Willy Brandt: Berlin bleibt frei. Politik in und für Berlin 1947-1966. Bearb. von Siegfried Heimann (= Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. Berliner Ausgabe; Bd. 3), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2004, 702 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8012-0303-0, EUR 27,60
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Willy Brandt: Ein Volk der guten Nachbarn. Außen- und Deutschlandpolitik 1966-1974. Bearbeitet von Frank Fischer (= Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. Berliner Ausgabe; Bd. 6), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2005, 677 S., ISBN 978-3-8012-0306-1, EUR 27,60
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Christine Stangl: Sozialismus zwischen Partizipation und Führung. Herrschaftsverständnis und Herrscherbild der sozialistischen deutschen Arbeiterbewegung von den Anfängen bis 1875, Berlin: Duncker & Humblot 2002
Éric Bussière / François Dubasque / Robert Frank et al.: Georges Pompidou et les États-Unis. une « relation spéciale » 1969 - 1974, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2013
Willy Brandt: Die Partei der Freiheit. Willy Brandt und die SPD 1972-1992. Bearb. von Karsten Rudolph, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2002
Willy Brandt: Die Entspannung unzerstörbar machen. Internationale Beziehungen und deutsche Frage 1974-1982. Bearb. von Frank Fischer, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2003
Willy Brandt: Hitler ist nicht Deutschland. Jugend in Lübeck - Exil in Norwegen 1928-1940. Bearb. von Einhart Lorenz, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2002
Mit dem jüngst erschienenen Band sechs ist die auf zehn Bände angelegte Edition "Willy Brandt - Berliner Ausgabe" nunmehr nahezu abgeschlossen. [1] Im Auftrag der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung sollen der Staatsmann und die Persönlichkeit Willy Brandt gewürdigt sowie sein Wirken einem breiten historisch-politisch interessierten Publikum zugänglich gemacht werden. Zu diesem Zweckwurden vornehmlich Akten des Willy-Brandt-Archivs im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgewertet, ergänzt um Parallelüberlieferungen im Archiv der sozialen Demokratie und weitere Bestände verschiedener Archive. Hinzu kommen publizierte Materialien. Damit vereinigen alle Bände der Editionsreihe Dokumente unterschiedlichen Rangs und unterschiedlicher Gattung. Briefe, Notizen, Interviews, Memoranden, Redemanuskripte - hier mischt sich viel bekanntes, bereits andernorts publiziertes Material mit unbekannten, teils schwer zugänglichen Quellen. Die Quellen sind vorbildlich erschlossen und eingeleitet. Kurzbiografien liefern wichtige Informationen, die auch dem informierten Leser nicht immer präsent sein dürften. Das Ziel des Editionsprojektes, die Bedeutung Brandts für die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu dokumentieren, ist damit mehr als erreicht worden. Trotz der Materialfülle kann aber nur eine Auswahl präsentiert werden, und das "Thema" Brandt dürfte nach wie vor nicht erschöpfend behandelt worden sein.
Der von Frank Fischer bearbeitete Band sechs ist ein wesentlicher Baustein der Reihe, der die Außen- und die Deutschlandpolitik Brandts in den Jahren der Großen Koalition von 1966 bis 1969 und der sozialliberalen Koalition von 1969 bis 1974 in den Blick nimmt. Er zeigt die außenpolitischen Grundlinien Brandts in der Zeit auf, in der er Regierungsverantwortung im Bund trug. Indem Fischer über die vermeintliche Zäsur des Regierungswechsels 1969 hinweggeht, unterstreicht er in der Konzeptionierung des Bandes die mittlerweile in der Forschung kaum mehr umstrittene Auffassung, dass der "Machtwechsel" 1969 nicht nur Neuanfang war, sondern auch Fortführung des zuvor Geleisteten bedeutete. 25 der 93 Dokumente widmen sich folglich den Jahren der Großen Koalition. Brandt, der ursprünglich gar nicht Außenminister der ungeliebten Koalition mit der CDU hatte werden wollen, absolvierte gewissermaßen seine wichtige außenpolitische Lehrzeit. Er leistete inhaltlich-konzeptionelle Vorarbeiten und konnte nach der Regierungsübernahme auch im Habitus routiniert auf der internationalen Bühne agieren.
Die Kontinuität des außenpolitischen Denkens Willy Brandts ist bemerkenswert. Die handschriftlichen Notizen zur Regierungserklärung vom 6. Dezember 1966 nennen als Ziel: "Rechte unseres Volkes wahren, Europa bauen, Frieden durch illusionslose Entspannung sichern". In der Bilanz blieb die Große Koalition freilich hinter den von Brandt geweckten Erwartungen zurück. Erst als Bundeskanzler konnte er sein Programm ungehindert von einem zögerlichen Koalitionspartner verwirklichen. Die Vorarbeiten für den ersten außenpolitischen Erfolg der Regierung Brandt-Scheel wurden bereits vom Außenminister Brandt geleistet. Mit der europäischen Gipfelkonferenz in Den Haag Anfang Dezember 1969 konnte die lähmende Blockade der EG in den 60er-Jahren aufgelöst werden. Vollendung, Erweiterung und Vertiefung waren das von Brandt maßgeblich mitgestaltete Programm, das der Gemeinschaft die vielgerühmte relance européenne ermöglichte.
Die Europapolitik, darauf macht Frank Fischer in seiner Einleitung aufmerksam, war Brandt mindestens ebenso wichtig wie die Ostpolitik. Dennoch steht sie meist im Schatten der gleichermaßen bewunderten wie bekämpften "neuen" Ostpolitik. Das ist hier trotz der einleitend formulierten Erkenntnis im Prinzip nicht anders. Allerdings wird die Ostpolitik nicht isoliert betrachtet, sondern im Zusammenhang mit der Europapolitik, den transatlantischen Beziehungen und dem Nahostkonflikt dargestellt. Das ist insofern besonders lobend hervorzuheben, als die Wahrnehmung der Brandtschen Außenpolitik noch immer etwas einseitig auf die Ostpolitik fokussiert und ihr westpolitisches Pendant ausblendet oder gar zum instrumentellen Gegengewicht erklärt. Brandt selber führte stets Klage über das Missverhältnis in der Wahrnehmung zwischen Ost- und West-, bzw. Europapolitik. Tatsächlich waren sie nur Teile eines Ganzen mit dem Ziel einer europäischen Friedensordnung. Für Brandt war die Vision eines Westeuropa als wirtschaftlich und sozial fortschrittlicher Großraum nicht minder gewichtig als die Ostpolitik. Und ebenso fundamental waren für ihn die Beziehungen zu den USA.
Der Schwerpunkt liegt in der Auswahl der Dokumente dennoch auf der Ostpolitik. Grundlegend neue Einsichten können erwartungsgemäß nicht präsentiert werden. Allerdings vermag Fischer die Verankerung der Ostpolitik beim wichtigsten westlichen Alliierten deutlich zu machen, wofür zum Teil in US-Archiven recherchiert wurde. Brandt gelang es tatsächlich, im Dialog mit Nixon die Sorgen der Verbündeten vor einem Abdriften der Bundesrepublik zu beruhigen. Dass ein latentes Misstrauen gegenüber den Deutschen blieb, wird, da die Gegenüberlieferung fehlt, aus den ausgewählten Dokumenten nicht deutlich. Dennoch zeigen die Korrespondenzen und Gesprächsprotokolle deutlich, wie intensiv der Meinungsaustausch zwischen Bonn und Washington war.
Nicht minder intensiv war der Austausch mit dem wichtigsten Partner auf dem Kontinent, mit Frankreich. Dieser Dialog kommt allerdings nur am Rande vor, obwohl er für die Europapolitik jener Jahre von zentraler Bedeutung war. So bleibt die Europapolitik selber blass. Sie war in ihren Konsequenzen nicht weniger bedeutend als die Ostpolitik, wenn auch nicht so spektakulär wie die Ostpolitik. "Europa ist unser Alltag", so konnte Brandt Ende 1971 konstatieren (84) - und als solcher wohl weniger aufregend als die nichtalltägliche Ostpolitik. Erst das Krisenjahr 1973 mit Nahostkonflikt, Energie- und Währungskrise und der daraus resultierenden Trübung des transatlantischen Verhältnisses rückt auch Europa wieder etwas stärker in den Blick.
Der dritte, von Siegfried Heimann bearbeitete Band bestätigt die Kontinuität in Brandts außen- und deutschlandpolitischem Denken und Handeln. "Politik in und für Berlin" lässt sich gewissermaßen als Vorlauf für die Außen- und Deutschlandpolitik auf Bundesebene nach 1966 lesen. Der Band widmet sich dem Aufstieg Brandts vom Vertreter des SPD-Parteivorstandes in Berlin bis hin zum Regierenden Bürgermeister, der sich erst nach zahlreichen Kämpfen in der eigenen Partei als die Führungskraft der deutschen Sozialdemokratie und als ihr politischer Hoffnungsträger durchzusetzen vermochte. Brandts Ostpolitik ist hier von ihren Anfängen an als ein Prozess zu erkennen, dessen Einzelmaßnahmen sich aus der jeweiligen Realität ergaben. Das entsprach ganz Brandts gradueller außenpolitischer Methode, die er im Lauf der Jahre verfeinerte. Über die Zäsuren hinweg, die stärkste natürlich der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961, zog sich ein roter Faden von Brandts erster Rede als Vertreter des Parteivorstandes in Berlin am 12. März 1948 bis zur bekannten Tutzinger Rede am 15. Juli 1963. Seiner Partei war er dabei vielfach voraus. Seit 1948 sah er keinen dritten Weg mehr zwischen Ost und West und stellte schon früh Überlegungen für eine neue Ost- und Deutschlandpolitik an, die den Bonner Immobilismus überwinden sollte. Und auch europapolitisch war er nie wirklich auf der Linie der Schumacher- und Ollenhauer-SPD.
So bleibt als Bilanz beider Bände, dass Willy Brandts Außen- und Deutschlandpolitik von einer bemerkenswerten Kontinuität im Denken (und mitunter auch im Reden) geprägt war bei gleichzeitiger Elastizität im Handeln. Er bewegte sich im Rahmen der Handlungsmöglichkeiten, die der Bundesrepublik gegeben waren, und war aber auch in den entscheidenden Momenten bereit, einen kleinen Schritt über das erwartete Maß hinaus zu gehen. Diese Mischung aus Vorsicht und Wagemut, Konstanz und Flexibilität ist sicherlich charakteristisch für den Politiker wie die Person Brandt und wird auch weiterhin zu kontroversen Deutungen seiner Außen- und Deutschlandpolitik herausfordern. Die besprochenen Quelleneditionen liefern dafür eine solide Grundlage.
Anmerkung:
[1] Zu den bereits erschienenen Bänden vgl. die Rezensionen von Dietmar Süß in sehepunkte 2 (2002), Nr. 11 (http://www.sehepunkte.de/2002/11/3420.html) und 4 (2004), Nr. 3 (http://www.sehepunkte.de/2004/03/2342.html) sowie von Ulrich Lappenküper in sehepunkte 3 (2003), Nr. 12 (http://www.sehepunkte.de/2003/12/4056.html).
Claudia Hiepel