Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Ingo Gildenhard / Ulrich Gotter / Wolfgang Havener et al. (eds.): Augustus and the destruction of history. The politics of the past in early imperial Rome , Cambridge: Cambridge Philological Society 2019
Ingo Gildenhard / Martin Revermann (eds.): Beyond the Fifth Century. Interactions with Greek Tragedy from the Fourth Century BCE to the Middle Ages, Berlin: De Gruyter 2010
Michael Silk / Ingo Gildenhard / Rosemary Barrow: The Classical Tradition. Art, Literature, Thought, Hoboken, NJ: Wiley-Blackwell 2014
Wissenschaftsgeschichte hat Konjunktur, auch in den altertumskundlichen Disziplinen. Doch wie steht es um den Zustand einer Disziplin, die von vielen noch immer als Parergon ihrer zünftigen Tätigkeit verstanden wird? Diese Fragen sollen exemplarisch an vier Büchern beantwortet werden, die in den letzten drei Jahren veröffentlicht wurden und die im Folgenden vorzustellen sind. Es handelt sich um zwei Sammelbände, eine Monografie und eine Aufsatzsammlung.
Beginnen wir mit dem von Ingo Gildenhard und Martin Ruehl herausgegebenen Band "Out of Arcadia", der auf gut 200 Seiten sieben Beiträge bietet, die auf eine Konferenz über "The Gods of Greece and their Prophets: Liberal and Illiberal Moments in German Classical Scholarship since Burckhardt and Nietzsche" zurückgehen, die im Jahr 1999 in Princeton veranstaltet wurde. Eine engagierte Einleitung der Herausgeber versucht tapfer, die sehr unterschiedlichen Aufsätze zusammenzuführen, die sich insbesondere mit Jacob Burckhardt, Friedrich Nietzsche und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff sowie der Religionsgeschichtlichen Schule befassen.
Den Auftakt macht ein furioser Beitrag von Egon Flaig ("Jacob Burckhardt, Greek Culture, and Modernity", 7-39), in dem der kulturpessimistische und elitäre Basler Historiker Jacob Burckhardt zum Protofaschisten wird, der in seinen Schriften die demokratische Verfassung und politische Gleichheit attackiert, Krieg und Gewalt ästhetisiert, den kulturellen Niedergang Europas perhorresziert und biologistische Konzepte propagiert habe. Der solchermaßen als Vorläufer von Militarismus und Rassismus, von Nationalsozialismus und Despotie entlarvte Burckhardt muss sich von Primo Levi daran erinnern lassen, wohin die Negation von Menschenrechten und Humanität führen kann - nach Auschwitz.
Die Herausgeber waren offenbar von dem Bild, das Flaig von Burckhardt zeichnete, so verstört, dass sie Lionel Gossman baten, einen Kommentar zu diesem Essay zu verfassen (41-45), in dem Burckhardt als altliberaler Humanist gerettet wird. Gossmann vertieft seine Gedanken in einem eigenen Beitrag über Burckhardts Verständnis der griechischen Polis ("Per me si va nella città dolente: Burckhardt and the Polis", 47-59), in dem festgestellt wird, dass dessen "account of the Greek polis" verstanden werden kann als "a powerful restatement, in the Age of Blood and Iron, of a classic liberal, anti-Machiavellian view of the state found in Benjamin Constant and, before him, in Montesquieu" (59).
Der Leser wird mit zwei sich diametral gegenüberstehenden Burckhardt-Interpretationen allein gelassen. Gossmann liest die "Griechische Kulturgeschichte" als zeithistorisches Dokument: Burckhardt habe sich darin vom Optimismus der deutschen Nationalbewegung distanziert und die neohumanistische Idealisierung des klassischen Griechenlands infrage gestellt. Während Gossmann in Übereinstimmung mit weiten Teilen der Forschung Burckhardts Kritik an der demokratischen Polis relativiert, liest Flaig, ohne dies aber explizit zu machen, Burckhardt aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive. In der Tat beriefen sich viele, die sich Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit der historistischen Forschung nicht mehr zufrieden geben wollten und nach einer Verbindung von Wissenschaft und Leben suchten, auf den konservativen und skeptischen Basler Historiker, der Liberalismus und Individualismus ablehnte, im griechischen Agon den Kampf verherrlichte und die Vergangenheit mithilfe organizistischer Modelle erfasste. Doch Flaig reduziert Burckhardt auf diese fortschrittsfeindliche, antidemokratische und zivilisationskritische Rezeption, die in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt hatte. Sein Burckhardtbild ist verzerrt, da er die intellektuelle Komplexität der Burckhardt'schen Schriften unterschätzt und ihre historische Konditionierung ausblendet.
Die beiden folgenden Beiträge bringen den Puls wieder herunter: Martin Ruehl vergleicht Nietzsches Wahrnehmung des griechischen Staates im Allgemeinen und der Demokratie im Besonderen mit der Richard Wagners ("Politeia 1871: Nietzsche contra Wagner on the Greek State", 61-86), und Andreas Urs Sommer geht dem Einfluss des Basler Kirchenhistorikers Franz Overbeck auf Nietzsche nach ("On the Genealogy of the Genealogical Method: Overbeck, Nietzsche, and the Search for Origins", 87-103). Doch schon erregt der zweite Streich von Egon Flaig erneut das Gemüt: "Towards 'Rassenhygiene': Wilamowitz and the German New Right" (105-127) macht aus Wilamowitz, der 1931 starb, einen Verfechter rassistischer und antisemitischer Inhalte und behauptet, der deutsche Gräzist "actively helped to shape the discourse of National Socialism" (127). Flaig stützt seine Behauptungen auf eine vergleichende Lektüre von Stellen aus "Staat und Gesellschaft der Griechen" (1923) und "Der Glaube der Hellenen" (1931/32). Im zweiten Werk glaubt er eine zunehmende Radikalisierung des Rassen- und Volkkonzeptes zu erkennen; Wilamowitz habe hier den Versuch unternommen, die Bedeutung des Judentums für die Entstehung der westlichen Zivilisation auszulöschen. Für solche weit reichenden Schlussfolgerungen hätte es einer differenzierten Betrachtung der vielschichtigen Begriffe "Rasse" und "Volk" bedurft - etwa auf Grundlage der Artikel in den "Geschichtlichen Grundbegriffen". Flaig bleibt diese begriffsgeschichtliche Untersuchung schuldig und interpretiert die Konzepte ex post, d. h. mit dem Wissen um den nationalsozialistischen Holocaust. Nun ist völlig unstrittig, dass Wilamowitz nach 1918 ein glühender Gegner von Demokratie und Parlamentarismus war und als Mitglied des Reichsausschusses deutschnationaler Hochschullehrer seine republikanischen Kollegen verachtete. Doch das macht ihn noch nicht zu einem Antisemiten und Quasi-Nationalsozialisten. Weder seine edierte Korrespondenz, die Flaig souverän ignoriert, noch die wissenschaftlichen Netzwerke, in die Wilamowitz eingebunden war, unterstützen seine Vermutung. Wilamowitz äußerte keine Sympathien für die nationalsozialistische Bewegung und deren rassistische Obsessionen. Im Gegenteil: In "Glaube der Hellenen" heißt es: "Rassenreinheit gibt es weder bei Menschen noch bei Göttern, aber die Hellenen haben es vermocht, recht viele Fremde zu hellenisieren, Menschen wie Götter" (Bd. 1, 50). Er förderte jüdische Schüler und pflegte Kontakte mit jüdischen Kollegen. Dieser Befund hätte von Flaig diskutiert werden müssen. Doch statt der abwägenden Argumentation bevorzugt er die plakative Anklage. Damit schadet er seiner Sache. Denn das Versagen von Wilamowitz und seinen konservativen Kollegen lag eben nicht darin, dass sie dem Nationalsozialismus und seiner Rassenirrlehre aktiv zugearbeitet hätten, sondern vielmehr durch ihre offene Ablehnung des parlamentarischen Systems der Weimarer Republik den nationalsozialistischen Staat für viele Bildungsbürger akzeptabel machten.
Suzanne Marchand widmet sich im Anschluss an Beobachtungen von Arnaldo Momigliano der Entwicklung der Religionsgeschichte ("From Liberalism to Neoromanticism: Albrecht Dieterich, Richard Reitzenstein, and the religious turn in fin-de-siècle German Classical Studies", 129-160). Sie will eine ältere Generation von Wissenschaftlern, deren Quellenforschung von der liberalen Theologie und dem Kulturprotestantismus geprägt war, von jüngeren Gelehrten wie Albrecht Dieterich und Richard Reitzenstein scheiden, die neoromantische Strömungen aufgriffen und sich von Creuzer, Bachofen, Burckhardt und Nietzsche inspirieren ließen. Sie trugen zur weiteren Historisierung des Christentums bei, indem sie es mit anderen antiken Religionen verglichen; ihr komparatistischer Ansatz machte den Orient zum Gegenstand der 'klassischen' Altertumsforschung. Allerdings ist Marchand nur sehr begrenzt mit der neueren deutschen Forschung zu Kulturprotestantismus und zur liberalen Theologie, zu Historismus und Liberalismus vertraut. Und wie eine persönliche Antwort auf Flaig liest sich ihr Resumée: "Still, I am not at all sure that this generation deserves all the blame for what went wrong in German classics in the 1920s, 30s and 40s" (159).
Ingo Gildenhard versucht schließlich die "Philologia perennis" zu retten, indem er den Antagonismus von Wissenschaft und Bildung überwinden und "Classical Scholarship" und "Functional Differentiation" verbinden will (161-203).
Die Beiträge lassen durchweg die Auseinandersetzung mit den seit den 1990er-Jahren in Deutschland veröffentlichten Monografien vermissen, die sich der Kultur des Untersuchungszeitraumes aus geistes- und ideologiegeschichtlicher Perspektive nähern. Das Buch hält mitnichten, was der Werbetext auf der Rückseite des Covers verspricht, nämlich "a provocative re-evaluation" der "transformative periode" der deutschen Altertumswissenschaften von etwa 1870 bis 1930. Es werden vielmehr - teils anregende, teils problematische - Studien zu einzelnen Wissenschaftlern vorgelegt, die sicher für die Entwicklung der Disziplin von Bedeutung waren, die aber nur bedingt repräsentativ für die Altertumswissenschaften waren. Im Kaiserreich kennzeichneten Fortschrittsgläubigkeit und Wissenschaftsoptimismus die professionalisierte Altertumskunde an den Universitäten und in den Akademien. Der Großbetrieb der Altertumswissenschaften war ein Erfolgsmodell, in dem auch zahlreiche derjenigen jungen Wissenschaftler sozialisiert wurden, die nach der Jahrhundertwende zu neuen Ufern aufbrachen. Die Geschichte der sechzig spannenden Jahre der klassischen Altertumswissenschaften "between the birth of the Second Empire and the rise of Nazism" ist noch zu schreiben.
Der zweite hier anzuzeigende Sammelband "Wolfgang Schadewaldt und die Gräzistik des 20. Jahrhunderts" veröffentlicht Vorträge, die im Mai 2000 aus Anlass des 100. Geburtstages des Geehrten in Tübingen gehalten wurden. Zwischen den beiden Buchdeckeln wird von Schülern und Kollegen reichlich Weihrauch gestreut. Im Mittelpunkt der Beiträge stehen das Lebenswerk und das wissenschaftliche Œuvre des bedeutenden Gräzisten: Wolfgang Kullmann widmet sich "Wolfgang Schadewaldt und Homer"(1-20), Karl-Heinz Stanzel handelt über "Wolfgang Schadewaldt und die griechische Lyrik" (21-39), Hellmut Flashar referiert über "Wolfgang Schadewaldt und die griechische Tragödie" (41-52), Thomas Alexander Szlezák würdigt "Wolfgang Schadewaldt als Übersetzer" (53-76), Hans Krämer traktiert "Wolfgang Schadewaldt und das Problem des Humanismus" (77-91), Klaus Oehler sucht "Semiotische Einblicke in die Begriffswelt von Wolfgang Schadewaldt" und analysiert "Bild, Zeichen, Wort, Gleichnis" (93-102), Ernst-Richard Schwinge betrachtet "Wolfgang Schadewaldts Studien zu Goethe" (103-123), und Ute Schmidt-Berger behandelt unter dem Titel "Frauenraub - heute?" Schadewaldts "Ilias" im "europäischen Gymnasium" (123-149).
Wenn man sich durch die Beiträge hindurchgearbeitet hat, versteht man das Bedauern, mit dem Szlezák in der Einleitung vermerkt, dass "zwei Höhepunkte des Colloquiums [...] wegen ihrer Mündlichkeit nicht zum Druck gelangen" konnten: nämlich Richard Kannichts "Ausgewählte Rezitationen" aus Schadewaldts Ilias-Übersetzung und der Vortrag Hansgünter Heymes, des Leiters der Ruhrfestspiele Recklinghausen, "über seine einstige Zusammenarbeit als junger Mann mit dem wesentlich älteren Philologen" (VI). Mit Wissenschaftsgeschichte hat diese Gelehrtenhagiografie wenig zu tun, zumal die Autoren es durchgängig versäumen, Schadewaldts wissenschaftliche Laufbahn, sein gelehrtes Werk und sein politisches Profil systematisch mit seinen akademischen Zeitgenossen zu vergleichen. Nur so wäre es möglich gewesen, das Besondere dieser Biografie, das auf fast jeder Seite beschworen wird, methodisch überzeugend abzubilden. Stattdessen wird darüber nachgedacht, warum Schadewaldt in seiner Homerübersetzung "laoí" nicht mit "Männer", sondern mit "Völker" wiedergab (70), und dem Leser wird immer wieder versichert, dass Schadewaldts Philologie auch noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts in mannigfacher Weise lebendig sei. Dabei wird als selbstverständlich vorausgesetzt, dass dies dem Fach zum Nutzen gereicht.
Bezeichnenderweise wurde ein Vortrag des amerikanischen Philologen und Wissenschaftshistorikers, William M. Calder, der eine persönliche Begegnung mit Schadewaldt kritisch darstellte, nicht publiziert. Der Autor hat ihn zum Glück an anderer Stelle veröffentlicht. [1] Calders Beitrag wurde ersetzt durch einen zweiten Aufsatz von Hellmut Flashar über "Biographische Momente in schwerer Zeit" (151-169), der Schadewaldts Verstrickung in den Nationalsozialismus und sein Verhältnis zu Martin Heidegger thematisiert. Schadewaldt begrüßte 1933 - wie so viele seiner Kollegen - öffentlich das "Dritte Reich", das den verhassten Parteienstaat von Weimar hinwegfegte. 1934 folgte er einem Ruf an die Universität Leipzig, wo er 1940 von dem dortigen Rektor, dem Althistoriker Helmut Berve, zum Dekan der Philosophischen Fakultät ernannt wurde. Ein Jahr darauf wechselte er nach Berlin, wo er auch Mitglied der Akademie wurde. Schadewaldt machte, obwohl kein Mitglied der NSDAP, im nationalsozialistischen Wissenschaftssystem Karriere, indem er Bekenntnisgesten ablegte und keine Angriffsflächen bot. Zur Vertreibung der jüdischen Kollegen schwieg er.
Flashar hat sich bemüht, "auf der Basis der heute erreichbaren Dokumente" diese Vita unter den "komplexen Rahmenbedingungen einer Diktatur" nachzuzeichnen (151). Flashar sieht in Schadewaldt, der "den Bereich der Wissenschaft aus dem politischen Getriebe zu allen Zeiten herausgehalten" (169) habe, ein Opfer der totalitären Staatsmacht. Damit wird die "Lebenslüge des Obrigkeitsstaates": die vermeintliche Überparteilichkeit des "unpolitischen Professors" fortgeschrieben, die schon Gustav Radbruch entlarvte. Schadewaldts politische Biografie ist unter den Universitätsprofessoren seiner Generation repräsentativ: Die Hochschullehrer waren mehrheitlich politisch konservativ und redeten einem autoritären Antiparlamentarismus das Wort. Die Desintegration der späten Weimarer Republik ließ sie endgültig an den Vorzügen eines pluralistischen Systems zweifeln und einen national geeinten Staat herbeiwünschen, der Klassen-, Partei- und Konfessionsgrenzen aufheben sollte.
Die Autoren versäumen es durchweg, Schadewaldts Leben und Werk zeithistorisch zu kontextualisieren. Das Reflexionsniveau einschlägiger Untersuchungen aus der Geschichts- und Literaturwissenschaft, der Kunstgeschichte und der Theologie erreicht dieser Sammelband, den Klassische Philologen zusammengetragen haben, eindeutig nicht. Er ist kein Beitrag zur wissenschaftsgeschichtlichen Traditionskritik und zur Selbstvergewisserung des Faches. Er ist eine postume Festschrift.
Eine inspirierende Untersuchung zur Rezeption des Antikeideals von Johann Joachim Winckelmann hat Esther Sophia Sünderhauf in ihrer Arbeit "Griechensehnsucht und Kulturkritik" vorgelegt, die als Dissertation an der Humboldt-Universität in Berlin entstanden ist. In diachronen Schnitten untersucht sie nicht nur die Winckelmann-Rezeption von 1840 bis 1945, sondern schreibt eine spannende Kulturgeschichte der deutschen Graecophilie. Dabei interessiert sie sich weniger für die Rekonstruktion der innerwissenschaftlichen Diskurse, da Suzanne Marchand in ihrer großen Studie "Down from Olympus" (1996) die Disziplinen- und Institutionengeschichte der Klassischen Archäologie nachgezeichnet hat. Sünderhauf analysiert primär die außerwissenschaftlichen Modifikationen und Funktionalisierungen des Griechenideals unter vier verschiedenen politischen Systemen in Deutschland. Die auf Winckelmann zurückgehende Griechensehnsucht war ein probates Remedium gegen allerlei politische Unbill. "Das Leitmotiv der deutschen Winckelmannrezeption", so stellt Sünderhauf resümierend fest, "war im gesamten Rezipientenspektrum und über alle politischen Zäsuren hinweg die kompensatorische und erzieherische Funktion seines 'klassischen' Ideals in einer defizitär empfundenen Gegenwart" (370).
In der Zeit von 1840 bis 1870, "im Konflikfeld von Historie und 'Leben'" (1-53), sollte der Rekurs auf Winckelmann dem Legitimationsverlust der Altertumswissenschaft begegnen. Gegen den Kulturverfall der Gegenwart, den bildungsbeflissene Bürger diagnostizierten, setzte man das Ideal des perikleischen Athen. Die griechische Kunst war ein starkes Bollwerk gegen Naturalismus und Subjektivismus. Die griechische Plastik definierte ein zeitloses Körperideal, dem jede Sinnlichkeit systematisch entzogen wurde. Die klassische griechische Form wurde mit bürgerlichen Wertevorstellungen in Einklang gebracht und der modernen Malerei, die man als hässlich ablehnte, gegenübergestellt. Die idealisierten Griechen wurden zum festen Bestandteil einer deutschen Nationalkultur.
Das Deutsche Kaiserreich sah den Siegeszug des wissenschaftlichen Großbetriebes ("Von der Wissenschaft zur Kunst", 55-138). Zugleich wurde von Friedrich Nietzsche die Legitimität einer Altertumswissenschaft infrage gestellt, die ihre Aufgabe in positivistischer Produktivität erkannte und deren Wissenschaftlichkeitspostulat die normative Funktion der Antike unterminierte. Aus der Defensive heraus betonten Humanisten, die das klassische Altertum retten wollten, die "Jugendlichkeit" und "Lebendigkeit" der Antike und verteidigten die unmittelbare "Schönheit" der griechischen Skulptur. "Winckelmanns Bedeutung für die Archäologie hatte sich vom 'Gründervater' der Disziplin zum Begründer einer auf sinnlicher und lebendiger Anschauung beruhenden Kunstarchäologie verschoben, der nun gegen die unsinnlich-kalte positivistische Wissenschaftspraxis ins Feld geführt wurde" (66).
Während sich die bildende Kunst vom Klassizismus verabschiedete, pflegte die antikisierende Monumentalkunst des fin-de-siècle den Rückgriff auf die griechische Antike. Antimodernistische Gefühle und kulturpessimistische Stimmungen beherrschten die Deutung antiker Kunstwerke. Sehnsüchtig betrachtete man die griechische Kultur, um dort all das zu finden, was man in der eigenen Zeit vermisste: Ausdrucks- und Bewegungslosigkeit, Zucht und Disziplin, Einfachheit und Harmonie, den "Wille[n] zur Form" und den Kult der männlichen Härte.
Das erzieherische Vorbild der Griechen beschwor die Lebensreformbewegung ("Von der Kunst zum 'Leben'", 139-239), die in den Jahren zwischen 1890 und 1932 ihre Vorstellung des neuen Menschen auf Winckelmann zurückführte. Der Kult der Jugend inszenierte den Körper als Kunstwerk und codierte männliche und weibliche Körperbilder. Jugendbewegte Literaten und homosexuelle Künstler popularisierten in Wort und Bild ein Antikekonzept, das den idealen griechischen Menschen im deutschen Jüngling wiedererschaffen wollte. Eine politisierte Wissenschaft verherrlichte nach 1918 die "aristokratische Persönlichkeit", definierte überzeitliche Werte, suchte die offene Konkurrenz kulturell-politischer Leitsysteme zu überwinden und beschritt konsequent den Weg von der Wissenschaft zur Politik" (241-294) und schließlich, nach 1933, "von der Wissenschaft zum Krieg" (294-364). Die Wiederkehr des Klassizismus im "Dritten Reich" und die Griechenbegeisterung des "Führers" wurden von einer Archäologie, die sich selbst gleichschaltet hatte, als Beginn eines neuen Äon gefeiert. Braune Philhellenen, die von der nun auch durch die Rassenforschung pseudo-wissenschaftlich begründeten Verwandtschaft zwischen deutschen Volksgenossen und alten Griechen überzeugt waren, legitimierten im Namen Winckelmanns den Griechenlandfeldzug der Wehrmacht. Die 1940 von konservativen Bildungsbürgern gegründete Winckelmann-Gesellschaft sollte nicht allein das humanistische Bildungsideal bewahren helfen, sondern verstand sich auch als Hüterin der abendländischen Kultur gegen den Bolschewismus.
Ein "Ausblick auf das Verhältnis zum klassischen Ideal nach 1945" (365-373) beendet die Darstellung, deren wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn beachtlich ist. Zwar sind einige Monenda zu verzeichen: Der Gegenstand der Rezeption, Johann Joachim Winckelmann und sein Werk, hätte vorgestellt werden müssen; es bleibt trotz der einleitenden Bemerkungen (XIII f.) nicht recht verständlich, warum die Wirkung Winckelmanns auf seine Zeitgenossen und die Generation von Wolff und Goethe nicht thematisiert wird; zentrale Begriffe wie "Nationalismus", "Konservatismus", "Antimodernismus" und "Kulturkritik" werden weder theoretisch noch begriffsgeschichtlich reflektiert. Schließlich bleiben Versehen, die zeigen, dass die Autorin keine Altertumswissenschaftlerin ist. Aus Theodor Mommsen wird ein Altphilologe (74), und der Name seines Schwiegersohnes Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff ist falsch geschrieben. Doch insgesamt liegt hier eine Arbeit vor, die unter einer leitenden Fragestellung in überzeugender Weise Text- und Bildzeugnisse unterschiedlichster Provenienz analysiert. Sünderhof hat ein wichtiges Kapitel der Geschichte der deutschen Griechensehnsucht geschrieben.
Einen traditionellen biografischen Zugang zur Geschichte der Altertumswissenschaft pflegt Wolfhart Unte, ehemaliger Fachreferent für Altertumswissenschaften an der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin. Eine Auswahl von zwölf, teilweise an entlegener Stelle publizierten Aufsätzen über Klassische Philologen aus dem 19. und 20. Jahrhundert wurde jetzt in der Reihe "Itinera Classica" wieder abgedruckt. Der Band trägt den programmatischen Titel "Heroen und Epigonen", der eine Wendung aus der Antrittsrede von Adolf Kirchhoff vor der Berliner Akademie aus dem Jahr 1860 aufgreift: "Aber natürlich ist das Gefühl der Wehmuth, mit dem wir die Reihen der Männer sich lichten sehen, die der Wissenschaft des klassischen Alterthums zu der Bedeutung verholfen haben, welche sie zur Zeit hat, die den Grund gelegt haben, auf welchem wir fußen, mit dem wir uns sagen müssen, daß die Heroen uns verlassen und das Zeitalter der Epigonen begonnen hat. Ich, meine Herren, gehöre zu diesen Epigonen [...]" (IV).
Es ist nicht das geringste Verdienst Untes, auf der Grundlage veröffentlichter und unveröffentlichter Zeugnisse die Biografie schlesischer Altertumswissenschaftler rekonstruiert und einen gewichtigen Beitrag zur Geschichte der Landesuniversität Breslau geleistet zu haben. Zu nennen sind Franz Passow (1786-1833), ein Breslauer Gelehrter aus der Goethezeit, der das große griechische Handwörterbuch erstellte (97-147), Eduard Gerhard (1795-1867), der in der Tradition August Boeckhs gleichermaßen Texte und Monumente für die 'cognitio totius antiquitatis' heranzog und die archäologische Forschung in Rom institutionalisierte (163-169), und Karl Ottfried Müller (1797-1840), der nicht nur eine "Geschichte der hellenischen Stämme und Städte" in Angriff nahm (171-187), sondern auch eine populäre "Geschichte der griechischen Literatur" schrieb (188-210). Darüber hinaus wird der Libanius-Herausgeber Richard Foerster (1843-1922) vorgestellt (245-270), Georg Wissowa (1859-1931) als Promotor der klassischen Altertumswissenschaft charakterisiert (367-398) und das Werk des Breslauer Gräzisten Ludolf Malten (1879-1969) umrissen, der insbesondere zur antiken Religion und Mythologie forschte (399-419).
Weitere Beiträge gelten den Berliner Klassischen Philologen im 19. Jahrhundert (1-96) und Karl Lachmann (1793-1851), der durch seine Forderung nach einer systematischen Berücksichtigung der handschriftlichen Überlieferung die Entwicklung der Klassischen Philologie ebenso beeinflusste wie die der älteren Germanistik (147-161). Zudem interessieren Unte die persönlichen Beziehungen zwischen dem Schriftsteller Gustav Freytag und dem Philologen Moriz Haupt, der sich als Professor Felix Werner in Freytags Gesellschaftsroman "Die verlorene Handschrift" wieder findet; in dieser Studie werden auch bisher unveröffentlichte Briefe aus dem Nachlass von Freytag in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz mitgeteilt (211-244). Zu Untes wichtigsten Untersuchungen gehören die Aufsätze "Wilamowitz als wissenschaftlicher Organisator", der zugleich eine hervorragende Einführung in die Organisation des wissenschaftlichen Großbetriebes im Zeitalter des Historismus darstellt (271-329), und "Eduard Meyer und die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft", der die schwierige Lage der altertumswissenschaftlichen Disziplinen in der Weimarer Republik eindrücklich beschreibt (331-365). Umfangreiche Indices erschließen die Aufsatzsammlung, der auch noch dreißig Gelehrtenportraits beigegeben sind.
Unte behandelt das Leben und Werk der Gelehrten vor dem Hintergrund der disziplinären Entwicklung der Altertumskunde. Seine Biografien sind damit eine zuverlässige Einführung in die Geschichte der Klassischen Philologie in Deutschland. Dabei berücksichtigt er nicht nur die Größen des Faches, sondern auch die Forscher aus der zweiten Reihe, die sich in vielen übergreifenden Darstellungen mit einer Fußnote begnügen müssen. Gerade denen, die "nicht zu den leuchtenden Gestalten der Altertumswissenschaft" zählen, gehört seine Sympathie, denn: "Wenig im Bewußtsein sind viele der hochqualifizierten und verdienten Gelehrten, die in jahrzehntelanger mühevoller Kleinarbeit und Sammeltätigkeit für die weitere Forschung monumentale Grundwerke schufen, die bis in die Gegenwart dankbar benutzt werden" (97).
Außerfachliche Aspekte kommen jedoch in den biografischen Abrissen zu kurz. Unte beschränkt sich auf die Darstellung der biografischen Daten, der institutionellen Strukturen, der binnenwissenschaftlichen Diskurse und der individuellen Wesenszüge der "Heroen" und der "Epigonen". So heißt es etwa über Haupt, er sei eine widersprüchliche Persönlichkeit gewesen. Bei ihm "waren Weichheit, Gefühl und Beeinflußbarkeit gepaart mit Härte, Grobheit und Schroffheit" (224). Kulturelle, soziale und politische Hintergründe werden, wenn überhaupt, nur am Rande thematisiert. Damit wird einmal mehr die Chance vertan, Vita und Œuvre der bedeutenden und weniger bedeutenden Philologen in die Kultur-, Geistes- und Mentalitätsgeschichte der jeweiligen Epoche zu integrieren. Die Auseinandersetzung um das historistische Paradeigma, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Altertumswissenschaften erschütterte, wird ebenso wenig reflektiert wie die Politisierung der Klassischen Philologie in der Weimarer Republik und im "Dritten Reich". Bezeichnend ist die apologetische Behandlung der Aktivitäten von Ludolf Malten nach 1933. Hier heißt es nur, er sei bemüht gewesen, bei seinen Aktivitäten für den Breslauer Universitätsbund und den Schlesischen Kulturring trotz der politischen Zwänge "so weit wie möglich das wissenschaftliche Niveau und die Objektivität" zu wahren. Dass er nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten fünf Jahre Dekan der Philosophischen Fakultät war, wird nur kurz erwähnt, ohne die Bedeutung dieses Amtes innerhalb der nationalsozialistischen 'Führeruniversität' zu besprechen. Angesichts dieses Defizits muten aktualisierende Seitenhiebe seltsam an, wie etwa die Auslassung, dass Gustav Freytags Werk "auch in der Gegenwart trotz heftiger Kritik aus politisch links orientierten Kreisen noch viel gelesen" werde (211).
Unte hat in der Mehrzahl seiner Studien wichtige Quellen erschlossen, die Lebensläufe einzelner Philologen zuverlässig nachgezeichnet und ihre wissenschaftlichen Leistungen eingehend gewürdigt. Seine Ergebnisse warten darauf, in größere kultur- und geistesgeschichtliche Zusammenhänge gestellt zu werden.
Wie steht es also um die Wissenschaftsgeschichte der Altertumswissenschaften? Die Bilanz ist durchwachsen. Deutlich dürfte geworden sein, dass die Wissenschaftsgeschichte der altertumskundlichen Fächer den Binnendiskurs überwinden und die Ergebnisse benachbarter Disziplinen berücksichtigen muss. Vor allem müssen die Biografien einzelner Wissenschaftler vor dem Hintergrund ihrer Zeit dargestellt werden. Übergreifende politik-, kultur-, mentalitäts- und ideengeschichtliche Untersuchungen sind zu berücksichtigen. Vergleiche mit Zeitgenossen sind notwendig, eine internationale Perspektive ist hilfreich. Nicht nur das moralische und politische Versagen des einzelnen Gelehrten sollte interessieren, sondern die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Althistorie von der Weimarer Republik über das "Dritte Reich" bis zu den beiden Republiken von Bonn und Ostberlin beantwortet werden. Denn nur so können die politischen, methodischen und systematischen Voraussetzungen geklärt werden, die zahlreiche Klassische Philologen, Archäologen und Althistoriker veranlassten, mit dem nationalsozialistischen Wissenschaftssystem zu kollaborieren, und nur auf diesem Weg können Inhalte und Methoden der jeweiligen Wissenschaft nach 1945 überzeugend bewertet werden. Nur indem die Wissenschaftsgeschichte die zeitbedingten Faktoren vergangener wissenschaftlicher Arbeit aufdeckt, kann sie ein Korrektiv für die aktuelle Forschung sein.
Anmerkung:
[1] William M. Calder: Only Euripides: Wolfgang Schadewaldt and Werner Jaeger, in: Illinois Classical Studies 27-28 (2002/2003), 177-183.
Stefan Rebenich