Claudia Schrapel: Johann Dominicus Fiorillo. Grundlagen zur wissenschaftsgeschichtlichen Beurteilung der "Geschichte der zeichnenden Künste in Deutschland und den vereinigten Niederlanden" (= Studien zur Kunstgeschichte; Bd. 155), Hildesheim: Olms 2004, 766 S., 35 Abb., ISBN 978-3-487-12590-9, EUR 138,00
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Johann Dominicus Fiorillo (1748-1821) hat im Diskurs zur Geschichte der Kunstgeschichte noch immer nicht die Reputation erlangt, die ihm gebührt. Diese Missachtung gründet in der Tendenz der Forschung, vorwiegend theoretische Modelle sowie "die Erudition schriftlicher Quellen als Gradmesser der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung" (325) zu verwenden. In diesem engen Verständnis von relevanter Leistung konnte Fiorillo "keine Leitbildfunktion" zufallen (325). Claudia Schrapel untersucht in ihrer Göttinger Dissertation nun vor dem Hintergrund forschungspraktischer Fragen sein Vorgehen bei der Kompilation von Literatur und grenzt seine Position präzise von seinen Vorgängern ab.
Die umfangreiche Studie informiert über Fiorillos Biografie (Kap. 3: künstlerische Ausbildung in Bayreuth, Rom, Bologna; Anstellung als Hofmaler in Braunschweig; wissenschaftliche Karriere in Göttingen; Zugehörigkeit zu Freimaurerlogen) und über prägende wissenschaftliche Rahmenbedingungen in Göttingen (Kap. 6). Im Mittelpunkt steht die Analyse der von Fiorillo in seinen großen kunsthistorischen Schriften vertretenen Position (Kap. 7 zur "Geschichte der Mahlerey" in Italien, 1798-1801; Kap. 8 zur "Geschichte der zeichnenden Künste in Deutschland und den vereinigten Niederlanden", 1815-1820). Mit breiter Quellenkenntnis vergleicht Schrapel jeweils ausgewählte Äußerungen Fiorillos mit der Forschungstradition, mit Äußerungen seiner Zeitgenossen und mit heutiger Lehrmeinung. Damit legt sie offen, wie sein Ansatz den Methodenapparat der italienischen und französischen Kunsthistoriografie des 18. Jahrhunderts mit Forderungen der Göttinger Geschichtswissenschaftler nach einer "faktenorientierten Erzählweise" amalgamiert (vgl. Kap. 9).
Zwischen Biografie und Analyse des Umfeldes eingeschoben stehen Ausführungen abseits des zentralen Gedankenganges: Sie widmen sich 1) der Korrespondenz zur posthumen Publikation von Aufsätzen Fiorillos im "Kunstblatt" (Kap. 4) sowie 2) seinen Rezensionen in den "Göttingischen Gelehrten Anzeigen" (1786/1821) (Kap. 5; im Anhang chronologisch und alphabetisch nach rezensiertem Autor aufgelistet). [1] In Kap. 10 schreibt Schrapel Zusätze zur achten Lieferung von "Lichtenbergs ausführlichen Erläuterungen der Hogarthischen Kupferstiche" Fiorillo zu. In diesen Abschnitten präsentiert Schrapel zwar interessante Ergebnisse für die Erforschung Fiorillos - zielstrebig den Fokus auf seinen wissenschaftlichen Ansatz zu richten, wäre meines Erachtens bereits mehr als genug gewesen. Nur bei den über 300 Rezensionen wird der direkte Bezug zu seinen großen kunsthistorischen Werken deutlich. Sie belegen, 1) welches kunstwissenschaftliche Schrifttum in Göttingen studiert werden konnte, und 2) wie viele und welche Bücher durch Fiorillos Hand gegangen sind. Trotz der Kürze der Rezensionen und ihres allgemeinen Charakters bezeugen sie 3) Fiorillos Kenntnisse zeitgenössischer Diskurse, sein Interesse und die Anteilnahme daran und seine wissenschaftliche Sicht derselben.
Die Eckpfeiler von Fiorillos kunsthistoriografischem Ansatz bilden die zwei zentralen Ordnungssysteme der Kunstgeschichte, das räumliche und das zeitliche - das Schulenmodell und die Periodisierung. Die Komplexität, mit der diese Konstrukte und ihre Einzelaspekte miteinander vernetzt sind, erschwert eine transparente Präsentation.
In einer Vorlesungsankündigung des Jahres 1791 findet sich eine erste Skizze von Fiorillos Schulenmodell, das somit gleichzeitig mit demjenigen von Luigi Lanzi (1792, Storia pittorica) entstand. Zu den seit Giovanni Battista Agucchi in der Kunstgeschichtsschreibung festgelegten vier Schulen (Rom, Toskana, Venedig, Lombardei) fügten beide Genua und Neapel hinzu, wobei Fiorillo dank familiärer Bindung an Neapel mit zahlreichen aus eigener Anschauung gewonnenen Ergebnissen punkten kann. Anwendung und Erprobung fand das Modell in Fiorillos Bänden zur Geschichte der Malerei in Italien (1798/1801). Für die italienische Kunst vor 1300 (1. Periode) lehnt Fiorillo das Schulenmodell ab. Seine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser frühen Zeit, obwohl er darin wenig ästhetischen Wert erkennen konnte, gründet auf dem seit dem Tridentinum in der (Kirchen-) Geschichtsschreibung bevorzugten und von der Scuola Mabillona tradierten "Konzept der Kunstkontinuität: der kontinuierlichen Kunstproduktion und Kunstfertigkeit auch in der so genannten 'dunklen' Zeit" (249). Dafür rezipierte er die Ergebnisse der Lokalforschung in Rom, Bologna und Venedig und wandte sich somit gegen Vasaris Florentiner Primat-These. Im Falle der Kunst in Neapel allerdings entschuldigte er Vasaris Parteilichkeit mit der Frage nach der damaligen Greifbarkeit entsprechender Quellen zur Region. Für das "Wiedererrichten" (251) der Kunst in der zweiten Periode, von Cimabue bis Raffael, ist nach Fiorillo das Antiken- und Naturstudium verantwortlich; als "Triebräder" für eine positive Entwicklung nennt er auch "die Religion und die Staatsverfassung" (254). Für seine Einschätzung der Kunst der dritten Periode (von Raffaels Tod bis ins 18. Jahrhundert) kennzeichnend sind seine "Forderung nach absoluter Authentizität und Originalität" (276) und die hohe Bewertung des Individualstils in den Bahnen des Lehrer / Schüler-Verhältnisses. In der Beurteilung von Stil als "Character" vereint Fiorillo Prinzipien der Paläografie mit solchen der Kennerschaft (258). Die Bevorzugung der Natur als Vorbild und die Verurteilung einer eklektischen Manier gehen auf die Prägung durch seinen Lehrer Pompeo Batoni zurück. Schrapel sieht in Fiorillos Forderung nach Zeichenkenntnissen als notwendige Qualifikation des Kenners einen "wissenschaftsgeschichtlichen Rückschritt" - meines Erachtens ein Vorurteil, da der Einsatz der Zeichnung als Forschungsinstrument im 19. Jahrhundert bis jetzt in der einschlägigen Forschung zur Fachgeschichte kein Thema darstellte. [2]
Mit dem Schulenmodell hatte sich Fiorillo ein geeignetes Instrument erarbeitet, um in der auf großes Interesse stoßenden "Geschichte der zeichnenden Künste in Deutschland und den vereinigten Niederlanden" (1815-1820) die vorwiegend anonyme transalpine Kunst des Mittelalters erschließen, strukturieren und bewerten zu können. Das Gerüst der auf Grund politischer Bedingungen gewachsenen Kulturräume bot ein festes Ordnungssystem, in das er die Ergebnisse der bisherigen Forschung mittels Kompilation einsetzen konnte; für die Zeit nach 1500 konnte er auf das etablierte Vitenmodell zurückgreifen. Auf diese Weise erstellte er, z. B. "mit der Summe seiner Darstellung gotischer Architektur" "eine neuartige Denkmälersammlung" (425). In der virulenten Frage nach der Bedeutung alter Kunst als Vorbild für neue Kunst (Vollendung der gotischen Dome; nazarenische Malerei) verhielt er sich zurückhaltend bis ablehnend. Die gotische Architektur bewertete er entsprechend seiner Zeitgenossen, unter anderem auch Goethe, als "teutsche Kunst" (381). Unter der Lupe Schrapels (Kap. 8.1.) zeigt sich, wie gezielt Fiorillo die im 18. Jahrhundert übliche, seit der Kritik durch seinen Schüler Carl Friedrich von Rumohr aber negativ konnotierte Methode der Kompilation anwandte und seine Meinung dabei nicht zurückstellte, auch wenn diese häufig - wegen der angestrebten historischen Objektivität - im Hintergrund bleibt.
Schrapels Studie hilft, Fiorillo als würdiges Mitglied des Göttinger Historikerkreises zu erkennen, Mitarbeiter des innovativen Projektes von Johann Gottfried Eichhorn, in dem "eine Wissensbilanz und Wissensstandardisierung für das endende Jahrhundert" (452) beabsichtigt war. In seiner gesamteuropäischen Kunstgeschichte gelang es ihm, erfolgreich wissenschaftliche Traditionen Frankreichs und Italiens mit der aktuellen Forderung "einer objektiven und faktenorientierten Geschichtsschreibung" (352) zu verbinden. Schrapel arbeitet unter anderem folgende Autoren als (kritisch) ausgewertete Quellen Fiorillos heraus: Giovanni Battista Agucchi, Francesco Algarotti, Filippo Baldinucci, Leonardo Cicognara, Bernardo de Dominici, Luigi Lanzi, Carlo Cesare Malvasia, Anton Raphael Mengs, Giovan Battista Passeri, Luigi Scaramuccia. Für die transalpine Kunst zu nennen sind, neben den Vitenschreibern Karel van Mander und Joachim von Sandrart, unter anderem Anton Friedrich Büsching, Christoph Gottlob von Murr, Carl Ritter und Friedrich Schlegel. Die gebotene Materialfülle und der Aspektreichtum können sich allerdings auf Grund von Schwächen in der Gliederung und der Argumentation nicht so entfalten, wie es die hochkomplexe Thematik verdienen würde. Ebenfalls in Bezug gesetzte Forschungsmeinungen des 20. Jahrhunderts irritieren in dem dichten Geflecht von Einflüssen und Gegenaussagen eher als dass sie helfen, die Position Fiorillos zu präzisieren. Doch wollen wir es halten wie Fiorillo selbst, der im Zusammenhang mit Ausführungen über den neapolitanischen Vitenschreiber Bernardo de Dominici anmerkt, "daß ein jeder billiger Leser die kleinen Flecken, welche menschliche Unvollkommenheiten verrathen, gern übersieht" (309). Fiorillos Bedeutung für die Entwicklung der Kunstgeschichte im 19. Jahrhundert darf die Fachgeschichte dagegen nicht aus den Augen lassen.
Anmerkungen:
[1] Die "Göttingischen Gelehrten Anzeigen" sind inzwischen dank einer Initiative des Göttinger Digitalisierungszentrums im Internet unter der Adresse http://www-gdz.sub.uni-goettingen.de/cgi-bin/digbib.cgi?PPN319721507 ebenso konsultierbar wie die "Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen" unter der Adresse http://www-gdz.sub.uni-goettingen.de/cgi-bin/digbib.cgi?PPN31973076X
[2] Vgl. zum Thema der zeichnenden Kunsthistoriker den Beitrag der Rezensentin Claudia Schrapel: Italienersehnsucht - Giovanni Battista Cavalcaselle und seine Zeichnungen nach italienischen Gemälden in Münchner Sammlungen, in: Hildegard Wiegel (Hrsg.): Italiensehnsucht. Kunsthistorische Aspekte eines Topos. München 2004. Ausführlich widmet sich dem Phänomen die gerade abgeschlossene Dissertation der Rezensentin: Die Zeichnung als Forschungsinstrument - Giovanni Battista Cavalcaselle (1819-1897) und seine Zeichnungen zur Wandmalerei in Italien vor 1550.
Susanne Müller-Bechtel