Dagmar Günther: Das nationale Ich? Autobiographische Sinnkonstruktionen deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 102), Tübingen: Niemeyer 2004, X + 488 S., ISBN 978-3-484-35102-8, EUR 74,00
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War "Nation" ein Fixpunkt bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses im Kaiserreich? Von dieser Annahme, so argumentiert Dagmar Günther in ihrer Bielefelder Habilitationsschrift, sei die historische Nationalismusforschung bislang ausgegangen - ohne sie aber systematisch zu überprüfen. Man müsse jedoch fragen, ob das "in kräftigen Farben gehaltene Bild von den Wirkweisen der Nation" (4) zu halten sei, wenn man seinen Blick nicht auf Organisationen, Bewegungen oder öffentliche Symbolpolitik richte, sondern auf individuelle Akteure. Um dies zu beantworten, untersucht sie 28 Autobiografien, sechs Tagebücher und vier Briefsammlungen von Bildungsbürgern des Kaiserreiches auf den Ort, den diese der Nation bzw. dem Nationalen einräumen.
In ihrer gut geschriebenen Einleitung, die neugierig auf das Buch macht, begründet Günther die Konzentration auf Bildungsbürger damit, dass diese in der Nationalismusforschung als "Bannerträger" des kulturellen Nationalisierungsprozesses gelten. Von jüngeren Studien der Bürgertumsforschung, die sich ebenfalls auf Autobiografien stützen, grenzt sich Günther methodisch scharf ab. [1] Selbstzeugnisse, so postuliert sie, müssen als "autobiographische Sinnkonstruktionen" (9) untersucht werden, d. h. das Augenmerk muss auf Erzählstrategien, auf der Art des Sagens und der Konstruktion des Textes liegen, nicht auf dem "Gemeinten", der referenziellen Dimension. Das Quellenkorpus ist weit gestreut: Es umfasst verschiedene Berufsgruppen (Professoren, Rechtsanwälte, Verwaltungsbeamte, Ärzte, Hausfrauen, etc.) ebenso wie verschiedene Religionsgemeinschaften (Protestanten, Katholiken, Juden), Nord- und Süddeutsche, Klein- und Großstädter, Männer und (wenige) Frauen.
Die Untersuchung gliedert sich in drei ungleichgewichtige Teile: Zunächst wird auf relativ knappem Raum die Konjunktur der Autobiografik im Kaiserreich thematisiert. Es wird gefragt, inwieweit Lebenserinnerungen von den Zeitgenossen einer nationalen Lesart unterworfen wurden - was eher selten geschah (43). Das erste der beiden folgenden, wesentlich umfangreicheren Großkapitel befasst sich mit dem Stellenwert der zentralen Stationen der (klein-)deutschen Einigung in den Selbstzeugnissen. Günther analysiert, wie sich das jeweilige autobiografische / diaristische / epistolare Ich zu den Befreiungskriegen, der Revolution von 1848/49, sowie den drei Einigungskriegen 1864, 1866 und 1870/71 positioniert, und ob bzw. inwiefern diese Ereignisse als Anlässe genutzt werden, die eigene Lebensgeschichte in die Nation hineinzuschreiben.
Die jeweils eigenständige Behandlung der genannten "Schlüsselereignisse" erlaubt es Günther, tradierte Annahmen über deren jeweilige Bedeutung im kollektiven Gedächtnis des Kaiserreiches kritisch zu überprüfen. Tatsächlich setzen die Autobiografen andere Schwerpunkte als die offizielle Erinnerungskultur des Kaiserreiches: Nur in Bezug auf 1870/71 korrespondiert die öffentliche Deutung dieses Krieges als "Kulminationspunkt der kleindeutschen Einigung" mit seiner ausführlichen Thematisierung in fast allen Lebenserinnerungen. Die Befreiungskriege hingegen spielen ebenso wie die Kriege von 1864 und 1866 nur eine verhältnismäßig geringe Rolle in den Autobiografien; die Revolution von 1848, die im offiziellen Gedächtnis des Kaiserreiches marginalisiert war, markiert in ihnen einen "prominenten historischen Bezugspunkt" (68). Zu fragen wäre allerdings, ob die relativ geringe Aufmerksamkeit, die den Jahren 1813/15 gewidmet wird, tatsächlich als Beleg für deren bis ins Kaiserreich hinein "gebrochene Wirkungsgeschichte" (447) gelten kann. Schließlich hatte nur eine Minderheit der Autobiografen diese Zeit schon bewusst miterlebt, und jene, bis auf eine einzige Ausnahme, als Kinder. Auch im Hinblick auf den großen Stellenwert von 1848 in den Autobiografien ließe sich einwenden, dass dieser sich vor allem lebensgeschichtlichen Faktoren verdankt. Günther setzt dem entgegen, dass es sich gerade angesichts der offiziellen Erinnerungskultur des Kaiserreiches "keineswegs von selbst" (68) verstehe, dass solche Erinnerungen auch thematisiert werden. In Bezug auf 1848 streicht sie heraus, dass zwar die meisten Autobiografen eine distanzierte Haltung zur Revolution betonten - "Ich war nicht dabei", lautet das gängige Fazit -, andererseits aber im Rückblick häufig eine Brücke von "1848" zu "1871" schlugen. Nachträglich sei "1848" nicht selten in eine Etappe der kleindeutschen Erfolgsgeschichte umgedeutet worden, eine Strategie, um den "bürgerlichen Anteil am neuen Nationalstaat" (115) besonders herauszustellen.
In den Kapiteln zu den Einigungskriegen arbeitet Günther präzise die unterschiedlichen Zugänge zum Nationalen heraus, welche die verschiedenen Gattungen der Selbstzeugnisse kennzeichnen, und lenkt den Blick des Lesers auf individuelle erzählerische Strategien der Sinnkonstruktion. So kann sie etwa zeigen, dass nachträgliche Umdeutungen der eigenen Lebensgeschichte - etwa im Sinne von "schon damals preußisch" (138) - gelegentlich von der Erzählung selbst unterlaufen werden. Sie analysiert, inwieweit in die Texte Wahrnehmungen des erinnerten Ichs hineinfließen, die der Intention des erinnernden Ichs entgegen stehen. Diskutierbar ist gleichwohl, ob eine nationale Wertung aufgrund der Tatsache, dass das Nationale nicht den gesamten Text strukturiert, tatsächlich als "Sprachklischee" bzw. "rhetorische Pflichtübung" (53) abzuwerten ist. Geschlechtsspezifische Unterschiede in Schreibstil und Selbstinszenierung beleuchtet Günther differenziert und liefert dabei eine Fülle von interessanten Beobachtungen.
Im zweiten Großkapitel thematisiert Günther zunächst die Beziehungen von Nation und Region vor dem Hintergrund der aktuellen Forschungsdiskussionen zum Verhältnis von partikularer zu nationaler Identität, zur Rolle der Heimat, Deutungen der Natur und Grenzen der Nation. Ähnlich verfährt sie in Bezug auf das Verhältnis von Nation und Religion; das Schlusskapitel widmet sie dem Bild der Nachbarländer und fragt nach deren Bedeutung als Feindbilder. Dem Leser liefert dieser zweite Hauptteil eine Reihe detaillierter Einblicke, die oft bestehende Forschungsergebnisse bestätigen, sie in vielen Fällen aber auch differenzieren. Die Quellen offenbaren ein breites Spektrum unterschiedlicher "Selbst-Verhältnisse" zum Nationalen und erlauben es Günther damit, vielfache "Beschränkungen" (452) der Nation bzw. des Nationalen zu profilieren. Die Ansprüche der Nation als "Letztwert" werden in den untersuchten Selbstzeugnissen von konkurrierenden Loyalitäten - Verwandtschaft, Freundschaft, Religion und Region - immer wieder beschnitten. Die Mehrzahl der Autoren bemüht sich dennoch darum, ein "nationales Ich" zu konstruieren; dies gilt vor allem für die Autobiografien, weniger für Tagebücher und Briefe. Es bleibt folglich dem Leser überlassen, inwieweit er Günthers Fazit folgen will, das vor allem die Grenzen der Wirkungsmacht des Nationalen betont.
Das Buch überzeugt in seiner präzisen Analyse von Autobiografien, Briefen und Tagebüchern, sowie in der Darstellung der Individualität und Vielfältigkeit der bürgerlichen Selbstverhältnisse zum Nationalen. Die methodische Entscheidung, stets die ganze Bandbreite der Erzählweisen zu präsentieren und alle Aussagen detailliert zu kontextualisieren, birgt allerdings auch Nachteile. Wenn zu jeder Teilfrage zahlreiche Autobiografen ausführlich zu Wort kommen, wirkt dieser Detailreichtum einer klaren Interpretationslinie eher entgegen und gelegentlich ermüdend. Zweifellos aber bietet das Buch eine lohnende und ertragreiche Perspektive sowohl auf die Wirkweisen des Nationalen als auch auf das Potenzial von Autobiografien für die historische Forschung.
Anmerkung:
[1] Insbesondere in Dagmar Günther: "And now for something completely different". Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: HZ 272 (2001), 25-61.
Sonja Levsen