Robert Steegmann: Struthof. Le KL-Natzweiler et ses kommandos: une nébuleuse concentrationnaire des deux côtés du Rhin 1941 - 1945, Strasbourg: Édition de la Nuée Bleue 2005, 489 S., ISBN 978-2-7165-0632-8, EUR 25,00
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Sechzig Jahre nach Kriegsende befremdet noch immer die Diskrepanz zwischen der großen öffentlichen Präsenz der Geschichte der Konzentrationslager einerseits - etwa anlässlich der Befreiungsfeiern - und dem geringen Interesse der Wissenschaft an dem Thema andererseits. Nach sporadischen Publikationen in den 60er- und 70er-Jahren wird seit den 90er-Jahren ein erneuertes Augenmerk auf die Konzentrationslager gerichtet. So entstanden erst vor wenigen Jahren die ersten wissenschaftlichen Studien zu einigen "Stammlagern" - etwa von Isabell Sprenger zu Groß-Rosen, Jens-Christian Wagner zu Mittelbau-Dora oder von Michel Fabréguet zu Mauthausen -, zu anderen - etwa dem KZ Warschau - fehlen sie bis heute. Die vorliegende Arbeit von Robert Steegmann - ursprünglich eine sieben Bände und 1818 Seiten umfassende Dissertation an der Universität Marc Bloch in Straßburg - schließt diese Lücke nun für das im Mai 1941 entstandene KZ Natzweiler.
Das Buch ist in vier Kapitel gegliedert, die sich erstens mit der Häftlingsstatistik (hier insbesondere Zu- und Abgänge im Lager), zweitens der Arbeit im KZ, drittens dem Mikrokosmos KZ (darunter fallen Baulichkeiten, SS-Personal und Alltag der Häftlinge) und viertens den medizinischen Versuchen beschäftigen. Ein umfangreicher Dokumentenanhang, zahlreiche Fotos und gutes Kartenmaterial ergänzen den Text. Allein die Verarbeitung einer umfangreichen und oft schwer zugänglichen (deutschen) Literatur zu den zahlreichen Außenlagern des KZ Natzweiler verdient großes Lob. Zu Hochform läuft der Autor in der Beschreibung und dem Vergleichen der Quellen auf: Schutzhaftlagerrapporte, Veränderungslisten, Transportlisten, Zugangslisten, Häftlingspersonalbögen, Krankenkarten, Totenbücher, Sterbeurkunden: hier war ihm wirklich keine Mühe zu viel. Es steht daher zu hoffen, dass das Buch bald auch auf Deutsch vorliegt.
Vor einer Drucklegung sollten allerdings die willkürlich verteilten Umlaute und orthografischen Fehler bei Eigennamen und Ortsnamen - "Kaltenbrünner" (231), "Dr. Erno Lölling" (232) anstatt Dr. Enno Lolling, "Brüttig" anstatt Bruttig (75), "Osterbürken" anstatt Osterburken (168), "Klingelputz" anstatt Klingelpütz (62), "Fussen" anstatt Füssen (170) sowie kleinere Übersetzungsfehler (Fehlinterpretation eines Codenamens, 279) - korrigiert werden. Unbegreiflich ist auch, warum die Falschschreibung des Ortes Cochem mit der Begründung, er würde in den Quellen "Kochem" genannt, perpetuiert werden muss (66). Manchmal ist auch die Terminologie nicht sicher verwendet worden: So erwähnt der Autor für das Jahr 1943 das "KZ" Esterwegen; richtig wäre Strafgefangenenlager (176), in einem Fall werden Dienstrang und Funktion verwechselt (334). Teils liegen auch Fehleinschätzungen vor: die 1938 und damit vergleichsweise spät erfolgte NSDAP- und SS-Mitgliedschaft des Lagerarztes Dr. Heinrich Plaza war wohl weniger auf dessen distanzierte Haltung gegenüber dem 'Dritten Reich' als vielmehr auf seine Herkunft aus dem Sudetenland zurückzuführen.
Problematisch ist die strukturelle Kapitelgliederung, die zu Wiederholungen und der Zerstückelung von Kausalitäten führt. Bei den Transporten von und zum Lager muss der Autor mehrfach Außenlager erwähnen, die noch nicht eingeführt wurden. Im nachfolgenden Kapitel erst erklärt er anhand der Arbeitseinsätze, warum die Außenlager überhaupt entstanden sind und listet die Transporte erneut auf. So hat sich der Leser gerade an die namensähnlichen Außenkommandos Neckarelz und Neckargerach (110) gewöhnt, da bringt der Verfasser Neckargartach (128), Neckarbischofsheim und Neckarzimmern (184) ins Spiel, deren Existenz und Zweck erst viele Seiten später aufgeklärt werden wird. Die hohe Sterblichkeitsrate insbesondere im letzten Kriegsjahr wird bereits im ersten Kapitel abgehandelt, die Begründung folgt aber in den Hauptabschnitten 2 (Arbeit) und 3 (Mikrokosmos). Hier fragt man sich, ob nicht eine biedere chronologische Gliederung die Kausalzusammenhänge deutlicher gemacht hätte. Zudem sind die Abschnitte sehr ungleichmäßig gewichtet: mehr als 150 Seiten befassen sich mit den Zu- und Abgängen im Lager, etwa jeweils 60 Seiten mit Arbeit und Mikrokosmos, weniger als 30 Seiten mit den medizinischen Versuchen.
Wer jemals mit Transportlisten gearbeitet hat, weiß welche große Arbeitsleistung dahintersteckt, die unvollständigen und häufig stark differierenden Angaben abzugleichen und Schlüsse daraus zu ziehen. Indes: dass die Konzentrationslager in vielfachen Beziehungen zueinander standen und ständig Transporte zwischen einzelnen Haftstätten unterwegs waren, ist bekannt und birgt auch für den allgemein interessierten Leser keinen übermäßig großen Erkenntnisgewinn. Dazu kommt, dass die als Ursprungsort des Transports angegebenen Lager vielfach nur Durchgangsstationen waren. Da Überstellungen aus dem KZ Vaivara größtenteils via Stutthof bei Danzig abgefertigt wurden, wo Selektionen zur Vergasung stattfanden, erscheint auf den Listen stets Stutthof als Abgangsort. Der Aufenthalt der Häftlinge dort betrug aber eine höchst kurze Zeit. Bei den Gefangenen eines Transports "aus Stutthof" handelte es sich also tatsächlich um Häftlinge aus Vaivara. Gerade diese Verlagerung eines ganzen KZ (nämlich Vaivara) mit seinen Außenlagern samt Häftlingen und SS-Personal aus Estland nach Württemberg und die Angliederung an das KZ Natzweiler, die allein schon von einem logistischen Standpunkt aus bemerkenswert gewesen sein muss, thematisiert der Autor überhaupt nicht. Sehr deutlich wird die personelle Kontinuität zwischen dem KZ Vaivara und den Natzweiler Außenlagern in den deutschen Strafverfahren Hechingen Ks 18/63 und Ulm Ks 4/67, die sich gegen Lagerpersonal richteten, das sowohl im KZ Vaivara und seinen Außenlagern Vivikoni, Narwa, Ereda und Lagedi als auch in den Natzweiler Außenlagern Dautmergen, Bisingen, Neckargerach, Neckarelz, Markirch, Schörzingen, Schömberg, Spaichingen und Kochendorf tätig gewesen war.
Eine der spannendsten Tatsachen über Natzweiler ist, dass es das einzige KZ war, das nach seiner Räumung im September 1944 über seine Außenlager weiter existierte. Während andere evakuierte Konzentrationslager aus dem System der Konzentrationslager gelöscht wurden, ihr Personal und ihre Häftlingsbelegschaft in anderen Lagern aufgingen, blieb die Kommandantur von Natzweiler erhalten und residierte - vergleichbar etwa mit verlegten Gestapostellen - zunächst in Dachau, dann in der Pension "Zum Karpfen" in Guttenbach im Neckartal. Wie sehr sich die Bedeutung von Hauptlager und Außenlagern relativiert hatte, verdeutlicht auch die Tatsache, dass von den ca. 51.000 Häftlingen, die von 1941-1945 in Natzweiler aufgenommen wurden, 35-38.000 stets nur in den Außenlagern inhaftiert gewesen waren. Der Terror hatte sich derart verselbstständigt, dass die Kommandanturen der Hauptlager in mancher Hinsicht obsolet geworden waren. Jedes Außenlager funktionierte mehr oder weniger wie ein selbstständiges Hauptlager (207). Die Außenlager Neckarelz und Vaihingen übertrafen bereits fünf Monate bzw. einen Monat nach ihrer Eröffnung den Häftlingsbestand des KZ Natzweiler nach zwei Jahren (67). Die Kommandanturen waren lediglich noch für die Buchführung zuständig, die in der letzten Kriegsphase in eine "anarchie administrative" (188) ausgeartet war.
Ein Haupteinwand besteht aber darin, dass das Werk über weite Strecken hin "menschenleer" bleibt. Der Leser erfährt zwar etwas über die Hunde "Rolf" (347), "Gretl" und "Adele" (348) im Dienst der SS, die Aussagen von Natzweiler-Überlebenden jedoch werden kaum erwähnt oder in die Fußnoten verbannt. Der Verfasser zitiert gerne Primo Levi (15, 24, 25, 301, 353, 365), der natürlich auf höchstem Niveau Allgemeingültiges über das Leben und Sterben im KZ formuliert hat, aber eben kein Häftling von Natzweiler war. Zu den Kommandanten und Lagerärzten hat der Autor biografische Skizzen verfasst. Wäre da nicht kontrapunktisch auch der Lebenslauf mancher Gefangener von Interesse gewesen? Angesichts der Tatsache, dass die Stimmen der Überlebenden dieses "Jahrhunderts der Lager" eines Tages endgültig verstummt sein werden, wäre es von grundlegender Bedeutung, zumindest Einblick in diese Erinnerungen in ihrer Vielfalt zu geben und so einer Leserschaft im 21. Jahrhundert zugänglich zu machen. Eine quellenkritische Würdigung der Autobiografien, Zeugenaussagen oder Briefe wäre überdies höchst verdienstvoll gewesen.
Zu den Prozessen nach 1945 hat der Autor wenig zu sagen. Dabei wurden sowohl französische als auch britische Militärgerichtsprozesse und deutsche Verfahren geführt, die geradezu zu einem Vergleich einladen. Die Geschichte der Gedenkstätte Natzweiler oder eine Analyse zur Verankerung des Lagers im kollektiven Gedächtnis Frankreichs sucht der Leser ebenfalls vergebens. So hinterlässt das Werk trotz aller Stärken den Eindruck, dass es in vieler Hinsicht über eine konventionelle Darstellung nicht hinausgekommen ist.
Edith Raim