Britta Bley: Vom Staat zur Nation. Zur Rolle der Kunst bei der Herausbildung eines niederländischen Nationalbewusstseins im langen 19. Jahrhundert (= Geschichte; Bd. 56), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2004, 253 S., 1 CD-ROM, ISBN 978-3-8258-7902-0, EUR 24,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Catherine Granger: L'Empereur et les arts. La liste civile de Napoléon III, Paris: École des Chartres 2005
Hans Belting / Heinrich Dilly / Wolfgang Kemp / Willibald Sauerländer / Martin Warnke (Hgg.): Kunstgeschichte. Eine Einführung, 6., überarbeitete und erweiterte Aufl., Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2003
Rolf Reichardt / Hubertus Kohle: Visualizing the Revolution: Politics and Pictorial Arts in Late Eighteenth-Century France, London: Reaktion Books 2008
Die Arbeit, eine Münsteraner Dissertation aus dem Jahr 2004, widmet sich einem häufig vernachlässigten Problem der bildenden Kunst Europas im 19. Jahrhundert - der Situation der Niederlande "im langen 19. Jahrhundert" im Spannungsfeld von Kunst, "Kulturnation" und Geschichte. "Wie Kunst im 19. Jahrhundert instrumentalisiert wurde, soll in der Arbeit untersucht werden", lautet die gewählte Aufgabenstellung der Autorin (9). Die Einbindung in den größeren europäischen Kontext sollte sich dabei - aus den Spezifika der historischen Situation heraus - fast von selbst ergeben, da die niederländische Kunst des 19. Jahrhunderts über weite Strecken als dezidiert "außenbestimmt" gelten kann. Besonders die komplizierte Situation der Genese des Königreichs der Niederlande (ab 1806) und die weitere Entwicklung (besonders im Verhältnis zu Belgien) machen aus der Studie einen anschaulichen Modellfall hinsichtlich der Aufarbeitung des äußerst komplexen Dreiecksverhältnisses von Kunst, Identität und Geschichte.
Im Gegensatz zu den "klassischen" europäischen Nationalstaaten sind im Rahmen der niederländischen Geschichte nur wenige Persönlichkeiten nachweisbar, auf die in späterer Zeit häufig zurückgegriffen wurde. Der königliche Statthalter Wilhelm von Oranien (gestorben 1584), Schöpfer der "Utrechter Union" (1579) und "Vater des Vaterlandes" (sein zweites Denkmal in Den Haag wurde 1848 eingeweiht), ist dabei ohne Zweifel die markanteste Figur, nicht zuletzt auf Grund der Aktualität der im Zuge des Wiener Kongresses installierten Dynastie Oranien-Nassau. 1884 wurde der 300. Todestag Wilhelms in umfassender Weise - und über alle konfessionellen Grenzen hinweg (!) - gefeiert (200-206). Viel stärker als die Politik und die Abwehrkämpfe gegen Spanien (1585) und Frankreich (1667/68, 1672-78, 1688-97 und 1702-13) stand im Zentrum der künstlerischen Bestrebungen des niederländischen 19. Jahrhunderts aber die Reflexion über das "Goldene Zeitalter" niederländischer Kultur (und hier besonders Rembrandt (70-81)), das als "[...] positive Quelle für die Identitätsbildung der niederländischen Nation [...]" (81) gelten kann. Ausgehend vom Vorbild Frankreich und den ambitionierten kunstpolitischen Reformen Louis Napoléons, der nach französischem Vorbild die Historienmalerei förderte ("Koninklijk Instituut"), untersucht die Autorin in detailreicher Weise Ausrichtung und Charakter der niederländischen Historienmalerei des 19. Jahrhunderts, wobei deutlich wird, wie sehr die Themenkreise aus dem 17. Jahrhundert im Blickpunkt des Interesses stehen (28-31). Daneben bot der Bataveraufstand unter Julius Civils (69 n. Chr.) eine ideale Gelegenheit, die Erinnerung an die eigene Vergangenheit bis in die römische Epoche zu verlängern. Der Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien mit dem markanten Feindbild König Philipp II. war ein zweites bestimmendes Thema der Historienmalerei (32).
Es ist ein einmaliger Fall in der europäischen Geschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass eine Nationswerdung durch eine Spaltung einen anderen Verlauf nimmt. Der belgische Aufstand gegen das autokratische Regime König Wilhelms I. und dessen Bevorzugung des Holländischen führte zur Loslösung Belgiens von den Niederlanden (1831), und ab diesem Zeitpunkt war eine Konkurrenzsituation zwischen beiden Staaten gegeben (35-37), die dazu führen musste, dass eine gemeinsame Vergangenheit plötzlich zwei (in Konkurrenz zueinander stehende) Aktualisierungen erfuhr. Dies wird etwa beim Amsterdamer Rembrandtdenkmal (1852) deutlich, das als Reaktion auf die "belgisch" konnotierte Rubensstatue in Antwerpen (1840) entstand (75 f.). Auffällig - und in gewissem Gegensatz zu den großen europäischen Nationen - ist die Dominanz privater Initiativen im Rahmen der niederländischen Kunstförderung (62-70). Nicht zuletzt bestimmten die jeweiligen Direktoren des Rijksmuseums in Amsterdam durch ihr persönliches Interesse die Ausrichtung und Zusammensetzung der Sammlungen. Die Rezeption des holländischen 17. Jahrhunderts, das in der Kunst besonders im Zeichen der Landschafts- und Genremalerei stand, und kaum politische Komponenten beinhaltete, stellte für die nachfolgenden Jahrhunderte eine nicht unbeträchtliche Herausforderung dar. Diese Situation hatte etwa zur Folge, dass sich auch im 19. Jahrhundert "[...] niederländisches Bewusstsein vorrangig über die Natur und Darstellungen von Landschaften und des täglichen Lebens [...]" (131) manifestierte - Charakteristika, die in anderer Form auch in anderen europäischen Ländern Verwendung fanden, war doch der Begriff "Heimat" eng mit der im frühen 19. Jahrhundert überall aufstrebenden Landschaftskunst verbunden. [1]
Besonders im Medium des Denkmalkultes traten die Niederlande qualitativ und quantitativ beträchtlich hinter die anderen europäischen Nationen zurück. Historischen Ereignissen gedachte man vor allem in kleineren Monumenten, den "gedenkteken" (106-110), die zum Großteil auf kommunale Initiativen zurückgeführt werden können. Die künstlerische Rezeption der "eigenen" Vergangenheit basierte aber nicht nur auf der Übernahme entsprechender Stilmerkmale, die auch im übrigen Europa unter "Hollandismus" rubriziert werden, sondern die spezifische historische Situation drückt sich gerade darin aus, dass die niederländischen Künstler ihre Traditionen in der Landschaftskunst über den Realismus der "Schule von Barbizon" - quasi in modernisierter Form - wieder entdeckten.
Der Autorin gelingt es in ihrer materialreichen Studie die Fülle der mit der niederländischen Geschichtsreflexion verbundenen Aspekte übersichtlich darzustellen. Der komparatistische Aspekt kommt dabei - mit Ausnahme des Blicks auf Frankreich - etwas zu kurz. Bley macht in ihren Ausführungen insbesondere auf die Probleme der staatsrechtlichen Kontinuität aufmerksam, musste doch nach 1815 eine Entwicklung von der Republik zur Monarchie - entgegen dem europaweiten Trend - verarbeitet werden (214). Die auffällige Dominanz privater Kunstinitiativen in den Niederlanden (ergänzt durch staatliche Bemühungen), die von Bley anschaulich herausgearbeitet wird, sollte den aktuellen Forschungen zur "Kunstpolitik" im 19. Jahrhundert neue Impulse geben können, ist doch unser Bild historistischer Kunst im 19. Jahrhundert allzu sehr vom Schema staatlich gelenkter Eingriffe geprägt.
Die Abbildungen in Form einer beigelegten CD sind einer Buchlektüre nicht unbedingt zuträglich. Manche Werke sind zudem nicht in optimaler Auflösung gegeben, was besonders bei der Landschaftsmalerei Probleme schafft.
Anmerkung:
[1] Tanja Michalsky: Die Natur der Nation. Überlegungen zur "Landschaft" als Ausdruck nationaler Identität, in: Klaus Bußmann und Elke Anna Werner (Hrsg.): Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder, Wiesbaden 2004, 333-354, bes. 336 f., hat auf die - auch für vorliegenden Zusammenhang - wichtige Doppelfunktion des Begriffs "Natur" als Charakterisierung nationaler Wesenheit und im Sinne der Rolle der Natur für das Selbstverständnis einer Nation aufmerksam gemacht.
Werner Telesko