Rezension über:

Hubertus Knabe: Tag der Befreiung. Das Kriegsende in Ostdeutschland, Berlin / München: Propyläen 2005, 392 S., 35 Abb., ISBN 978-3-549-07245-5, EUR 24,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Jörg Echternkamp
Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Echternkamp: Rezension von: Hubertus Knabe: Tag der Befreiung. Das Kriegsende in Ostdeutschland, Berlin / München: Propyläen 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 7/8 [15.07.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/07/8421.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Hubertus Knabe: Tag der Befreiung

Textgröße: A A A

1945 bedeutete Befreiung bekanntlich nicht Freiheit. Der Umkehrschluss: Wo die Freiheit auf sich warten ließ, könne von Befreiung keine Rede sein, bildet den roten Faden durch Knabes Studie zum Kriegsende. Indem sie die Vergangenheit von vorn herein in den vergangenheitspolitischen Zusammenhang rückt, unterscheidet sie sich von den zahlreichen neuen und nicht gar so neuen Publikationen zum 60. Jahrestag des 8. Mai, die häufig einen lokal- und regionalgeschichtlichen Schwerpunkt haben, Erinnerungen von "Zeitzeugen" zusammenstellen oder die Ereignisgeschichte der letzten Kriegsmonate ausbreiten.

Der wissenschaftliche Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen im ehemaligen zentralen Untersuchungsgefängnis des Staatssicherheitsdienstes der DDR will beides: das Kriegsende in Ostdeutschland historisch darstellen und an die Opfer stalinistischen Terrors erinnern. Dazu gibt es ja mittlerweile, nach der Öffnung der osteuropäischen Archive, einige gute Studien, insbesondere die von Manfred Zeidler und Norman Naimark. [1] Wie schildert nun Knabe das Kriegsende? Wie ordnet er es historisch ein? Welche Bedeutung misst er dem 8. Mai als Chiffre der Erinnerung heute zu?

Überzeugend gegliedert und in einer erfreulich klaren Sprache geschrieben, bietet der Band auf über 350 Seiten eine beachtliche Zusammenschau der Zeit der Besetzung Anfang 1945 durch die Rote Armee und der Besatzungsherrschaft in der SBZ. Und obgleich diese Studie zum Kriegsende keine Darstellung der SED-Herrschaft sein will, greift sie gelegentlich bis weit in die 50er-Jahre aus.

Der Band besteht aus drei Teilen. Auf knapp 100 Seiten werden zunächst "Die Schrecken der Eroberung" geschildert: die Gewalt gegen Flüchtlinge während des Vormarsches der Roten Armee, die massenhaften Plünderungen, Vergewaltigungen und Liquidierungen sowie das Schicksal der Kriegsgefangenen, die in den Lagern der sowjetischen "Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte" (GUPWI) als Zwangsarbeiter eingesetzt und Opfer der Militärjustiz wurden; ebenso wird das schreckliche Los der zwangsweise repatriierten Sowjetbürger beleuchtet, die Stalin als Kollaborateure zum Tod oder zur Zwangsarbeit verdammt hatte.

Im zweiten, kürzeren Teil beschreibt Knabe dann die "Säuberung der Ostgebiete" durch den sowjetischen Geheimdienst (NKWD), der im Rücken der Truppe reihenweise Männer und Frauen zur Zwangsarbeit in die Arbeitslager der UdSSR deportierte. Noch grausamer sei die polnische Miliz gegen deutsche Zivilisten vorgegangen, wobei sie die ehemaligen Konzentrationslager wie Stutthof, Auschwitz und Graudenz weiterführte (193).

Der dritte, mit mehr als 150 Seiten umfangreichste Teil soll schließlich den "Weg in die SED-Diktatur" nachzeichnen. Auch in der SBZ habe der NKWD ab Mitte April 1945 die Bevölkerung terrorisiert. Hunderte von Haftanstalten entstanden als Durchgangsstation auf dem Weg in die so genannten Speziallager. Zugleich gingen die sowjetischen Militärtribunale (SMT) bis 1955 erbarmungslos gegen politisch Andersdenkende vor - auch gegen Abweichler in den eigenen Reihen. Tausende Häftlinge wurden in den Archipel GULag, den für die Sträflinge zuständigen Teil des sowjetischen Lagersystems, verschleppt. Wer meint, es sei hier nicht zuletzt um die Bestrafung von NS-Verbrechern gegangen, den belehrt Knabe eines Besseren. Stalin sei einzig daran gelegen gewesen, durch deutsche Zwangsarbeiter die Lücke zu füllen, die zuvor durch die Deportierten in den besetzten Gebieten, die Gefallenen und Kriegsgefangenen gerissen worden war (161), und durch Terror den Widerstand der Bevölkerung zu brechen (349).

Keine Frage: Knabe zeichnet ein bedrückendes, in seiner Intensität seltenes Bild des Terrors. Seine These lässt zumindest an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Für die Menschen in Ostdeutschland sei das Kriegsende keine Befreiung gewesen, wie behauptet werde. Sie haben unter der sowjetischen Besetzung und Besatzung Grauenhaftes erleiden müssen (350).

Doch wer, außer einigen Unbelehrbaren, wollte Letzteres bestreiten? Ansonsten ist Widerspruch angebracht. Knabe zahlt für die Fixierung auf die Wahl des erfahrungsgeschichtlichen Blickwinkels eines Teils der Bevölkerung, der Opfer des Terrors, den hohen Preis der drastisch verkürzten Perspektive. Es gelingt nicht, das Ende des Zweiten Weltkriegs in Ostdeutschland in den größeren historischen Zusammenhang einzuordnen, wie es angesichts der national- und weltgeschichtlichen Zäsur angezeigt ist. Indem Knabe den Fluchtpunkt seiner Darstellung wohl nicht zufällig in die frühe Nachkriegszeit verlagert, erfährt der Leser viel über das Unrecht nach dem Ende des NS-Regimes, so gut wie nichts indes über den Terror davor, der gestoppt wurde - so oder so. Das NS-Regime und der Krieg zur rasseideologisch verbrämten Unterjochung Europas, um deren Ende es doch geht und die den logischen Bezugspunkt der "Befreiung" bildet, werden eher beiläufig erwähnt. Offenkundig hätte das Argument an Nachdruck verloren, wenn man - wie in der Zunft üblich - nach Zusammenhängen schaut; so verliert es an Überzeugungskraft.

Ohnedies lässt auch die Darstellung von Besetzung und Besatzung, das ist der zweite Schwachpunkt, wenig Raum für Nuancen. Unterschiede im Terrorregime herauszuarbeiten, Handlungsspielräume zu vermessen, gar Widersprüchen nachzuspüren: All das scheint Knabes Sache nicht zu sein. Monokausal fällt denn auch seine Antwort auf die Fragen nach den Ursachen der exzessiven Gewalt aus. Knabe erklärt sie allein mit der sowjetischen Kriegsideologie. Das Streben nach Vergeltung, die Brutalisierung durch den Krieg, der Kontrast des eigenen und fremden Alltags - diese Faktoren spielen für Knabe keine Rolle (63). Ein Blick in die stärker differenzierte, hier gar nicht erst angeführte Darstellung von Zeidler oder in die Edition von Briefen der Rotarmisten wäre hilfreich gewesen. [2] Mit den üblichen Belegen hält sich Knabe selbst bei umstrittenen Zahlen oft nicht lange auf. Dabei hätten die Leser schon gerne erfahren, welchen "nachträglichen Berechnungen zufolge" zum Beispiel 180.000 von 1,4 Millionen vergewaltigter Frauen an der Misshandlung gestorben sind (56)?

Eine dritte Schwäche ist nicht zu übersehen. Wer in der Bundesrepublik den 8. Mai als Chiffre der Befreiung kennzeichnet, argumentiert normativ, nicht deskriptiv. In Rede stehen nicht die vielfältigen Erfahrungen der Zeitgenossen am Ende der Kriegszeit, sondern die politischen und moralischen Werte der Nachkriegszeit. Knabes Bemühen, aus dem Gegensatz von zweierlei Kriegsenden einen Widerspruch gegen die "Befreiung" abzuleiten, mutet schon deshalb seltsam an. Hat es in der Bundesrepublik nicht Jahrzehnte gedauerte, bis sich die bittere Einsicht in den kausalen Zusammenhang von Niederlage und Befreiung im Rückblick gegen die Rede von Kapitulation und Katastrophe durchgesetzt hat? Das setzte voraus, dass der verbrecherische Charakter des NS-Regimes anerkannt und der 8. Mai als Ausgangspunkt einer liberalen, sozialen demokratischen Gesellschaftsordnung verstanden werden konnte.

Dass just die Rote Armee das nationalsozialistische Regime nicht nur in Deutschland in die Knie gezwungen und einen hohen Preis dafür gezahlt hat, gibt dem Dilemma einen besonders bitteren Beigeschmack - ändert aber nichts an dem paradoxen Sachverhalt. Und so übergeht Knabe geflissentlich die Ambivalenz in der Rede Richard von Weizsäckers, die er zum Auftakt attackiert. Umgekehrt ist daran zu erinnern, dass auch die wenigsten Westdeutschen in dieser Zeit das Kriegsende als "Befreiung" erfahren haben - also auch für sie nicht von Befreiung gesprochen werden dürfte, wenn man Knabes Argument folgt. Doch auch dieser Befund hätte die allzu kühne Konstruktion eines erfahrungsgeschichtlichen Gegensatzes von Ost und West unterlaufen.

Wenn Knabe auch noch spekuliert, dass der Befreiungsbegriff "vielleicht auch deshalb so populär [sei], weil er aus Tätern und Mitläufern plötzlich Opfer und Gefangene macht" (34), gerade so als disqualifizierte sich der Begriff durch seine Entlastungsfunktion, dann ist das nur mehr ärgerlich. [3] Beipflichten muss man Knabes Ansinnen, das Thema nicht Rechtsextremen zu überlassen (351). Indes unterstreicht seine Parallelführung der ohne Verzug ineinander übergehenden Diktaturen Hitlers und Stalins vor allem eins: dass der systematische Vergleich nach wie vor einen größeren Erkenntnisgewinn verspricht als das Gleichsetzen.

Nichts gegen einen moralischen Impuls, schon gar nichts gegen eine streitbare These - doch wo die Provokation zulasten der Interpretation geht, wäre weniger mehr gewesen. Knabes Philippika reiht sich ein in die aktualisierte Neuauflage des deutschen Opfer-Diskurses und wird im Umfeld der Erinnerung an das Kriegsende in Deutschland platziert. Das schreckliche Schicksal vieler Menschen in der SBZ und der DDR in diesem Zusammenhang zu präsentieren, hat da noch gefehlt. Der Band mag für einen ersten Überblick taugen. Der Komplexität des Themas wird er kaum gerecht. Für die unerlässliche Debatte über die Leidtragenden des Krieges auf deutscher Seite wurde eine Chance verspielt.


Anmerkungen:

[1] Manfred Zeidler: Kriegsende im Osten. Die Rote Armee und die Besetzung Deutschlands östlich von Oder und Neiße 1944/1945, München 1996; Norman H. Naimark: Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945-1949, Berlin (1997) 1999.

[2] Elke Scherstjanoi (Hg.): Rotarmisten schreiben aus Deutschland. Briefe von der Front (1945) und historische Analysen, München 2004.

[3] Vgl. die Äußerung im Interview: Welt am Sonntag, 20.03.2005.

Jörg Echternkamp