Susanne Schreiber: Studien zum bildhauerischen Werk des Niclaus (Gerhaert) von Leiden (= Europäische Hochschulschriften. Reihe XXVIII: Kunstgeschichte; Bd. 400), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 274 S., 58 Abb., ISBN 978-3-631-52025-3, EUR 51,50
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Aus spätmittelalterlicher Zeit sind uns nur wenige Namen bedeutender Bildhauer erhalten geblieben, die zugleich mit berühmten Bildwerken in Verbindung zu bringen sind. Zu ihnen gehört eine Künstlerpersönlichkeit, über die man gerne mehr wüsste und deren Œuvre durch Zu- und Abschreibungen ständig schwankt. Die Rede ist von Niclaus (Gerhaert) von Leiden.
Nun hat sich mit Susanne Schreiber eine weitere Forscherin der Interpretation seines viel diskutierten Œuvres angenommen. Die Arbeit trägt den unscheinbaren Terminus "Studien" in ihrem Titel. Denn Schreiber geht es nicht um neue Quellenfunde und -deutungen, nicht darum, weitere Skulpturen zur Diskussion zu stellen, sondern das bestehende Œuvre unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten. Ihr Anliegen ist "neben der Formgeschichte die Deutung von Niclaus' sakralen und profanen Bildwerken" (13). Der teilweise noch heute verfolgten reinen Stilkritik, die den "naturwissenschaftlichen Evolutionsgedanken unreflektiert auf die Kunstgeschichte überträgt" (9), will sie sich nicht verschreiben. Sie plädiert stattdessen für deren Ausweitung "um die Reflexion außerkünstlerischer Bild-Konstituenten und ein Künstlerbild [...], das pluralen Ausdruck zulässt" (10). Dem gemäß untersucht sie Niclaus' Bildkonzepte (den Begriff Stil möchte sie vermeiden) aus sozial- und frömmigkeitsgeschichtlicher, wie aus bildsemantischer Sicht.
Schreiber widmet sich eingangs der dürftig bekannten Vita Gerhaerts, der ein gefragter Bildhauer und bereits zu seinen Lebzeiten berühmt war: Selbst Kaiser Friedrich III. musste ihn mit Vorschüssen locken, um ihn als Meister für sein Wiener Grabmal zu gewinnen. Beim Nachspüren seiner künstlerischen Herkunft durch die Betrachtung der Skulptur Burgunds und der burgundischen Niederlande ergeben nach Schreibers Ansicht deutliche Hinweise. Physische Präsenz und psychologische Charakterisierung, wie sie bereits die Werke Claus Sluters auszeichnen, wurden zur formalen Gestaltungsgrundlage von Niclaus' künstlerischem Schaffen. Auch das Prinzip von Schale und Kern sieht Schreiber in der burgundischen Kunst bereits vorgeprägt und kommt zu dem Schluss: "Der Bruch zwischen Niclaus und seinen Vorgängern ist kleiner als behauptet" (24).
Im dritten Kapitel befasst sich Schreiber eingehender mit Niclaus' Bildkonzepten, für die sie gesicherte Werke und mit der Skulptur des Heiligen Adrian in Brüssel erstmals ein ungesichertes Werk anführt. Die bekannten Fassadenfragmente der Neuen Kanzlei in Straßburg, der "Sinnende" sowie das Büstenpaar einer jungen Frau und eines alten Mannes nutzt Schreiber für eine ausgiebige Untersuchung der Halbfigur. Diese Bildgattung war spätestens mit den Tafelbildern eines Jan van Eyck auch im Norden etabliert. Die Figur des Sinnenden, die Schreiber als Selbstportrait deutet, verdeutlicht das Prinzip der Dynamisierung einer Figurenkomposition, die auch den Betrachter mit in die Wirkung einbezieht. Zugleich sieht Schreiber in der Figur "Prozess und Ergebnis künstlerischer Schöpfung dargestellt" (41). Niclaus' konzeptionelle Basis "Inhalt in Form und Form in Inhalt" (46) zu verwandeln, rührt zugleich an den Grundlagen der Kunst. Was dem Maler Jan van Eyck durch eine mimetische Wiedergabequalität gelingt, nämlich eine gemalte Kunsttheorie, die sich zugleich mit anderen Gattungen misst (aufgezeigt durch Rudolf Preimesberger), sehen wir bei Niclaus von Leiden übertragen auf die Skulptur.
Besonders deutlich wird dies am Baden-Badener Kruzifix, mit dem Niclaus' "sein Mimesis-Konzept in den Dienst des eschatologisch geprägten Themas zu stellen weiß" (59). Die Doppelnatur Christi, die den am Kreuz gestorbenen Menschen, aber auch den lebendigen, unsterblichen Gott in sich birgt, liegt Niclaus' Bildkonzept zu Grunde. Es vermittelt "Vorliebe für die Bewegung der menschlichen Figur und für transitorische Zustände" (71).
Diesen Präliminarien folgen drei "Musterstudien" (13) zu Hauptwerken des Niclaus' von Leiden, die Susanne Schreiber mit deutlicher Thesenbildung vorlegt. Inschriftlich gesichert sind das Grabmal des Erzbischofs Jakob von Sierck in Trier und das Epitaph eines Kanonikers im Straßburger Münster. Das dritte Werk ist die in berufenen Kreisen noch immer umstrittene Dangolsheimer Madonna in Berlin.
Auch beim Sierck-Grabmal - in den Augen Schreibers das erste Doppeldecker-Grabmal im Heiligen Römischen Reich - schöpft Gerhaert seine Fähigkeiten mimetischer Wiedergabe voll aus. Durch subtile Oberflächenbearbeitung trotzt er dem Material Stofflichkeiten ab, die dem Betrachter das Vergehen im Tod und zugleich die lebendige Auferstehungsfreude des Verstorbenen vermitteln. Die Augen des Erzbischofs sind geöffnet, sein Bartschatten ist durch Punktierungen realisiert, und die Grobkörnigkeit des harten Steins liefert die weiche Porigkeit der Haut. Diese "Dualität von Leben und Tod" (86) aufzuzeigen, gelingt Niclaus', so die These der Autorin, vollkommener als den Bildhauern seiner oder früherer Generationen.
Die Übertragung von Bildkonzepten der altniederländischen Tafelmalerei auf die Gattung der Skulptur vollzieht Niclaus' von Leiden mit dem Epitaph eines Kanonikers im Straßburger Münster. Mit der halbfigurigen Darstellung einer Muttergottes mit Kind und betendem Stifter in einer maßwerkgeschmückten Nischenarchitektur generiert er eine völlig neue Raumkonzeption. Die Figuren werden vom Reliefgrund losgelöst und vergegenwärtigen in scheinbar realer Präsenz das beständige Hier und Jetzt einer Ewigen Anbetung. Gerhaert "ersetzt den die soziale Stellung markierenden Inschrifttext wie den Appell um Fürbitte durch ein Bildsystem, das die der Gattung immanente Hoffnung auf individuelle Erlösung nicht nur einzulösen, sondern maximal zu steigern weiß" (95).
Auch der viel diskutierten Dangolsheimer Muttergottes gewinnt Schreiber neue Aspekte ab und weist die Madonna dem Œuvre Gerhaerts zu. Die Figur hebt sich bewusst von der Skulpturenproduktion des Oberrheins ab, wobei sich die Lebhaftigkeit des Jesuskindes wie auch der Griff in den Schleier als Momente eines Zeit- und nicht eines Lokalstils darstellen. Die seit Pinder als "späteste Interpretation des Typus Schöne Madonna" (150) gehandelte Figur spielt förmlich mit den charakteristischen Elementen dieses Typs. Der S-Schwung, die "raumkonstituierende Draperie" (150) und die instabile Lage des Kindes werden virtuos miteinander verwoben, aufeinander bezogen und so in neue Bedeutungszusammenhänge gebracht. Das Motiv der Schutzmantelmadonna schlägt durch, ebenso wie die semantischen Bezüge des Schleiers. Und so rundet sich das Bild eines innovativ arbeitenden, selbstbewussten Bildhauers ab, der seinen Auftraggebern mit individuellen Ausformungen neuer Bildkonzepte gegenübertritt.
Susanne Schreiber tat gut daran, die eingefahrenen Wege der reinen Stilkritik zu verlassen, und stattdessen die Frage nach Gerhaerts Bildkonzepten aufzuwerfen. Ihr Ziel war es nicht, das Œuvre des Meisters neu abzustecken, sondern in einer gleichwohl formgeschichtlichen Untersuchung den bestehenden Werken inhaltlich näher zu kommen, was ihr besonders in den Musterstudien gelingt. Allerdings wäre ein dem Thema der mehransichtigen Skulptur angemessener und qualitätsvoller Abbildungsteil wünschenswert gewesen. Auch hätte man sich eine umfänglichere Ausarbeitung der beiden sehr kursorisch angelegten Epiloge, vor allem aber die Formulierung eines abschließenden Fazits gewünscht. Und so endet die Arbeit eigentümlich offen und gleichsam in der Erwartung weiterer Diskussionen um das umstrittene Œuvre einer faszinierenden Bildhauerpersönlichkeit.
Ralf Dorn