Rezension über:

Frits Scholten / Guido de Werd: Eine höhere Wirklichkeit. Deutsche und Französische Skulptur 1200 - 1600 aus dem Rijksmuseum Amsterdam, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2004, 205 S., ISBN 978-3-422-06513-0, EUR 39,90
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Rezension von:
Norbert Wolf
München
Redaktionelle Betreuung:
Ulrich Fürst
Empfohlene Zitierweise:
Norbert Wolf: Rezension von: Frits Scholten / Guido de Werd: Eine höhere Wirklichkeit. Deutsche und Französische Skulptur 1200 - 1600 aus dem Rijksmuseum Amsterdam, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 10 [15.10.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/10/8728.html


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Frits Scholten / Guido de Werd: Eine höhere Wirklichkeit

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"Die Bildhauerkunst wird mit Recht so hoch gehalten", schrieb Goethe 1798 in seinem Aufsatz 'Über Laokoon', weil sie "[...] den Menschen von allem, was ihm nicht wesentlich ist, entblößt", weil sie Sinnlichkeit mit Ethos eng verschwistert.

Aus heutiger Warte eine ziemlich antiquierte Aussage ! Denn die aktuelle Kunstszene verweigert sich - man sollte einmal über die Gründe reden - entschieden einer derartigen Gattungspriorität. Als Publikumsmagnet und kunsthistorisches Event funktionieren fast exklusiv jene Ausstellungen, die Malerei oder ikonografische Reizthemen inszenieren. Gewiss, die letzten Jahre sahen eine Reihe wichtiger Skulpturenpräsentationen, wobei ich mich mit den Beispielen auf Deutschland beschränke: die 1996-1997 im Aachener Suermondt-Ludwig-Museum zu sehenden Meisterwerke niederrheinischer Skulptur, aus dem Zeitraum 1500-1550; die von den Museen der Stadt Landshut 2001 organisierte Ausstellung über niederbayerische Skulptur zur Zeit der Reichen Herzöge (1393-1503); die besonders schöne und wichtige Ausstellung in Ulm, die sich 2002 der spätgotischen Bildhauerkunst im Kreis um Michel Erhart und Jörg Syrlin widmete; die im Landesmuseum Heidecksburg 2003 durchgeführte Ausstellung zur klassizistischen Bildhauerkunst im Umkreis Goethes. Ihrer aller Resonanz blieb freilich überschaubar. Ein breiteres Publikum vermochte eigentlich nur die große Riemenschneider-Ausstellung zu mobilisieren, die man 2004 in Würzburg ausrichtete. Einen derartigen Zuspruch wird das Museum Kurhaus Kleve mit den aktuell gezeigten Leihgaben wohl nicht erwarten können, auch wenn diese aus einem weltberühmten Museum stammen.

Voraussichtlich bis zum Jahr 2007 wird es dauern, bis die Modernisierung des Amsterdamer Rijksmuseums abgeschlossen ist. Solange werden Teile der Sammlung ausgelagert, die wichtigsten Skulpturen niederrheinischer, deutscher und französischer Provenienz vom Hochmittelalter bis zum Frühbarock, inklusive zahlreicher Elfenbeinschnitzereien, eben nach Kleve. Auch sind einige Neuerwerbungen, wie die wunderbare spätgotische Johannesschüssel (Nr. 44) oder das beeindruckende Selbstporträt, eine farbig gefasste Terrakotta-Büste (Nr. 34), des Johann Gregor van der Schardt (1530- nach 1581), dort erstmals international präsentiert.

Bedingt durch die spezifische Sammlungsgeschichte des Rijksmuseums, die einleitend skizziert wird, hat sich der Katalog mit einem regional, zeitlich und thematisch recht bunten Fundus meist kleinformatiger Objekte auseinander zu setzen, die des Öfteren nur mittleres Qualitätsniveau repräsentieren. Insgesamt 68 Textbeiträge gehen dieser Aufgabe nach (die Freistellung der zugehörigen Abbildungen ist wohl Geschmackssache, mir scheint damit eine zu große optische Silhouettierung einherzugehen). Sorgfältige Recherchen verankern die Einzelbeispiele in ihrem morphologischen und stilistischen Umfeld.

Naturgemäß können angesichts des weiten Horizonts, den der Katalog abzuschreiten hat, ein paar Schwächen nicht ausbleiben. Der Leser würde zum Beispiel gerne wissen, warum der von Meister Arnt von Kalkar um 1480 geschnitzte Engel mit den Arma Christi (Nr. 3) die Dornenkrone gerade auf einem Ritterhelm offeriert. Die Passagen zu einer dem frühen 13. Jahrhundert entstammenden südfranzösischen Schnitzmadonna (Nr. 35) sind dort missverständlich, wo es heißt, dass der Typus der 'sedes sapientiae' im Hochmittelalter verankert sei - reicht seine Genese doch mindestens bis in ottonische, wenn nicht in karolingische Zeit zurück. Die ausgewogene und differenzierte Argumentation hinsichtlich der wunderschönen Alabasterfigürchen einer Verkündigung aus der Hand des Tilman Riemenschneider leiden ein wenig darunter, dass das komplizierte Problem monochrom gefasster Skulpturen natürlich nicht in ein, zwei Sätzen abzuhandeln ist (und dass beispielsweise der nahe liegende Hinweis auf Demi-Grisaillen in der Buchmalerei fehlt). Methodisch besonders problematisch ist der Katalogbeitrag Nummer 36, der einen gegen 1260 in Südfrankreich geschnitzten Kruzifixus mit dem Kölner Gero-Kruzifix des ausgehenden 10. Jahrhunderts (!) vergleicht. Und wenn das Bildprogramm der elfenbeinernen Krümme eines Bischofsstabes (Ende 14. Jahrhundert; Nr. 54) als Aufforderung gedeutet wird, durch Gebetsleistung die Erbsünde zu überwinden, dann drängt sich die Frage nach dem Adressaten jener angeblichen Bilddidaktik auf. Der einfache Gläubige war das sicher nicht. War aber, was nahe liegt, der Träger des Stabes angesprochen, böte sich dann nicht eine Semiotik an, die sein Hirtenamt definiert?

Kritikpunkte wie die eben aufgeführten bleiben marginal im Vergleich zur hohen Sachkenntnis der allermeisten Textpassagen. Ich verweise nur auf die Behandlung der Königsbüste aus einer Wurzel Jesse, die Arnt von Kalkar um 1480/85 schnitzte (Nr. 5) - der Beitrag entwirft ein komplexes und überzeugendes Netz der Werkstattabhängigkeiten; und ich verweise auf das profunde Forschungsresümee hinsichtlich Henrik Douvermanns um 1510 vollendeter Marienstatue (Nr. 12) beziehungsweise der Alabaster-Pietà (Nr. 21) des so genannten Meisters von Rimini (der, anders als sein Notname erwarten lässt, am Mittelrhein oder im nordfranzösisch-südniederländischen Grenzgebiet beheimatet war).

Die Zuteilung einer wunderbaren Schnitzgruppe mit der Geburt Christi (um 1465/70, Nr. 22) in die Nachfolge des Nicolaus Gerhaert van Leyden, die der Katalog vornimmt, überzeugt; ebenso die Provenienz eines Hl. Vitus (24) und der drei Altarreliefs (Nr. 25) aus dem Umfeld des Michel Erhart. Hinsichtlich einer fragmentierten Schnitzfigur der Muttergottes folgt man gerne dem Vorschlag des Katalogbeitrags (Nr. 28), sie in die Nähe des großen Landshuter Bildhauers Hans Leinberger und in die Jahre um 1520 zu rücken. Meines Erachtens wäre zu überlegen, ob als Urheber nicht Peter Dell in Frage kommt, ein Schüler Riemenschneiders und zeitweiliger Mitarbeiter Leinbergers (ein Aufsatz Frank Matthias Kammels diskutiert im 1. Katalogband zur eingangs zitierten Würzburger Riemenschneider-Ausstellung diesen Künstler ausführlich).

Die nach Kleve ausgeliehenen Exponate des Rijksmuseums rücken nicht nur ein weiteres Mal, nach der eingangs zitierten Aachener Ausstellung, die hochrangige niederrheinische Skulptur aus Spätgotik und Renaissance ins Blickfeld des deutschen Publikums, sie schärfen vor allem die Konturen der süd- und nordniederländischen Bildhauerkunst. Sie dokumentieren, dass beileibe nicht alles in den Bilderstürmen der Reformation zu Grunde ging, wie oft zu hören. Die Skulptur hat, wenn auch enorm dezimiert, zahlreiche und markante Spuren hinterlassen; nicht zuletzt in der im 15. Jahrhundert blühenden Elfenbeinschnitzkunst - wie mehrere in Kleve versammelte Beispiele auf hohem künstlerischen Niveau beweisen.

Fazit: Ein wichtiger Katalog zu einer wichtigen Sammlung älterer Skulptur! Aber mit Gewinn wird ihn wohl nur der zur Hand nehmen, der bereits über einiges Spezialwissen verfügt. Wieder einmal richtet sich ein Buch über Skulptur an die verschworene Gemeinschaft der Insider.

Norbert Wolf