Michael Kulikowski: Late Roman Spain and Its Cities, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2004, XVIII + 489 S., ISBN 978-0-8018-7978-4, USD 55,00
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In der Debatte über die Entwicklung der Stadtkultur in der Spätantike hat der spanische Befund bislang nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Das lag zum einen an einer unbefriedigenden Quellenlage: Das spätrömische Hispanien findet in den literarischen Zeugnissen nur selten Erwähnung, spätantike Inschriften fehlen weitgehend, und die archäologische Erforschung der Spätphase des römischen Städtewesens war kaum vorangetrieben worden. Gerade Letzteres hat sich zwar mittlerweile entscheidend geändert, doch ist dies außerhalb Spaniens noch nicht in gebührendem Maße wahrgenommen worden. Zum anderen wurde die spanische Historiografie lange Zeit von einigen sehr wirkungsmächtigen Axiomen dominiert, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Die blühende Stadtkultur des 1. und 2. Jahrhunderts sei durch die plötzlich hereinbrechende 'Krise des 3. Jahrhunderts', insbesondere durch die Germaneneinfälle um 260, brutal und unwiederbringlich zerstört worden. Das Hispanien des 4. Jahrhunderts habe daher ein völlig verändertes Aussehen gehabt: Während die Städte daniederlagen, hätten sich die Eliten auf das Land geflüchtet und dort prächtige Wohnsitze errichtet; die gesamte Region sei also durch einen profunden Prozess der "ruralización" gekennzeichnet gewesen. Diese ländliche Prosperität habe bis in das frühe 5. Jahrhundert angedauert, bevor im Jahre 409 die römische Herrschaft in weiten Teilen Hispaniens ihr Ende fand. Auf einige eher unübersichtliche Jahrzehnte sei dann die Errichtung eines stabilen (west-)gotischen Reiches im späten 5. Jahrhundert gefolgt. Die einstmals überaus zahlreichen Städte hätten in dieser Phase vom späteren 3. bis in das frühe 6. Jahrhundert keine wichtige Rolle mehr gespielt und seien immer stärker von einem um sich greifenden Niedergang gekennzeichnet gewesen.
Mit all diesen Annahmen räumt die anzuzeigende Studie von Michael Kulikowski gründlich auf. Gegenüber dem Modell einer von 'Krisen' geprägten Entwicklung des hispanischen Städtewesens ab dem 3. Jahrhundert betont er die mindestens bis in das 5. Jahrhundert reichende Kontinuität der administrativen Strukturen. Darüber hinaus stellt er fest, dass die Städte bis in die westgotische Epoche der entscheidende Bezugspunkt der hispanischen Welt geblieben seien. Die nicht zu leugnenden Veränderungen, insbesondere im äußeren Erscheinungsbild der Städte, möchte Kulikowski nicht von vorneherein mit dem negativ befrachteten Begriff des "decline" belegen, sondern in ihnen einen längerfristigen Wandlungsprozess (eine "natural evolution") städtischer Ausdrucksformen und Lebensgewohnheiten erkennen. Die angeblich einschneidenden Zäsuren der spätantiken Geschichte Hispaniens kann er vor allem dadurch infrage stellen, dass er auf neue archäologische Befunde zurückgreift, deren Chronologie nicht mehr durch einen Rekurs auf die literarischen Quellen, sondern durch eine von diesen unabhängige Beurteilung des Fundstoffes gewonnen wurde. Dadurch lassen sich Entwicklungen erkennen, die oftmals in ganz anders gearteten Rhythmen abliefen.
Kulikowski hat einen breiten chronologischen Rahmen gewählt, der von der frühen Kaiserzeit bis in das späte 6. Jahrhundert reicht. Die ersten beiden Kapitel beschreiben die Phase der "explosive romanization" Hispaniens im Laufe des 1. Jahrhunderts und insbesondere die Schaffung einer einheitlichen urbanen Kultur durch die Stadtrechtsverleihungen der flavischen Zeit. Das dadurch etablierte Netz von ca. 400 eigenständigen, wenn auch zumeist recht kleinräumigen civitates bildete die administrative Grundstruktur des römischen Hispanien für die kommenden Jahrhunderte. In Kapitel 3 weist Kulikowski nach, dass die in der frühen Kaiserzeit etablierten munizipalen Institutionen das allgemein als Krisenzeit apostrophierte 3. Jahrhundert weitgehend unbeschadet überstanden, auch wenn sie sich in der späteren Zeit insbesondere wegen des Wegfalls der Inschriftenkultur (33-38) nur noch in Ausschnitten dokumentieren lassen. Letzteres gelingt aber selbst noch für das 5. Jahrhundert, und zwar nicht nur für einige wenige größere Orte, sondern auch für die für Hispanien so typischen Kleinstädte, die somit zu dieser Zeit noch keineswegs von der Landkarte verschwunden waren (47 f., 83 mit Anm. 95). Es verwundert allerdings etwas, dass Kulikowski an diesem Punkt die besonders interessante Überlieferung zu der im frühen 5. Jahrhundert weitgehend aus Juden bestehenden Oberschicht der kleinen Gemeinde Mago auf Menorca nicht herangezogen hat.
Die zentralen Kapitel 4 und 5 behandeln sodann die Auswirkungen der diokletianischen Reformen auf das Städtewesen in Hispanien: Deutlich beobachten lässt sich nunmehr eine stärkere Hierarchisierung des Städtenetzes, bei der die administrativen Zentren wie Mérida oder Córdoba mit seiner riesigen, erst vor wenigen Jahren entdeckten tetrarchischen Palastanlage von den auf sie konzentrierten imperialen Ressourcen (deren Bedeutung allerdings von Kulikowski bisweilen überschätzt wird) besonders profitierten. Ähnliches gilt für einige Küstenstädte, die in den nun zunehmend auf den Import fremder Waren ausgerichteten Handelsstrukturen einen wichtigen Platz einnahmen, während andere Siedlungen, die nicht zu den bevorzugten Orten der spätantiken Verwaltung gehörten oder eher peripher lagen, einen relativ starken Verfall ihrer städtischen Infrastruktur erlebten, der selbst bedeutendere Orte wie Zaragoza traf. Dieser mehr oder minder stark ausgeprägte Wandel der Stadtbilder wird von Kulikowski also vornehmlich in das 4. Jahrhundert (und nicht in das angeblich so katastrophale 3. Jahrhundert) datiert und als Konsequenz der diokletianischen Provinzreform gedeutet. Dabei verliert er aber meines Erachtens etwas aus den Augen, dass der angesprochene Transformationsprozess vielerorts bereits erheblich früher, nämlich bereits im späteren 2. Jahrhundert, begonnen hatte und mit einer schrittweisen Umstrukturierung der hispanischen Wirtschaft einhergegangen war. Dies gilt insbesondere für die Entwicklung zahlreicher Kleinstädte, von denen Kulikowski nur zwei (Munigua und Ampurias: 18-23, 98-100) ausführlicher bespricht, obwohl es auch einige andere aussagekräftige Beispiele (etwa Baelo oder Labitulosa) hierfür gibt, die zeigen können, dass die Epoche der frühkaiserzeitlichen Monumentalisierung in diesen Orten oft nur eine sehr ephemere Phase darstellte, während man sich bald wieder von den überdimensionierten Bauten trennte, ohne dass dadurch das städtische Leben notwendigerweise zum Erliegen gekommen wäre. Zuzustimmen ist Kulikowski aber in jedem Fall darin, dass man diese Veränderungen nicht überbewerten sollte, indem man hierin Anzeichen eines unaufhaltsamen Niederganges sieht. Die hispanischen Städte blieben nämlich wichtige politische und ökonomische Zentren und verloren auch nicht an Bevölkerung - ganz im Gegenteil scheint es in manchen von ihnen sogar zu einem demografischen Zuwachs gekommen zu sein, der einen entsprechenden Ausbau der Wohnquartiere bedingte, wofür gegebenenfalls auch öffentliche Einrichtungen geopfert werden konnten. Dabei handelte es sich augenscheinlich fast immer um bewusste Entscheidungen der weiterhin existierenden städtischen Behörden, die zudem den Abriss einzelner Gebäude gestatteten, um mit dem daraus gewonnenen Baumaterial neue Strukturen, vor allem die für das städtische Prestige nun immer wichtiger werdenden Stadtmauern (101-109), zu errichten. Die Eliten investierten einen Teil ihres Reichtums nun in ihre ländlichen Villen, wie Kulikowski im sechsten Kapitel aufzeigt. Dabei handelte es sich jedoch um eine längerfristige Entwicklung, die zudem keineswegs eine Flucht der Oberschichten aus der Stadt bedeutete. Vielmehr blieben die Städte weiterhin der wichtigste Fokus des Lebens auf der iberischen Halbinsel, wo die Aristokraten den größeren Teil ihrer Zeit verbrachten und sich auch bestatten ließen.
Eine weitere äußerst bedeutsame Veränderung wird in Kapitel 10 angesprochen, nämlich die Christianisierung der hispanischen Welt. Obwohl es an vielen Orten schon um 300 recht bedeutende Christengemeinden gab, wurde die Kirche zunächst noch nicht zu einem dominanten Faktor im Leben der Städte. Nach Kulikowski gilt dies nicht nur für das 4., sondern auch noch für weite Teile des 5. Jahrhunderts. Er macht dies insbesondere an den topografischen Gegebenheiten fest: Die frühen Anzeichen für das Vorhandensein von Christen finden sich allesamt in den extramuralen Bezirken, insbesondere im Bereich der rasch anwachsenden christlichen Nekropolen. Erst ab dem Ende des 5. Jahrhunderts lassen sich intramurale Kirchen - nun häufig an zentralen Plätzen der Stadt, etwa über dem mittlerweile aufgelassenen Forum - sicher nachweisen, was darauf hindeute, dass sich die Gemeinden zuvor außerhalb der Mauern versammelt hätten. Einen solchen Vorgang hat man auch für Italien und Gallien postuliert; er hat sich dort aber als unzutreffend erwiesen. Insofern bleibt die Frage, ob wir es hier nicht mit einer Forschungslücke zu tun haben und der Fall von Barcelona, der eher der gallischen Situation entspricht, doch nicht so sehr eine Ausnahme darstellt wie Kulikowski annimmt (233).
Die Kapitel 7-9 sowie 11 behandeln die Entwicklungen im 5. und 6. Jahrhundert, als das bis dahin weitgehend friedliche Hispanien in den Strudel der Ereignisse geriet, die den Untergang des weströmischen Reiches und die Etablierung der germanischen Nachfolgereiche bewirkten. Auch hier wehrt sich Kulikowski gegen etablierte Lehrmeinungen: Die Invasion der Vandalen, Sueben und Alanen im Jahre 409 habe keineswegs bereits das 'Ende des römischen Hispanien' eingeläutet, denn die Reichszentrale versuchte weiterhin - mit mehr oder minder großem Erfolg - die Oberhoheit über die Halbinsel zu behalten. Dies blieb so bis zum Tode des Kaisers Maiorian im Jahre 461 - erst danach wurden keine römischen Verwaltungsbeamten in Hispanien mehr eingesetzt. Entgegen der landläufigen Ansicht erfolgte aber in den folgenden Jahren noch kein Aufbau eines mächtigen westgotischen Reiches in der Region; vielmehr war Hispanien für etwa ein Jahrhundert (ca. 460-570) von eher kleinräumigen politischen Strukturen bestimmt, unter denen immer noch die einzelnen Städte eine zentrale Rolle spielten. Erst durch die Eroberungen des Gotenkönigs Leovigild (568-585/86) wurde eine Vereinigung der Region erreicht, deren Städte zwar nun ein deutlich verwandeltes, frühmittelalterliches Bild aufwiesen, aber immer noch einen bedeutsamen Platz einnahmen, wie das abschließende Kapitel 12 nachweist.
Kulikowski hat mit diesem Buch einen äußerst bedeutsamen Beitrag zu der andauernden Diskussion um die Entwicklung des spätantiken Städtewesens vorgelegt. Seine bisweilen prononciert vorgetragenen Thesen überzeugen fast durchgehend und revidieren unsere Vorstellung vom spätantiken Hispanien grundlegend. Was man sich vielleicht noch etwas stärker gewünscht hätte, ist ein Vergleich der hispanischen Situation mit derjenigen in anderen Reichsteilen: So erscheinen die Unterschiede zur afrikanischen Stadtkultur der Spätantike doch recht stark, während sich andererseits viele Vergleiche zur Lage in Südgallien, etwa in Aquitanien, aufdrängen. Hier kann die zukünftige Forschung ansetzen, der nun mit der Studie von Kulikowski eine hervorragende Grundlage zur Verfügung steht.
Christian Witschel