Rezension über:

Rainer Babel / Werner Paravicini (Hgg.): Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert (= Beihefte der Francia; Bd. 60), Ostfildern: Thorbecke 2005, 677 S., ISBN 978-3-7995-7454-9, EUR 79,00
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Rezension von:
Holger Kürbis
Historisches Institut, Universität Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Holger Kürbis: Rezension von: Rainer Babel / Werner Paravicini (Hgg.): Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern: Thorbecke 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 12 [15.12.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/12/8038.html


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Rainer Babel / Werner Paravicini (Hgg.): Grand Tour

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Gerade die Geisteswissenschaften sind in den vergangenen Jahren einem immer schnelleren Wandel von Themen und Methoden ausgesetzt gewesen. In dieser Hinsicht lohnt es sich, darauf zu verweisen, dass die Reiseforschung sich in den letzten 30 Jahren innerhalb der historischen Wissenschaften als eigenes Feld etabliert hat. Sie ist inzwischen deutlich mehr als eine kurzlebige wissenschaftliche Modeerscheinung. Trotz zahlreicher neuerer Arbeiten ist das Thema mit diesem voluminösen Band zur spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Adelsreise keineswegs erschöpfend behandelt. Das Werk ist das Ergebnis zweier Tagungen in Paris und in der Villa Vigoni, die sich mit den Formen, Entwicklungen und Funktionen der Reisen des europäischen Adels vom Spätmittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts beschäftigten. Der Reichtum der insgesamt 35 Beiträge kann im Folgenden nur ausschnittsweise wiedergegeben werden.

Die ersten Aufsätze beschäftigen sich mit der "Chronologie, Form und Funktion der Adelsreise" (13). Joachim Ehlers, Karl-Heinz Spiess sowie Jaroslav Pánek und Miloslav Polívka befassen sich mit der Adelsreise im Mittelalter, also vor der Herausbildung der Grand Tour im engeren Sinne. Dabei wird ein breites soziales und geografisches Spektrum abgedeckt, das die unterschiedlichen Formen adeliger Mobilität spiegelt.

Die zweite Sektion behandelt die (Reise-)ziele der spätmittelalterlichen Adelsreise und deren Wandel. Die Heiliglandfahrten (Urs Martin Zahnd), die Hofreisen (Andreas Ranft), die Romreisen (Gerhard Wiedmann) und die Wahrnehmung und Rezeption der Antike bzw. antiker Orte (Arnold Esch und Gerrit Walther) bilden die Schwerpunkte.

Der dritte Themenkomplex widmet sich den nichtschriftlichen Zeugnissen der Reisen an der Wende zur Neuzeit. Detlev Kraack geht den Inschriften und sonstigen materiellen Zeugnissen nach, die die Adligen an einzelnen Stationen ihrer Reise hinterließen. Mit Anregungen, die die Reisenden während ihrer Abwesenheit für spätere fromme Stiftungen sammelten, beschäftigt sich Johannes Tripps. Den während der Reise zusammengetragenen Büchern und sonstigen Schriftstücken widmet sich Jill Bepler, während sich Cesare de Seta der Italienfaszination der europäischen Reisenden zuwendet.

Einem der zentralen Aspekte der späteren Kavalierstour widmet sich die abschließende Sektion des ersten Teils: der Reise als Bestandteil der Ausbildung und Erziehung. Gernot Heiss liefert einen Überblick über die Bildungs- und Reiseziele des österreichischen Adels. Jean Boutier vergleicht die Bedeutung und den Anteil der "Ritterakademien" an der Grand Tour an den Beispielen Frankreich und Italien. Einem immer noch nicht ausreichend erforschten Thema gelten die Ausführungen von Elisabeth Grams-Cornides zur Rolle der Hofmeister auf der Tour. Etwas aus dem inhaltlichen Rahmen fällt der Beitrag zu den adeligen Santiagopilgern des 14. und 15. Jahrhunderts von Denise Péricard-Méa.

Im zweiten Teil des Bandes werden verschiedene Themen wieder aufgegriffen und bis ins 18. Jahrhundert geführt. Den Rahmen bildet das Motto von der "Einheit und Vielfalt der abendländischen Adelskultur" (17). In einem chronologischen und geografischen Querschnitt beleuchten die Beiträge der fünften Sektion unterschiedliche Zielregionen der Grand Tour: die Iberische Halbinsel (Klaus Herbers), die Niederlande (Eva Bender) und Sizilien (Eva Faber und Elisabeth Grams-Cornides). Dazu werden noch die Kavalierstouren des böhmischen und litauischen Adels thematisiert (Hans-Jürgen Bömelburg).

Der keineswegs endgültig erforschten Frage der Bildung sozialer Netzwerke während und durch die Reisen wenden sich die Beiträge des sechsten Hauptpunktes zu. Rainer Christoph Schwinges beschäftigt sich mit den Universitäten, die für den reisenden Adel neben den Höfen eine zentrale Anlaufstelle bildeten. Barbara Marx geht der Frage des Kulturtransfers zwischen Sachsen und Italien am Beispiel der Reisen Herzog Johann Georgs von Sachsen und Cosimos III. Medici nach. Nützlich und aufschlussreich ist der Beitrag Katrin Kellers zur Quantität der Kavalierstour innerhalb des sächsischen Adels. Beachtenswert sind dabei nicht nur die Verbreitung dieser Reiseform, sondern auch ihre Auswirkungen auf die Karrieremöglichkeiten der Adeligen. Marcus Weidner behandelt die unterschiedlichen Aspekte der Standeserziehung und die Rezeption kultureller Standards am Beispiel des stiftsfähigen Adels des Fürstbistums Münster. Dezidiert dem Aufbau sozialer Netzwerke durch die Reisen widmet sich Mathis Leibetseder. Mit einer Quellengruppe, die in ihrer Bedeutung für die Reiseforschung noch keineswegs ausgeschöpft ist, beschäftigt sich der Beitrag von Lotte Kurras zu den Stammbüchern.

Der siebte Abschnitt ist den direkten und indirekten Wirkungen der Kavalierstouren auf die Adeligen bzw. ihre Herkunftsregion gewidmet. Andreas Tönnesmann wendet sich der Rezeption der Architektur der Renaissance durch die reisenden Kavaliere zu, die nicht nur zur Ausprägung der individuellen Bildung, sondern auch zur Entwicklung eines gewissermaßen kollektiven kulturellen Standards innerhalb der Adelsgesellschaft beitrug. Joachim Rees befasst sich mit den Europareisen des Adels in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter dem Aspekt des Kulturtransfers. Ebenfalls mit der Rezeption eines Architekturstils beschäftigt sich T. C. W. Blanning in seinem Beitrag zur Aufnahme des Neoklassizismus in Großbritannien.

Die abschließende Sektion ist den Grenzen der Kavalierstour unter konfessionellen, staatlichen und sozialen Aspekten gewidmet. Antje Stannek nimmt sich der Konfessionalisierung der Italienreisen im 17. Jahrhundert an, ohne allerdings den Kern des Problems zu treffen. Es wird deutlich, dass die von Michael Maurer in anderem Zusammenhang geforderte Konfessionsgeschichte des Reisens immer noch ein wichtiges Desiderat darstellt. [1] Zu fragen wäre etwa, ob sich ein unterschiedlicher Umgang von Katholiken und Protestanten mit dem jeweils anderen Bekenntnis während der Reise bestimmen lässt und worin sich dieser möglicherweise spiegelt. Ebenfalls mit der konfessionellen Problematik beschäftigt sich der Beitrag von Irene Fosi zu den Konversionen protestantischer Reisender in Rom. In einer allgemeinen Perspektive widmet sich Dorothea Nolde dem Thema der Fremdheitserfahrungen von Reisenden des 17. Jahrhunderts. Allerdings wurde in den Berichten keineswegs nur festgehalten, was dem jeweiligen Verfasser, der nicht zwangsläufig der Reisende selbst sein musste, tatsächlich unbekannt war. Ein vergleichender Blick in verschiedene Reiseberichte, aber auch in die zeitgenössische statistische Literatur verdeutlicht, dass bereits Bekanntes weitergeschrieben sowie Vorurteile und Stereotypen bedient werden, die über ein erstaunliches Beharrungsvermögen verfügten. Norbert Conrads widmet sich einem bisher nur unzureichend bearbeiteten Thema, dem Incognito. Der Untertitel des Beitrages "Standeserziehung ohne Konventionen" (591) ist irreführend, da auch das Incognito festgelegten Regeln folgte. Und keineswegs diente diese Maskierung den fürstlichen Reisenden in erster Linie dazu, "dem lästigen Protokoll" (591) zu entgehen. Dankenswert ist ein Verzeichnis mit Incognito-Führungen am Ende des Aufsatzes (606). Die beiden letzten Beiträge von Willem Frijhoff und Thomas Grosser behandeln die Spätphase der Kavalierstour im 18. Jahrhundert und die gleichzeitige Konkurrenz, die dieser aus der bürgerlichen Bildungsreise erwuchs.

Werner Paravicini fasst abschließend die Ergebnisse zusammen und verweist auf weitere mögliche Forschungsfelder. An erster Stelle nennt er die immer noch unzureichend aufgearbeitete Begriffsgeschichte, also wann und in welchem Kontext Begriffe wie Kavalierstour etc. auftauchen. Als weiterer Punkt erscheint die Forderung nach der Ausweitung des Untersuchungsrahmens, weg von den regionalen Betrachtungen der Herkunfts- und Zielregionen hin zur Betrachtung der Adelsreisen als einem europäischen Phänomen. Unter dieser Prämisse fordert Paravicini die Erschließung bzw. Nutzung weiterer Quellengruppen ein, wie Universitätsmatrikeln, Leichenpredigten und Stammbücher. Ein anderes Feld weiterführender Forschungen betrifft die Rekonstruktion adeliger Wissenshorizonte und deren Entwicklung, ein Problemkreis, der mit dem Bildungskontext der Kavalierstouren in unmittelbarem Zusammenhang steht. Ebenfalls intensiver Bemühungen bedarf die so genannte Reisefolgeforschung, also die Beschäftigung mit den direkten und indirekten Ergebnissen der jeweiligen Touren. Und schließlich bleibt zu klären, wie sich die klassische Adelsreise zu den Entwicklungen der Reisetätigkeit im 19. Jahrhundert, speziell nach den Napoleonischen Kriegen, verhält.

Die auffälligsten Probleme der qualitativ unterschiedlichen Beiträge zeigen sich im Hinblick auf die Begrifflichkeit und die Abgrenzung unterschiedlicher Reiseformen bzw. ihrer Protagonisten. Zwar gibt es zwischen Kavalierstouren, Fürstenreisen, Pilgerfahrten, Patrizier- und bürgerlichen Bildungsreisen durchaus Schnittmengen, aber eben auch signifikante Unterschiede, die die soziale Herkunft und die Intention der Reise betreffen, die es, wie Paravicini anmahnt (12), jeweils stärker zu betonen gilt. Gleichfalls fällt auf, dass der Umgang mit den Reiseberichten in einigen Fällen Defizite aufweist. So ist zu beachten, um welche Form es sich bei den schriftlichen Zeugnissen handelte, wer sie mit welcher Intention verfasste.

Gleichwohl darf man sich die Frage stellen, weshalb sich die Publikation streng an die Einteilung der Tagungen gehalten hat und ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, inhaltlich ähnliche Beiträge, etwa zur Bedeutung der Touren für die Bildung und Ausbildung, zusammenzufassen. Ähnliches gilt auch für die jeweiligen Zielregionen der Reisen. Das schadet dem Band zwar nicht, macht aber die Benutzung umständlicher. Insgesamt ist der Band ein wichtiger und wertvoller Beitrag zur Reiseforschung im Allgemeinen und zur Kavalierstour im Besonderen.


Anmerkung:

[1] Michael Maurer (Hg.): Neue Impulse der Reiseliteraturforschung, Berlin 1999, 351 ff.

Holger Kürbis