Heinrich Richard Schmidt: Worber Geschichte, Bern: Stämpfli 2005, 720 S., ISBN 978-3-7272-1173-7, CHF 49,00
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In der Schweiz erschien in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Ortsgeschichten. Auf diesem Weg wurde nicht nur bei der Bevölkerung der untersuchten Gemeinden das Interesse für Geschichte geweckt, sondern auch auf akademischer Ebene die in den letzten Jahren leider immer mehr aus dem universitären Leben verschwundene Landesgeschichte wieder belebt.
Der vorliegende Band beschäftigt sich mit der Geschichte von Worb, einer rund 11.000 Einwohner zählenden Gemeinde, die zehn Kilometer östlich von Bern liegt. Er vereinigt Beiträge von zweiundfünfzig Autorinnen und Autoren und umfasst beeindruckende 720 Seiten. Historikerinnen und Historiker, aber auch Fachleute aus der Kunstgeschichte, Archäologie, Denkmalpflege, Ortsnamenforschung, Geologie, Geografie, Medizin und Lexikografie trugen eine thematisch wie auch methodisch außerordentlich breite und spannende Ortsgeschichte zusammen.
Die "Worber Geschichte" ist thematisch in sechs Hauptkapitel gegliedert, erst innerhalb dieser findet sich eine chronologische Gliederung. Das Werk beginnt mit dem Thema "Siedlungsraum und Frühgeschichte", diskutiert dann "Die Menschen und ihre Gesellschaft", "Herrschaft und Gemeinde", "Gericht, Recht und Sicherheit", "Kultur und Religion" und endet mit "Ökonomie und Infrastruktur". Im Kapitel "Siedlungsraum und Frühgeschichte" geht es um Siedlungs- und Flurnamenforschung, Geologie, natürliche Ressourcen sowie Ur- und Frühgeschichte. Neben den naturräumlichen Gegebenheiten gingen die Autorinnen und Autoren auch auf herrschaftspolitische Raumstrukturen ein. Ein Relikt aus der traditionelleren, chronologisch orientierten Gliederung stellt die Integration der Ur- und Frühgeschichte en bloc in dieses erste Kapitel dar. In "Die Menschen und ihre Gesellschaft" werden ganz unterschiedliche Facetten Worbs als dörfliche Gesellschaft dargestellt. Nach einem einleitenden, bevölkerungsgeschichtlichen Abschnitt werden rechtliche und soziale Strukturen diskutiert. Die Worber Geschichte bleibt aber nicht auf der abstrakten Stufe von Strukturdaten stehen und behandelt darüber hinaus Themen wie die Armenfürsorge im Ancien Régime, das Leben in Armut, das Armenwesen im 19. Jahrhundert, Epidemien und das Ehegericht. Dabei zeigten die Autorinnen und Autoren, dass die rechtliche Abgrenzung von Bürgern und Hintersassen in Worb, ganz im Gegensatz zu den meisten Dörfern in der Ostschweiz, von nur geringer Relevanz war. Die finanziellen Unterschiede, die sich an der Größe der so genannten "Lose", der Rechte am Gemeinbesitz, ablesen lassen, waren offenbar entscheidender. Leider blieben soziale Gruppierungen wie Frauen und Männer oder Junge und Alte außerhalb der Betrachtung.
Der Themenkomplex "Herrschaft und Gemeinde" beginnt mit baugeschichtlichen Ausführungen über das alte und das neue Schloss von Worb - eine wehrhafte Burg und ein repräsentatives Palais. Die beiden Gebäude symbolisieren in eindrücklicher Weise die Macht des lokalen Adels im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Dieses historische und archäologische Kapitel verfolgt in eindrücklicher Weise die Entwicklung mittelalterlicher Herrschaftsformen zur modernen Gemeinde. Unter "Gericht, Recht und Sicherheit" thematisiert die Worber Geschichte die Bemühungen zur Erhaltung des dörflichen Friedens. Dazu gehörten die obrigkeitliche wie auch die dörfliche Gerichtsbarkeit. Anhand von Gerichtsquellen konnte die Bedeutung von Ehre und Gewalt im frühneuzeitlichen Dorfleben Worbs anschaulich gezeigt werden. Dabei ist schade, dass Konfliktvermeidungsmechanismen nicht thematisiert wurden; so hätte die Friedenssicherung aus der Optik der dörflichen Bevölkerung diskutiert werden können. Auch die bis mindestens ins 18. Jahrhundert andauernden Schwierigkeiten der Berner Obrigkeit, ihre Entscheide durchzusetzen, blieben außerhalb der Betrachtungen.
"Kultur und Religion" diskutiert die Kirche als Institution und als Gebäude, die Schulen sowie das Vereinswesen im 19. und 20. Jahrhundert. Ein äußerst disparates, aber spannend zu lesendes Kapitel, das von baugeschichtlichen Erläuterungen über die institutionelle Entwicklung der Kirche (Reformation) und die "deutsche Schule" als Elementarschule bis zur Geschichte des Vereinswesens reicht. So erfahren wir beispielsweise von 145 Vereinen - vom Sportverein über den Spielplatzverein bis zum Verein Familiengärten. Der älteste von ihnen, der Verein "Feldschützen Worb", wurde bereits 1840 gegründet.
Der Band wird mit einem ausführlichen Kapitel über "Ökonomie und Infrastruktur" abgeschlossen. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen wie auch verkehrstechnische Entwicklungen dominieren die Titelliste der einzelnen Texte. Daher lassen einen kleine Details und Reminiszenzen immer wieder schmunzeln, wie beispielsweise die Ausführungen über die Elektrifizierung im Jahre 1912, als sich die Gemeinde gerade einmal fünf Lampen leistete, sodass die Beleuchtung bereits 1917 ausgebaut werden musste. Alles in allem ein äußerst gelungenes regionalgeschichtliches Buch, das nicht nur Einblick in die Lokalgeschichte bietet, sondern von jedem an der Schweizer Geschichte Interessierten mit Gewinn gelesen werden wird. Kultur- und alltagsgeschichtliche Fragestellungen stehen im Vordergrund des Bandes, der zusätzlich durch dazwischen gestreute Geschichte(n) und Lebensbilder aufgelockert wird. Den makrogeschichtlichen Rahmen bieten strukturgeschichtliche Untersuchungen. Die "Worber Geschichte" vermittelt nicht nur Geschichte in einer ansprechenden Form, sondern integriert an der Universität verfasste Forschungsarbeiten. Einige Artikel lehnen sich stilistisch und im Aufbau zwar relativ stark an die formalen und rhetorischen Gepflogenheiten einer universitären Seminararbeit an; die spannende Gliederung und die anregenden Themen lassen die sonst eher trockene universitäre Schreibstube aber schnell vergessen. Das Buch regt zum Herumstöbern an und ermöglicht erstaunliche Funde. Die thematische Gliederung birgt allerdings auch Tücken. So stoßen diejenigen an die Grenzen dieses thematisch gegliederten Geschichtsbuches, die sich für bestimmte Zeitepochen interessieren. Das breite Themenspektrum des Werkes ist beeindruckend. Zeitlich ist die Publikation eingeschränkter, das Schwergewicht liegt eindeutig auf dem 18. und 19. Jahrhundert, die aus unterschiedlichsten Perspektiven ausführlich beleuchtet und analysiert werden. Dass der Zeit davor und danach wesentlich weniger Platz eingeräumt wird, ist zu bedauern, hätten sich einzelne Themen doch hervorragend geeignet, vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert diskutiert zu werden. Und die thematische Gliederung hätte die Chance geboten, bekannte Phänomene der jüngsten Zeit mit historischen Ereignissen und Abläufen zu verknüpfen. Trotz dieser Kritik, die sich eher auf den Titel, der bei der Rezensentin eine (nicht erfüllte) Erwartungshaltung produzierte, denn auf den Inhalt bezieht, ist Heinrich Richard Schmidt und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine Regionalgeschichte gelungen, die auch Aufmerksamkeit außerhalb von Worb und der Schweiz verdient. Die Worber Geschichte verbindet universitäre Forschung mit journalistischer Aufbereitung und nutzt ähnlich wie die Geschichte des Ägeritals [1] erfolgreich einen mikrogeschichtlichen Ansatz.
Anmerkung:
[1] Renato Morosoli / Roger Sablonier / Benno Furrer (Hg.): Ägerital - seine Geschichte, Ägeri 2003.
Katja Hürlimann