Bogdan Musial (Hg.): "Aktion Reinhardt". Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941-1944 (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau; 10), Osnabrück: fibre Verlag 2004, 454 S., ISBN 978-3-929759-83-9, EUR 29,80
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Der Sammelband, der aus einer Lubliner Tagung vom Herbst 2002 hervorgegangen ist, greift diverse und von der Forschung zum Teil erst neuerdings wahrgenommene Einzelaspekte des nationalsozialistischen Judenmords im Generalgouvernement (GG) auf. Die Beiträge, die sich überwiegend mit dem GG-Distrikt Lublin befassen, sind in vier sich thematisch teils überschneidende Themenblöcke unterteilt.
In seiner "Einleitung" unterlässt der Herausgeber eine Einführung in den historischen Kontext; sie ist somit eher dem Überblick zur Historiografie von Dieter Pohl zu entnehmen. Musials "Einleitung" überrascht zudem mit der Behauptung, "die zeithistorische Forschung" habe sich mit dem NS-Judenmord "seit 1945 [...] auf internationaler Ebene" befasst(7). Wie jedoch Pohl zu recht unterstreicht, war die Forschung anfangs weder international, sondern auf Polen beschränkt, noch verlief sie kontinuierlich. In Westeuropa, Israel und Nordamerika erschien erst in den 1960er-Jahren eine größere Zahl von Publikationen. [1] Die größten Verdienste sollte sich zu dieser Zeit die Vierteljahrsschrift des Warschauer Jüdischen Historischen Instituts Biuletyn Żydowskiego Instytutu Historycznego erwerben, die selbst nach der antisemitischen Kampagne der polnischen Nationalkommunisten von 1967/68 unverdrossen Dokumente und Abhandlungen zum NS-Judenmord publizierte. Erst "35 Jahre nach den Geschehnissen" sollte es zu einer "weltweiten 'Wiederentdeckung' der NS-Verbrechen" kommen (17).
In seiner zuvor bereits auf Englisch erschienenen Rekonstruktion der "Ursprünge der 'Aktion Reinhardt'" geht Musial seiner These nach, dass der "rassische Antisemitismus [...] in der NS-Ideologie eine zentrale Rolle [spielte] und [...] von Anbeginn auf die restlose 'Entfernung' [...] der Juden" abzielte und somit die "Triebkraft des eliminatorischen Programms bis hin zum Völkermord" war (51, 85). Doch wer wollte dies ernsthaft bestreiten? Janina Kiełboń fasst die Ergebnisse ihrer Recherchen zu "Judendeportationen in den Distrikt Lublin" zwischen 1939 und 1943 in acht Tabellen zusammen. Die beklagenswerte Lage der jüdischen Bevölkerung angesichts der ersten, mit unerhörtem Gewalteinsatz durchgeführten Deportationen beschreibt David Silberklang. Ein realistischerer Kenntnisstand über das Ziel der Transporte wirkte sich demnach kaum zugunsten größerer Überlebenschancen für die mörderisch Verfolgten aus, zumal auch von polnischer Seite wenig Hilfe zu erwarten war: Manche wurden von den Strafandrohungen der Besatzer abgeschreckt, andere beteiligten sich als aktive Helfer oder passive Nutznießer an den antijüdischen Repressionen.
Robert Kuwałek schildert so genannte Durchgangsgettos im Distrikt Lublin in drei traditionell überwiegend jüdisch geprägten Kleinstädten: Izbica, Piaski und Rejowiec. [2] Mit der Rolle des "Mehrzwecklagers" (246) Lublin-Majdanek im NS-Judenmordprogramm befasst sich Tomasz Kranz.
Jacek Andrzej Młynarczyk beleuchtet das Geschehen im Distrikt Radom und schildert im Einzelnen Vorbereitung und Durchführung der Mordeinsätze, welche die Gettobewohner unerwartet und mit "unvorstellbarer Brutalität" ereilten (179). Auf Seiten der Täter wurden immer wieder dieselben Mordkommandos an verschiedenen Orten eingesetzt; von nahezu 400.000 als Juden Verfolgten sollten nur wenige Tausend überleben. In einem weiteren Beitrag geht Młynarczyk auf Entstehung und Geschichte des NS-Tötungszentrums Treblinka ein, dem "effektivsten aller Vernichtungslager der 'Aktion Reinhard'", dessen Opferzahl hier auf 781.000 beziffert wird (279, 281).
Zum Themenkomplex "Täter" steuert Patricia Heberer einen Beitrag zur "Kontinuität der Tötungsoperationen" von den "T4"-Eutanasiemorden im Reich hin zum Völkermord im GG bei; schon Michael Tregenza (Lublin) hat in den 1990er-Jahren in verschiedenen Aufsätzen auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Peter Black legt auf der Grundlage von Gerichtsakten eine Untersuchung zum Ausbildungslager für nicht-deutsche, meist unter sowjetischen Kriegsgefangenen rekrutierten Hilfspolizisten in Trawniki vor, die eine "wesentliche" bzw. "entscheidende Rolle" beim Judenmord spielten (325, 339). Ähnlich wie die deutschen Täter erlebten sie 1942/43 bei der Auflösung der jüdischen Zwangswohnviertel - auf Kosten der mit ihrer Hilfe Ermordeten - 'schöne Zeiten' (342 f.).
Zu den sechs Beiträgen, die in ähnlicher oder identischer Fassung zuvor auf Englisch, Polnisch oder Deutsch bereits erschienen sind, zählt der Aufsatz von Klaus-Michael Mallmann, der mithilfe von Akten bundesdeutscher Ermittlungs- und Gerichtsverfahren die Verbrechen im südpolnischen Distrikt Krakau untersucht: "'Mensch, ich feiere heut' den tausendsten Genickschuss.' Die Sicherheitspolizei und die Shoah in Westgalizien."[3] Da der Herausgeber klagt, er habe in seinem Band aus Platzgründen nicht alle ihm wichtig erscheinenden Konferenzbeiträge unterbringen können, hätte hier begründet werden müssen, warum er sich dafür entschied, bereits veröffentlicht vorliegende Texte in die Sammlung aufzunehmen; überhaupt muss es verwundern, dass die Veranstalter zu Vorträgen einluden, die seinerzeit bereits nachgelesen werden konnten.
Andererseits fehlt hier eine Studie zu dem Thema, wie die Mordkampagne der Besatzer von einheimischen Nichtjuden wahrgenommen wurde. [4] So bleibt unklar, welche Schlussfolgerungen etwa polnische Widerstandsgruppen aus dem Geschehen zogen. Auch würde die Konzeption dieses Sammelbandes mehr überzeugen, wenn er die seit dem Jahr 2000 im Laufe der Jedwabne-Debatte aufgeworfenen Fragen mit einbezogen hätte. Leider fehlen hier sowohl Orts- als auch Personenregister.
Wenngleich der Band nicht immer die versprochenen "neuesten Forschungsergebnisse" enthält und sich zwischen den einzelnen Beiträgen einige Dopplungen (manchmal mit leichten, aber signifikanten Abweichungen) ergeben, vermittelt er doch insgesamt ein plastisches und dem aktuellen Forschungsstand über weite Strecken entsprechendes Bild der nazi-deutschen Judenmord-Kampagne, wobei mehrere Beiträger die Schlüsselrolle des Lubliner SS- und Polizeichefs Odilo Globocniks bei der Ingangsetzung der Massenmorde im GG herausstellen.
Anmerkungen:
[1] Darunter die hier nirgends erwähnte, bis Mitte der 1980er-Jahre in mehreren Auflagen und in hoher Stückzahl in Westdeutschland zur politischen Bildung vertriebene Broschüre von Wolfgang Scheffler, Judenverfolgung im Dritten Reich, Berlin 1960.
[2] Zu Izbica siehe bereits Robert Kuwałek, Die letzte Station vor der Vernichtung, in: Deutsche - Juden - Polen. Geschichte einer wechselvollen Beziehung im 20. Jahrhundert, hrsg. von Andrea Löw u. a., Frankfurt/Main 2004, 157-179.
[3] Unter gleichem Titel in: Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, hrsg. von Gerhard Paul, Göttingen 2002, 109-136.
[4] Ein regionalgeschichtlicher Beitrag hierzu findet sich allerdings in der z. T. andere Beiträge enthaltenden polnischsprachigen Ausgabe: Dariusz Libionka, Polska ludność chrześ cijań ska wobec eksterminacji Żydów - dystrykt lubelski [Die polnische christliche Bevölkerung angesichts der Judenvernichtung: Der Distrikt Lublin], in: Akcja Reinhardt. Zagłada Żydów w Generalnym Gubernatorstwie, hrsg. von Dariusz Libionka, Warszawa 2004.
Klaus-Peter Friedrich