil davon zur Kenntnis genommen, wären ihm zahlreiche krasse Fehlurteile nicht unterlaufen.
Geradezu abwegig ist beispielsweise die These, nationalsozialistische Sozialpolitiker hätten "die Konturen des seit 1957 in der Bundesrepublik selbstverständlichen Rentenkonzepts" (20, ähnlich 72) entwickelt. Gegen das hier suggerierte Verwandtschaftsverhältnis von nationalsozialistischer und bundesdeutscher Sozialpolitik spricht erstens, dass Konzepte einer an die Lohnentwicklung gekoppelten Rente bereits seit den frühen Zwanzigerjahren diskutiert wurden. Zweitens zielten die Zukunftspläne der DAF, auf die Aly anspielt, weniger auf einen gesicherten Lebensabend für die gealterten "Volksgenossen", als vielmehr auf die weitest mögliche Ausnutzung ihrer Arbeitskraft. Drittens hatte die von der DAF geplante Alterssicherung mehr den Charakter einer staatlich gewährten Fürsorge, die bei fehlendem Wohlverhalten verweigert werden konnte, während bundesdeutsche Rentner eigentumsähnliche Versicherungsansprüche erwerben. Viertens schließlich beruht die dynamische Rente der Bundesrepublik auf dem Prinzip der intergenerationellen Solidarität. Dagegen spekulierten nationalsozialistische Sozialreformer vor allem auf die Ausbeutung eroberter Gebiete. Der NS-Staat war ein Staat der Räuber und Massenmörder. Ein Sozialstaat war er mit Sicherheit nicht.
Winfried Süß